Perspektivenwechsel statt "Grabenkämpfe"
Michael Gieseckes medienökologischer Beitrag in der aktuellen Debatte über die Grundlagen des Fachs der Medien- und Kommunikationswissenschaft
Von Alexander Gröschner
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Medien- und Kommunikationswissenschaft boomt. Dieser Eindruck erhärtet sich unter anderem, wenn man die steigende Anzahl an Einführungsliteratur und Basislektüre für das fachwissenschaftliche Studium betrachtet. Auf den ersten Blick beinahe gleichgültig, ob aus geisteswissenschaftlicher oder aus sozialwissenschaftlicher Perspektive, der Bedarf an Orientierungen und der Vermittlung von Grundlagen des Fachs scheint ungebrochen. Zu diesen zählen z. B. Begriffsdefinitionen, Forschungsmethoden und das Aufzeigen wissenschaftshistorischer Entwicklungen. Bei näherer und vergleichender Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die einzelwissenschaftliche Blickrichtung in den jeweiligen didaktisch anleitenden Monographien und Sammelbänden ganz und gar nicht gleichgültig, sondern im Gegenteil geradezu ausschlaggebend für das zu entwickelnde Fachverständnis ist. Denn entweder treten die in der sozialwissenschaftlichen Kommunikationswissenschaft verwendeten empirischen Forschungsmethoden ins Rampenlicht und degradieren die hermeneutischen Medientheorien der geisteswissenschaftlich geprägten Medienwissenschaft oder umgekehrt. Daraus folgt: ein Entweder-oder-Denken beherrscht die Diskussion um die Grundlagen des Fachs, welches zu "Grabenkämpfen" führen kann, die nicht zuletzt Einfluss auf die Beschäftigung mit einzelnen Fragestellungen der Medien- und Kommunikationswissenschaft bzw. die Qualität des Studiums hat.
Durchaus erfrischend und innovativ für die aktuelle Debatte erscheint demgegenüber der medienökologische Ansatz von Michael Giesecke. In seinem dreiteiligen, transmedialen Publikationsprojekt "Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie" (2002) (bestehend aus Buch, CD-ROM und der Website www.mythen-der-buchkultur.de) vertritt er eine Kommunikationstheorie, die letztlich ein "Jahrhundert des Gesprächs" einläuten soll. Das Buch kann man aus zwei Teilen bestehend beschreiben. Zum einen eröffnet es ein komplexes Theoriegebäude, und zum anderen kann man ein Transformationsgebäude ausmachen, das eine Entmythisierung der Buchkultur vorschlägt und Visionen der Informationsgesellschaft entwickelt. Beide Teile folgen jedoch nicht rigoros aufeinander, sondern werden von Giesecke in zehn Kapiteln immer wieder wechselseitig aufeinander bezogen.
Unter Verwendung des Terminus der "kulturellen Medienökologie" charakterisiert Giesecke Kultur als ein "inhomogenes Netzwerk artverschiedener Elemente" und prämiert darauf aufbauend solche Kommunikationsformen der "kommunikativen Welt", die "synästhetische Informationsverarbeitung sowie den Aufbau multimedialer kultureller Netzwerke begünstigen und gleichzeitig ökologischen Prinzipien folgen". Als Grundlage seines dreidimensionalen Theoriedesigns kennzeichnet Giesecke drei Perspektiven, mit deren Hilfe das Verhältnis der Begriffe Information, Kommunikation und Medium besser beschrieben werden kann. Im Kern der ersten Perspektive seines 3D-Modells steht die Frage nach der subjektiven Betrachtung von Wirklichkeit, die durch Kommunikation beeinflusst, getragen und erzeugt wird. Gestützt von der klassischen Erkenntnistheorie, die Information als Produkt von Wahrnehmungsvorgängen ansieht, erscheint Kommunikation dabei als "Sonderfall" der Informationsverarbeitung. Die zweite Perspektive betrachtet die Vernetzung unterschiedlicher Typen von Kommunikatoren (in Raum und Zeit) und fragt nach dem Verhältnis der Interaktion und den daraus resultierenden Wirkungen zwischen Kommunikationspartnern. Schließlich geht es bei der dritten Perspektive des 3D-Modells um die Materialität der Kommunikation, d. h. die mehr oder weniger große Resonanz zwischen einzelnen Medien und z. B. dabei auftretende Spiegelungen. Damit lassen sich beispielsweise im Gegensatz zu sozialer Kommunikation, Gemeinsamkeiten zwischen artverschiedenen Medien und Kommunikatoren auffinden.
Einen weiteren Eckpfeiler des Gieseckeschen Theorieentwurfs bildet die Beschreibung kultureller Prozesse, die für ihn kommunikative Prozesse darstellen. Anhand zweier Prozessmodelle verdeutlicht der Autor die dazugehörige kulturgeschichtliche Entwicklung. Als erstes Prozessmodell dient ihm das Balancemodell (Substitution, Akkumulation, Reproduktion), das ein "Fließgewicht" kultureller Entwicklung bildet. Zum zweiten entwickelt Giesecke das Dreiphasenmodell, das sich aus der Trias Abhängigkeit, Gegenabhängigkeit und Autonomie zusammensetzt. Aufgrund seines umfassenden medienhistorischen Verständnisses kennzeichnet er die derzeitige gesellschaftliche, kommunikative Situation als eine Phase der Gegenabhängigkeit. Nach der jahrhundertelang andauernden Hegemonie der Buchkultur, die eng mit der Entwicklung der Industriegesellschaft gekoppelt war, befinden wir uns nun in der Umbruchsphase auf dem Weg zur Informationsgesellschaft. Nach der Freilegung der Mythen der Buchkultur, die eine monomediale und interaktionsfreie Kommunikation beinhaltete, benötigen wir nun neue Visionen - die cultural vision und die dialogue vision. Diese visieren ein Ausbalancieren von Ungleichgewichten im Verhältnis Mensch-Gesellschaft, Mensch-Natur und Mensch-Technik an. Dabei kommt es zu einer Förderung des Dialogs, synästhetischer Informationsverarbeitung, dezentraler Vernetzungsstruktur und multimedialer, modularer Wissensdarstellung. Eine Oszillation zwischen den einzelnen Elementen wird notwendig. Visuell verleiht Giesecke seinen Visionen in einem dynamischen Knoten Nachdruck, der jeweils verschiedene Standpunkte und Perspektiven je nach Blickrichtung verdeutlichen soll und zugleich die jeweils anderen beiden Perspektiven entsprechend verzerrt (http://www.mythen-der-buchkultur.de/Animationen/kulturgeschichte/kulturgeschichte.htm, Link "ökologische Vision"). Nicht zuletzt die Einbindung eines solchen multimedialen Elements macht deutlich, dass Gieseckes transmediales Publikationsprojekt als ein wegweisendes, kreatives Experiment für eine zukünftige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit und in Medien jenseits der Buchkultur gelten kann.
Giesecke fordert also ein "Konzeptnetzwerk", das am Ende eine ökologische Kommunikationskultur umfasst. Welche Folgen beinhaltet diese Forderung nun für die Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Fachs in den jeweils einzeln institutionalisierten und oftmals getrennt voneinander operierenden Fachbereichen der Publizistik-, Kommunikations- und Medienwissenschaften? Kurz gesagt: die Überwindung des Entweder-oder-Denkens durch die Ersetzung eines Sowohl-als-auch-Prinzips. Giesecke sieht unter anderem eine Gefahr in dem anhaltenden fachwissenschaftlichen Entweder-oder-Denken, wenn er als eine Quelle medientheoretischer Stagnation die "vorherrschende Konzentration auf die Untersuchung und Modellierung technischer Massenmedien" diagnostiziert. Dem entspricht die Auffassung von Schmidt und Zurstiege (2000), die feststellen, dass sich die Kommunikationswissenschaft eben zumeist mit Massenmedien beschäftigt. Noch einen Schritt weiter geht Renckstorf (1998), der bereits die Existenzberechtigung der Kommunikationswissenschaft als akademischer Disziplin aus der "Frage nach den Bedingungen von Wirkungen massenkommunikativer Prozesse" ableitet. Durch diesen einseitigen, monomedialen Blick hinsichtlich des primären Materialobjekts, der nicht zuletzt in der Buchkultur seine Ursprünge findet, ist für Giesecke von der akademischen publizistik- und kommunikationswissenschaftlichen Szene in Deutschland "kaum Unterstützung bei der Beratung der Informationsgesellschaft zu erwarten, da ihr alle Kategorien zur Erfassung multimedialer Kommunikation und zum Verständnis von komplexen Rückkopplungsphänomenen fehlen". Auch wenn zahlreiche Autoren eine verstärkte Integration und Inter- bzw. Transdisziplinarität der sozial- und geisteswissenschaftlichen Ausrichtungen fordern, lässt sich konstatieren, dass bislang eher ein kontraproduktives Verhältnis zwischen beiden Seiten vorherrscht. Die Ursache für die noch immer starren Fakultäts- bzw. Fächergrenzen sehen Jarren und Bonfadelli (2001) darin, dass einerseits die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft vor allem mit quantitativen Methoden, die Medienwissenschaft andererseits mit qualitativen Methoden arbeiten. Darüber hinaus diskreditieren diese Autoren die Medienwissenschaft, indem sie annehmen, dass bedeutende Medientheoretiker wie Flusser, McLuhan und Virilio akademisch eher unergiebig sind, da nicht ohne weiteres empirisch überprüfbar. Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass sowohl die sozialwissenschaftlichen als auch geisteswissenschaftlichen Disziplinen beständig in einer der drei von Giesecke entfalteten Perspektiven verharren. Für die Publizistik- und Kommunikationswissenschaften ist dies die erkenntnistheoretische, während von der Medienwissenschaft des Öfteren ausschließlich die materialistische Perspektive (vgl. z. B. den Mediendeterminismus bei Kittler) eingenommen wird.
Dem aufgezeigten fachwissenschaftlichen Entweder-oder-Denken hält Giesecke in seiner medienökologischen Kommunikationstheorie ein Sowohl-als-auch-Prinzip entgegen. Als "ökologisch" kann man dabei Gieseckes Versuch betrachten, die Kommunikationswissenschaft von der "Prämierung bestimmter Einzelmedien zu emanzipieren und eine Kommunikationstheorie zu begründen, die Kommunikation als multidimensionales, sowohl medienspezifisches als auch medienübergreifendes Phänomen beschreibbar macht" (Sandbothe in: Jaeger u.a. 2003; siehe auch unter www.sandbothe.net/258.html). Mithilfe seiner grundlagenorientierten, transdisziplinär angelegten Trendforschung zur Etablierung einer Dialogkultur der Informationsgesellschaft möchte Giesecke einen Perspektivenwechsel möglich machen, der über die eigene fachwissenschaftliche Profilierung hinausgeht. "Vor allem geht es darum, Kommunikationssysteme zu institutionalisieren, in denen nach dem Sowohl-als-auch-Prinzip mehrere Programme zugleich genutzt werden". Dadurch begünstigt lassen sich dann Konzepte entwickeln, "die Alternativen stehen lassen können".
Kritisch anzumerken bleibt, dass in Gieseckes Buch ein oft eigenwilliges, polysemantisches Vokabular verwendet wird. Sein theoretischer Ansatz wird dahingehend geschwächt, dass er teilweise grundlegende Begriffe wie Information, Kommunikation und Medium in verschiedenen Facetten und Bedeutungen mehrfach und damit unspezifisch auslegt. Damit wird sich der Autor wohl kaum "wissenschaftskulturübergreifend" (Sandbothe) durchsetzen können. Dennoch ist deutlich hervorzuheben, dass die von Giesecke entwickelte medienökologische Kommunikationstheorie wichtige Impulse für die weiterzuführende Debatte über die Grundlagen des Fachs der Medien- und Kommunikationswissenschaft enthält.
Die begriffliche Inkonsistenz der akademischen Fachbezeichnungen wie Publizistikwissenschaft (u. a. Jarren/Bonfadelli 2001), Kommunikationswissenschaft (u. a. Burkart 2002, Krallmann/Ziemann 2001, Schmidt/Zurstiege 2000), Medienwissenschaft (u. a. Faulstich 2003, Rusch 2002) oder von diesen abgeleitete Doppelbezeichnungen (u. a. Pürer 2003) kennzeichnet zwar verschiedene inhaltliche und methodische Prämissen, diese werden aber bislang kaum inter- bzw. transdisziplinär pragmatisch genutzt. Das bedeutet, dass sowohl Möglichkeiten einer qualitativ verbesserten Studiengestaltung als auch wichtige Forschungsimpulse dadurch bereits in den fachwissenschaftlichen Ansätzen gehemmt scheinen. Mit der Bezeichnung Medien- und Kommunikationswissenschaft, als Pendant des angelsächsisch weit verbreiteten "Media and Communication Studies", wurde hier eine weitere, bislang wenig akademisch verwendete Prämisse hinzugefügt bzw. die begrifflichen Perspektiven auf das Fach vervollständigt. Jedoch soll damit keine weitere Schublade im wissenschaftstheoretischen Diskurs geöffnet, sondern ein Denk- und Handlungsraum geschaffen werden, in dem sich die von Giesecke initiierten und innovativ entwickelten Möglichkeiten der Dialogkultur (mit interdisziplinärem und interprofessionellem Potenzial z. B. für die Kultur- und Sozialwissenschaften, aber auch praktische Bereiche wie Bildung, Medien und Politik) frei entfalten können. Damit könnte anstelle der akademischen Kluft in den etablierten Fächerkanons ein kommunikativer Perspektivenwechsel treten.
Literatur:
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