Ein einfaches Kind aus dem Volke
Susanne Alberti erzählt die Lebensgeschichte von Fausts Gretchen
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Bei allem Respekt, Herr Goethe! Weshalb wird dieser verblendete Egozentriker im 'Faust II' auch noch erlöst", ereifert sich Susanne Alberti. Und natürlich hat sie Recht. Nun will sie der Tragödie zweiten Teil zwar nicht umschreiben und den "weltfremden Stubenhocker" einem angemesseneren Schicksal zuführen, jedoch möchte sie Gretchen, dem Opfer faustischer und mehr noch mephistophelischer Machinationen, zu mehr Gerechtigkeit verhelfen. Denn immerhin handele es sich bei ihr um die "bedeutendste Frauenfigur der deutschen Hochliteratur". Nun, das kann füglich bezweifelt werden. Die bekannteste ist sie aber allemal. Jedenfalls hat die Autorin nun die Lebensgeschichte dieses "unerfahrene[n] junge[n] Mädel[s]" erzählt, das "so mutig" war, "sich über alle religiösen und gesellschaftlichen Zwänge hinwegzusetzen und ihren Gefühlen zu folgen", wie die Autorin im Nachwort erklärt. Dass Gretchens Entscheidungen besonderer Mut zugrunde liegt, wird in Albertis "Roman einer Verführung" allerdings nicht recht deutlich. Vielmehr redet sie sich bis in den Kerker hinein immer wieder ein, dass sie stets recht gehandelt und nie gegen ein weltliches oder kirchliches Ge- oder Verbot verstoßen habe. Zudem glaubt sie fest, Faust würde sie retten, indem er sie ehelicht.
Alberti schildert das Leben ihrer Protagonistin vom ersten bis zum letzten Atemzug. Dazu bedient sie sich einer Sprache, die so schlicht ist wie die Welt der Leute, von denen sie erzählt. Das sind neben Gretchen ihre bigotte Mutter, die sich und ihre Geschlechtsgenossinnen für "Gefäße der Sünde" hält, Gretchens früh verstorbener Vater, der seinen Sohn "nur aus Liebe" schlug, ihr Bruder Valentin, der schon bald als Familienoberhaupt agieren muss, sodann - nicht mehr ganz so schlicht - Gretchens Patin Marthe Schwerdtlein, eine lebenskluge und, so weit ihr möglich, emanzipierte Frau und originellerweise die eigentliche Sympathieträgerin. Und natürlich Doktor Faustus, der im wirklichen Leben Heinrich Meissner heißt und seinen Spitznamen, den er gerne als Ehrentitel nimmt, von Studenten verliehen bekommen hat, sowie schließlich ein französischer Falschspieler, mit dem aus einem Buch von Choderlos de Laclos entliehenen Namen Chevalier Danceney. Er gibt den Mephisto. Dass Meissner dem Kartenbetrüger auf die gewieften Schliche kommt, will zwar nicht so recht zu der tumben und selbstgefälligen Karikatur eines Gelehrten passen, der einen "Narzissenbaum" schaffen möchte, vor seiner - der Zeit entsprechend - ausschließlich männlichen Hörerschaft über den "physiologischen Schwachsinn des Weibes" schwadroniert, also immerhin weit über 100 Jahre, bevor Paul Möbius ein Werk diesen Titels produzierte, und der sich von einem "Kräuterweib" wöchentlich einen Trunk aus Stierhoden, Ingwer, Thymian und anderen Ingredienzien "mazerier[en]" und "extrahier[en]" lässt, zur Erhaltung seiner Jugend und seiner Potenz. Nicht einmal Gretchen, dieses "einfache Kind aus dem Volke", vermag der Bildungsbürger, dessen Potenzmittel schon seit langen Jahren nicht mehr auf die Probe gestellt wurde, zu beeindrucken, trotz der Lektüre von Ovids "Liebeskunst".
Erst mit Hilfe von Danceneys Verführungskünsten, gelingt es ihm schließlich, Gretchens Liebe zu wecken. Doch eben weil Meissner auf den nicht nur in Liebesdingen überlegenen Chevalier angewiesen ist, musste Alberti einen Weg finden, 'Mephisto' Faust gewogen zu machen, und so sah sie sich offenbar genötigt, zu einer wenig glaubwürdigen Hilfskonstruktion zu greifen.
Gretchens Lebensgeschichte wurde von der Autorin mit einem kritischen Blick auf die weltliche und kirchliche Obrigkeit durchwirkt, wobei ihr sozialkritisches Anliegen gelegentlich allzu deutlich hervortritt. So etwa, wenn der Herzog und seine Reiterschar während der Falkenjagd über die Felder preschen und dabei bedenkenlos vernichten, "was fleißige Bauern und Gärtner gesät, gepflanzt und monatelang umsichtig gehegt und gepflegt" haben. Und wenn Alberti die höfische und bürgerliche Gepflogenheiten der Zeit beschreibt, so hört man gelegentlich das Papier der Sozialgeschichtswerke rascheln, von denen sie den Staub geblasen hat. Öfter aber kitzelt den Leser ihr staubtrockener Humor in der Nase. Brechen anlässlich eines Festzugs des "allergnädigste[n], ja allerwerteste[n] Fürsten" alle in Jubel aus, bleibt nur eine stumm - seine Gattin: "Die Herzogin hatte das Jubeln schon in der Hochzeitsnacht verlernt." Zwei, drei Seiten weiter stellt sich heraus, dass noch jemand nicht jubelt: das kleine Gretchen, das von dem Vater in die Höhe gehalten wird, damit es den Herzog besser sehen kann. "Sie hatte auf den ersten Blick erkannt, daß auch der Herzog nur ein Mensch war, der unter der Perücke schwitzte wie sie in ihrem Sonntagskleid." In ihrem weiteren Leben ist von diesem Scharfblick allerdings nicht mehr viel zu bemerken. Im Gegenteil: Heinrich Meissner stellt einem ausgesprochen schlichten Mädchen nach. Und man fragt sich wiederholt, ob die Geschichte dieses blassen Geschöpfes wirklich erzählt werden musste. Aber so etwa, wie Alberti sie erzählt, muss man sich die Verführung eines "einfachen Kindes aus dem Volke" durch einen "hohen Herrn" im 18. Jahrhundert wohl vorstellen.