"Man spürt nichts als Kultur"
Jacques Darmaun untersucht Thomas Manns Verhältnis zum Judentum
Von Axel Schmitt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Juli 1919 reiste Thomas Mann mit dem Zug nach Berlin. Das Abteil erster Klasse teilte er mit einem Ehepaar: "Konversierte wiederholt mit ihnen", heißt es im Tagebuch. Aber Mann hält nicht nur freundliche Eindrücke fest: "Während der ersten Hälfte des Tages war ich mit einem jüdischen Ehepaar allein, dessen weibliche Hälfte wohl das Abscheulichste an 'Weib' darstellte, was mir erdenklich, fett und kurzbeinig zum Erbrechen, krummnasig mit bleichem, sinnlich-melancholischem Gesicht, penetrant parfümiert. [...] Die Juden aßen beständig, kauften von allem, was angeboten wurde, trotz fetter Vorräte. Sinnlich." Das klingt nach antisemitischen Stereotypen: Das pausenlose Essen wird notiert, weil Mann es offenbar für charakteristisch hält, ebenso wie die indezente Körperlichkeit.
Bereits zwölf Jahre früher versuchte er sich in seinem Essay "Die Lösung der Judenfrage" an einer durchaus projüdisch gemeinten Argumentation, die sich heute jedoch wie eine groteske Entgleisung liest: "Es besteht schlechterdings keine Notwendigkeit, daß der Jude immer einen Fettbuckel, krumme Beine und rote, mauschelnde Hände behalte, ein leidvoll-unverschämtes Wesen zur Schau trage und im ganzen einen fremdartig schmierigen Aspekt gewähre. Im Gegenteil: Der Typus des Juden, 'wie er im Buche steht', des fremden, physisch antipathischen Tschandala ist eigentlich schon recht selten geworden, und unter dem wirtschaftlich bevorzugten Judentum gibt es heute schon junge Leute, die [...] einen Grad von Wohlgeratenheit, Eleganz und Appetitlichkeit und Körperkultur darstellen, der jedem germanischen Mägdlein oder Jüngling den Gedanken einer 'Mischehe' recht leidlich erscheinen lassen muß." Zudem findet sich in diesem kleinen Text ein richtungweisender Aspekt für Manns Verhältnis zum Judentum insgesamt. Gewissermaßen "en artiste" schreibt er: "Ein Künstler wird seiner eigenen Natur nach nicht sehr aufrichtig den allgemeinen humanen Ausgleich von Konflikten und Distanzen wünschen können, denn er lebt vom Charakteristischen, von der Besonderheit und der aristokratischen Ausnahme. Er wird deshalb geneigt sein, in allen denen seine Brüder zu sehen, von welchen das Volk betonen zu müssen glaubt, daß es 'schließlich - auch' Menschen sind. Um dieser Verwandtschaft willen wird er sie lieben und ihnen allen den Stolz, die Liebe zu ihrem Schicksal wünschen, deren er selbst sich bewusst ist."
Dass ein Kulturträger vom Format Thomas Manns, der mit einer aus einer akkulturierten Familie stammenden Jüdin verheiratetet war, dergleichen in guter Absicht schreiben konnte, erlaubt interessante Rückschlüsse auf das Ausmaß von selbstverständlichem Antisemitismus im deutschen Alltag der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. "Mann ist unverkennbar ein großer Freund der Juden", vermerkt 1934 missbilligend der nationalsozialistische Antrag auf Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit. Er gelte als Judengenosse, der die Rassenmischung verherrlicht habe, bestätigt Thomas Mann schon 1913. In unseren Tagen aber wird Mann immer häufiger eines zumindest unterschwelligen Antisemitismus bezichtigt. Die Argumentation bleibt meistens sehr fragmentarisch, zählt jüdische Gestalten aus dem dichterischen Werk auf, von Detlev Spinell über Leo Naphta bis zu Dr. Sammet, Chaim Breisacher und Saul Fitelberg, vermisst eine Darstellung der Shoah im "Doktor Faustus" und zitiert einzelne krasse Tagebuchäußerungen sowie missverständliche Wendungen aus den Essays. Durchgehend beziehen die als Beweise angeführten Textstellen ihre Anstößigkeit aus einem Sprachgefühl, das erst nach Auschwitz entstanden ist. Wenn Thomas Mann sich Anfang des 20. Jahrhunderts zur 'Lösung der Judenfrage' äußert, dann assoziiert der heutige kritische Leser unvermeidlich den Subtext 'Endlösung' und 'Wannsee-Konferenz'. Ein subtiles Argument, dem man in der Forschungsliteratur immer wieder begegnet, lautet, Mann habe seinen Antisemitismus öffentlich verdrängt wie die Homosexualität, um im Verborgenen desto mehr Lust daraus zu ziehen. Das könnte richtig sein, wenn Thomas Mann in unseren Tagen leben würde, in einer Zeit und Gesellschaft, in der Antisemitismus, trotz mitunter gegenteiliger Behauptungen, nicht mehr öffentlichkeits- und konsensfähig ist. Damals aber wäre eine Unterdrückung antisemitischer Impulse durchaus nicht nötig gewesen. Im Gegenteil hätten sie den Dichter, der seinerseits im Ruch des Intellektualismus und Internationalismus stand, dem deutschen Durchschnitt näher gebracht. Um es vorweg zu nehmen: Während man die unterdrückte Homoerotik unter der Oberfläche des Werkes allenthalben auffinden kann, im autobiographischen Subtext, in ausgeschiedenen Partien, im Tagebuch, auf dem Umweg über die montierten Intertexte, bleibt eine solche Suche im Falle des Antisemitismus ergebnislos.
Auf der anderen Seite ist zu erkennen, dass die psychologisierende Sympathie mit den Juden weit entfernt von einer vorurteilsfreien Sichtweise war, denn jeder noch so respektable Vertreter des Judentums hebt sich für Thomas Mann immer nur singulär von dessen "häßlicher" Erscheinung ab und erfüllt auch dann nichts weiter als das positive Stereotyp außergewöhnlicher Geistigkeit und Kultiviertheit. Am Ende ist der Jude für Mann kein Jude mehr, wovon der erste Eindruck von der Familie seiner späteren Frau Katja Pringsheim eindrucksvoll zeugt, den er in einem Brief vom 27. Februar 1904 dem Bruder Heinrich mitteilt: "Kein Gedanke an Judenthum kommt auf, diesen Leuten gegenüber; man spürt nichts als Kultur." Gleichwohl geht es um mehr als die manichäisch anmutende Frage, ob Thomas Mann Philo- oder Antisemit war. Stattdessen sollte das Augenmerk vielmehr, wie Jacques Darmaun in seiner jüngst auf Deutsch publizierten Studie über "Thomas Mann, Deutschland und die Juden" (erstmals 1985 als "Thèse de doctorat d'Etat. Université de Paris X-Nanterre" unter dem Titel "Thomas Mann et le problème juif" erschienen) unterstreicht, "auf die Bedeutung und Tragweite der deutsch-jüdischen Problematik im Leben und Schaffen eines Autors" gerichtet werden, der als "herausragender Repräsentant seiner Zeit und seines Landes gilt". Darmaun hebt hervor, dass diese Untersuchung zum Zeitpunkt ihres Entstehens in den 80er Jahren ein ebenso gewagtes wie überfälliges Unternehmen gewesen sei. An diesem Befund hat sich seither wenig verändert. Sieht man von Ruth Klügers mitunter polemischem, gleichwohl brillantem Essay über "Thomas Manns jüdische Gestalten" (erstmals 1990; jetzt in: "Katastrophen. Über deutsche Literatur"), Rolf Thiedes Untersuchung "Stereotypen vom Juden. Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann" und Yahya Elsaghes glänzender Arbeit "Die imaginäre Nation" (München 2000) einmal ab, macht die Forschung um dieses Thema nach wie vor einen großen Bogen.
Ein Wagnis, darauf verweist Darmaun in seiner Einleitung zu Recht, ist die Bearbeitung dieses Gegenstands hinsichtlich der Tatsache, dass sich die Thematik in dem immensen Textkorpus "zunächst geringfügig, ja abseitig" ausnimmt. Rekurriert wurde in der Forschungsliteratur zudem bislang in erster Linie auf Manns öffentliche Stellungnahmen, in denen der Praeceptor Germaniae den Nationalsozialismus und jedweden anderen Obskurantismus, zu dem auch der Antisemitismus zu zählen ist, geißelt. Schließlich nimmt Thomas Mann gegen den Erlösungsantisemitismus nationalsozialistischer Provenienz öffentlich Stellung. Seine Radioansprachen an deutsche Hörer während des Krieges, seine Vorträge zur jüdischen Frage zwischen 1938 und 1948 oder seine Sympathiebekundungen für das in Palästina begonnene Unternehmen sind unzweideutig. Gleichwohl sind die zwischen Manns öffentlichen Bekundungen und seiner literarischen Judendarstellung evident zu Tage tretenden Widersprüche nicht von der Hand zu weisen. Führt man sich die hochkomplexe, wohl durchdachte Tektonik seiner Texte vor Augen, die dem von Mann in einem Brief an Theodor W. Adorno (30. Dezember 1945) erwähnten "Prinzip der Montage" verpflichtet und in der jedes Detail von Belang ist, so reicht mitunter ein spärliches, aber durchgängiges Vorhandensein jüdischer Gestalten und ihrer Beziehungen zu anderen Gestalten aus, um interessante Fragen zu provozieren. Hinzu kommt, dass je nach Konjunktur deutsch-jüdische Konstellationen in Thomas Mann Texten kurzfristig verblassen, um dann an anderer Stelle mit umso größerer Vehemenz hervorzubrechen. Darmauns akribische und kenntnisreiche Textanalyse zeigt deutlich, wie dieses Thema, das den Autor von seinen ersten schriftstellerischen Versuchen an interessiert hat, "unter dem Druck der historischen Ereignisse zum Leitmotiv avanciert und in ein dichtes Motivgeflecht verwoben wird". Von Leo Naphta und dem "Seelenzergliederer" Dr. Krokowski im "Zauberberg" über die "Joseph"-Tetralogie und Moses (in der Erzählung "Das Gesetz") werden Verbindungslinien zwischen Juden und Deutschen bis zu Saul Fitelberg und Chaim Breisacher im "Doktor Faustus" ansichtig. Das von Darmaun gewählte chronologische Vorgehen hebt Kontinuität und Diskontinuität der Ansichten Thomas Manns zum Judentum hervor, die gleichermaßen von Faszination und Vorurteilen geprägt sind.
Der erste Teil der Studie nimmt den kulturellen Kontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts in den Blick und untersucht Thomas Manns frühe Erzählung "Wälsungenblut". Der zweite Teil intensiviert den Dialog der essayistischen und fiktionalen Texte, untersucht die Polemik mit Theodor Lessing, wirft einen (leider viel zu kurz geratenen) Seitenblick auf Manns Einstellung zu jüdischen Intellektuellen, unterzieht die Tagebuchbände von 1918-1921 einer (glänzenden!) Analyse und arbeitet die deutsch-jüdischen Konstellationen im "Zauberberg" heraus. Der dritte Teil, Manns Kampf gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus ins Zentrum der Betrachtung rückend, untersucht ausschließend die späten literarischen Arbeiten "Lotte in Weimar", "Joseph und seine Brüder", "Das Gesetz" und "Doktor Faustus". Im abschließenden vierten Teil widmet sich Darmaun der jüdischen Symbolik im Spätwerk Thomas Manns.
Am Ende der Lektüre dieser spannenden und lesenswerten Arbeit lässt sich der unangenehme Eindruck nicht von der Hand weisen, Thomas Mann habe die Brisanz antisemitischer Stereotypen lange Zeit unterschätzt. Verstärkt wird dieser Eindruck, wenn man Manns Neigung zu literarischer Ironie und sein ästhetisches Spiel mit den gesellschaftlichen Klischees berücksichtigt. Nur so ließe sich die häufig übertriebene, zur Karikatur neigende Schärfe in den Konturen seiner Judenfiguren erklären. Gegen Ende seines Schaffens verschwindet, wie Darmaun mit einigem Recht hervorhebt, "durch das Verstummen der Rede über Jüdisches" eine gewisse Ambivalenz der Texte Manns.
Insgesamt weist Thomas Manns Beschäftigung mit dem Judentum Verbindungslinien zum Zentrum der großen intellektuellen Debatten über Literatur und Kultur, Natur und Geist, Zivilisation, Kapitalismus und Sozialismus, Bolschewismus und Revolution, über Politik und Religion, über den Westen oder über Deutschland, über die mediterrane Welt oder die Mystik des Orients auf. Ambivalent ist vor allem seine Haltung zu jüdischer Intellektualität: Rühmend hebt Mann immer wieder die immense Klugheit jüdischen Denkens hervor, nicht ohne jedoch auch die Kehrseite dieses Talents zu thematisieren: die Hybris des Geistes, eine übertriebener Hang zu Abstraktion, fanatische Verbohrtheit und sogar jüdischer Präfischismus (im Zusammenhang mit Theodor Lessing und Oskar Goldberg) werden als mögliche Gefahren erkannt. Mit seinen Zeitgenossen teilt Thomas Mann eine irrationale Angst vor den realen oder eingebildeten Internationalismen, an denen ihm Juden einen wichtigen Anteil zu haben scheinen. Dabei hat sich Mann primär mit jenen Ausprägungen des Judentums beschäftigt, die Franz Kafka einmal - in scharfer Abgrenzung von ostjüdischen Merkmalen - treffend den 'westjüdischen Diskurs' genannt hat. Erinnert sei abschließend noch an folgende, gewiss nicht zu unterschätzende Tatsachen: Thomas Mann hat sein Leben lang in einem jüdischen Verlag (Bermann-Fischer) publiziert und dem Rat jüdischer Lektoren vertraut. Er hatte zahlreiche jüdische Freunde und Briefpartner, von Samuel Lublinski und Max Brod, Maximilian Harden und Julius Bab, Hermann Broch, Franz Werfel und Arthur Schnitzler bis zu Bruno Walter, Theodor W. Adorno und Sigmund Freud. Da er sich selbst als Außenseiter sah, empfand er die Juden schon früh als Brüder. Juden sind wie Künstler den sesshaften Bürgern überlegen, sind hellsichtiger, leidensfähiger und ausdrucksstärker: Man spürt eben "nichts als Kultur".