Schwammige Lakonik der Gewalt

Alessandro Bariccos "Ohne Blut" leidet an Blutarmut

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht immer ist ein Welterfolg durchweg positiv zu bewerten. Zwar hat ein solcher den unbestreitbaren Vorteil des Ruhmes und der auch finanziell durchaus zu begrüßenden Würdigung der dichterischen Arbeit. Gleichzeitig aber verbindet die interessierte Lesewelt einen Autor nur allzu gern für alle Zeiten mit seinem ersten großen Erfolg; er wird - wie man in Filmkreisen sagen würde - auf "diese Rolle festgelegt". Auch und gerade für den italienischen Autor Alessandro Baricco gilt diese Vermutung nur allzu gut: Auch er muss es sich wohl oder übel gefallen lassen, dass man alles Nachfolgende an seinem stupenden Erstling "Seide" misst - einem Welterfolg, der den Namen Baricco vor allem beim deutschen Publikum erst bekannt werden ließ. Mit "Ohne Blut" hat Baricco nun seinen neuen Roman vorgelegt, und auch bei ihm liegt die seidene Messlatte entsprechend hoch.

Kurz nach dem Krieg üben vier Männer blutige Rache an Roca, einem Mann, der zu Kriegszeiten in einem Krankenhaus unzählige Menschen umbrachte oder zu Krüppeln spritzte - mutwillig, aus politischen Gründen: diese Frage bleibt offen. Auch Salinas verlor damals seinen Sohn - nun rächt er sich mit seinen Kumpanen. Roca wird erschossen, ebenso Rocas Sohn. Die grausame Tat scheint gesühnt, wäre da nicht Rocas Tochter Nina, die in ihrem Versteck von einem der Männer entdeckt und doch verschont wird. Jahrzehnte später treffen sich diese beiden Menschen wieder - aus Nina ist eine alte und dabei noch immer schöne Frau geworden; Tito, der sie damals verschonte, blieb als einziger der vier Rächer übrig und floh vor der Schuld in einen profanen Alltag als Losverkäufer. Mit vielen Jahren Verzögerung beginnt so eine Abrechnung mit Krieg und Vergangenheit, mitten in einem Cafe. Beide, Nina wie Tito, kehren an jenem Abend in die Hölle ihrer Erinnerung zurück, die charakterisiert ist von Schuld, Reue und Rachsucht.

Wer "Seide" gelesen hat, der war begeistert und überwältigt von dieser unprätentiösen, melodischen Sprache, vom ruhigen, mit leichter Hand fast spielerisch hingeworfenen Fluss der Erzählung. Eine sinnliche Parabel war jenes erste deutsche Buch Bariccos, und die Verlockung ist in der Tat groß, auch von allen weiteren Werken des Italieners solcherlei Kunst zu erwarten. "Ohne Blut" reicht leider nicht an die poetische Qualität von "Seide" heran. Baricco betritt mit der Thematik von Krieg und Verdrängung, Schuld und Sühne neue Wege abseits der Leichtigkeit seiner vorigen Bücher: Hier wird der Krieg in seiner Grausamkeit ins Zentrum gerückt, Rocas Sohn vom Feuerstoß des Maschinengewehrs emporgehoben und "gegen die Wand" geschleudert, "in einem Gemisch aus Blei, Knochen und Blut." Nicht mehr Lieblichkeit und die für Baricco so typische melancholische Schwermut, sondern fast naturalistisch präzise, nichts vertuschende Beschreibungen von Gewalt sind es, die "Ohne Blut" einen so neuen Atem geben. "Salinas setzte den Lauf der Pistole auf eins von Rocas Knien. Dann drückte er ab. Das Knie zerplatzte wie eine faulige Frucht. Roca fiel hintenüber und krümmte sich auf dem Boden, brüllend vor Schmerz." Die Lakonik der früheren Bücher hat Baricco beibehalten; ihre Nüchternheit ist es, die die Szenen der Gewalt umso eindrücklicher zum Tragen kommen lässt.

Baricco geht es in "Ohne Blut" um die Frage von Schuld und ihrer Perspektivität. Wer ist im Recht? Derjenige, der einerseits liebevoller Familienvater ist, in den Kriegswirren aber zahlreiche Menschenleben auf dem Gewissen hat? Oder jener, der seine im Krieg ermordeten Angehörigen auf blutigste Weise rächt? Und: Rechtfertigt eine Ideologie die Verneinung der Individualität zugunsten der großen Idee?

Eine Antwort auf jene Fragen bleibt Baricco schuldig; sie pendelt hin und her zwischen ideologischen Rechtfertigungen, nie verarbeiteten Traumata und Ninas schwammigem Wunsch nach Geborgenheit wie seinerzeit im Erdloch-Versteck unter der Diele. Und so verschwimmen am Ende auch die Grenzen zwischen Rachlust, Reue und Liebe. Kann man den Mörder seines Vaters lieben? Oder ist eine derartige Liebe nur verzweifelter Ausdruck der Ohnmächtigkeit gegenüber der noch immer unbewältigten Vergangenheit?

Dass der Italiener auch diese Fragen offen lässt, ist gleichzeitig die größte Stärke und Schwäche des Buchs. Stärke deshalb, weil solcherlei existentielle Fragen letztlich schlechterdings nicht zu beantworten sind und eine literarische Antwort immer eindimensional und naiv erscheinen müsste. Gleichzeitig sind die Charaktere in "Ohne Blut" zu holzschnittartig und ohne die berührende Tiefe eines Hervé Joncour aus "Seide" angelegt, als dass sie die zeitweilig zu große Ambivalenz und Schwammigkeit der Geschichte unterfüttern könnten. Baricco reißt, so könnte man sagen, seine Themen an, ohne sie zufriedenstellend auszuführen. So wirkt Ninas Lebensweg allzu bemüht und ein wenig an seidigen Härchen herbeigezogen, und auch der ehemalige Täter Tito bleibt in seiner Reue und trotziger Rechtfertigung zu wenig motiviert.

So verhindert Bariccos Bemühen, seine Geschichte in Verlauf und Wertung in der Schwebe zu halten, am Ende ein wenig das Gefühl der Zufriedenheit. Denn: Das wohlige Gefühl von "Seide", eine rundum geschlossene, simple und dabei doch sehr berührende Geschichte gelesen zu haben, stellt sich bei "Ohne Blut" nicht ein. "So parabelhaft einfach die Geschichte wirken mag, ist die Botschaft doch so komplex wie das menschliche Herz", heißt es im Klappentext. Manchmal wäre der umgekehrte Weg der bessere.

Und so wird sich Alessandro Baricco auch weiterhin an "Seide" messen lassen müssen. Was im Fall von "Ohne Blut" vielleicht ein Glück für ihn ist.

Titelbild

Alessandro Baricco: Ohne Blut. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Anja Nattefort.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
104 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3446203478

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