Musealisierung der Kritik

André Bazins Klassiker "Was ist Film?" erreicht die deutsche Retro-Kultur

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem ersten sowjetischen Kommissar für Bildung, Anatoli Lunarcharski, ist die Überlieferung eines historischen Diktums Lenins zu verdanken, wonach von allen Künsten das Kino die wichtigste für die Bolschewiki sei. Diese Kunst ist wie der Kommunismus mit dem zwanzigsten Jahrhundert untergegangen, und in der Abwicklung werden sowohl die Klassiker der großen kapitalistischen Filmstudios wie MGM und 20th Century Fox als auch sowjetische Meisterwerke wie Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin" über das neue Medium DVD als "Home Entertainment" vermarktet, um neue Profite zu generieren. Von Beginn an war der Film ein kapitalistisches Unternehmen, bei dem die Warenform im Vordergrund stand. Zugleich aber boten technologische Innovationen wie empfindliches Filmmaterial und Weitwinkelobjektive Regisseuren wie Orson Welles und William Wyler Raum für eine neue mise-en-scène und eine andere Art des Erzählens. Die Freiheiten, die sich Welles in "Citizen Kane" nehmen durfte, sind heute freilich undenkbar. Je rigider gegenwärtig die Strukturen sind, desto lieber erinnert man sich in Retro-Manier an die guten alten Zeiten, als Theorie, Kritik und Wagnis noch etwas galten. "Es grenzt geradezu an ein Wunder, was der Buchmarkt im Moment an filmtheoretischen Arbeiten anbietet", schreibt der Filmkritiker Norbert Grob in der Zeitschrift "epd Film". Während der Film als Kunst verwest, exhumiert die Branche die Klassiker der Filmkritik aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wie Béla Balázs, Rudolf Arnheim, Siegfried Kracauer und André Bazin (1918-1958).

Nahezu zeitgleich mit der zweibändigen amerikanischen Neuausgabe der Schriften Bazins im Verlag University of California Press erschien im Alexander Verlag die deutsche Übersetzung der von François Truffaut und Bazins Witwe Janine 1975 betreuten "édition definitive", welche die vierbändige Originalausgabe von "Qu'est-ce que le cinéma?" aus den Jahren 1958-1962 ersetzte. Leider fehlen in dieser Ausgabe wichtige Texte wie "Le mythe de Stalin dans le cinéma soviétique" (1950) oder Essays über Humphrey Bogart, Jean Gabin, Luis Buñuel und William Wyler. Nachdem in Deutschland jahrzehntelang Bazins Arbeiten nur bruchstückhaft vorlagen, wäre eine Übersetzung der vollständigen Ausgabe angemessener gewesen, denn dann hätte der Leser entscheiden können, welche Texte er als zeitgebunden oder universell gültig charakterisieren wollte. So gelang dem Herausgeber Robert Fischer zwar eine ansprechende, mit zahlreichen Abbildungen und einem Quellenverzeichnis sowie einer Bibliografie und einem Register ausgestattete Ausgabe, die in ihrer Qualität viele deutsche Filmpublikationen in den Schatten stellt, aber dennoch haftet dieser Edition das Manko einer in den siebziger Jahren aus wohlmeinenden Gründen erfolgten Verstümmelung an.

Zudem passt dieses Buch geradezu perfekt in die vom Alexander Verlag gepflegte Retro-Kultur der siebziger und achtziger Jahre: Es ist eingebettet zwischen einem alten Interview-Buch mit Louis Malle, den neu aufgelegten Memoiren Luis Buñuels und der Re-Edition mit den Werken Jörg Fausers. Alles scheint aus einer weit entfernten Welt zu stammen, und nichts deutet darauf hin, dass ein Bezug zum Gegenwärtigen bestehen könnte. Bazins historisches Filmuniversum reicht von den späten dreißiger Jahren bis zur Mitte der fünfziger Jahre und schließt vor allem das Schaffen von Regisseuren wie Jean Renoir, Orson Welles, William Wyler, Roberto Rosselini, Luchino Visconti und Vittorio de Sica ein. Er starb gerade zu dem Zeitpunkt, als in Europa, in den USA und in Lateinamerika eine globale Innovation des verkrusteten klassischen Kinos einsetzte. Diese Ausgabe friert Bazins Texte im historischen Kontext ein und betreibt eine Musealisierung der Kritik.

Im Gegensatz zu den akademischen Filmkritikern und selbstverliebten wie bornierten Spezialisten, die ihm in den Jahrzehnten nach seinem Tod folgten, war Bazin ein Intellektueller, der an einzelnen Filmen seine Vorstellung von Kritik und Theorie entwickelte, anstatt Forderungen und Vorschriften zu erstellen. Im Vergleich zu Siegfried Kracauers umfassender, etwas schwerfälliger "Theorie des Films" aus dem Jahre 1960, die gleichermaßen den Film als Medium des Realismus verstand, wirken Bazins Texte eleganter und eloquenter. Bazin wollte nicht ein Monument für die Gebote des Filmemachens in die Welt setzen, sondern exemplarisch ergründen, was der Film (oder das Kino) sei. Mit den technologischen Entwicklungen der dreißiger und vierziger Jahre sah er die Filmemacher endlich in die Lage versetzt, mit den großen realistischen modernen Romanciers der Zeit wie William Faulkner, Ernest Hemingway und John Dos Passos in eine Reihe zu treten. Zugleich vertrat Bazin eine ethisch begründete realistische Theorie, die sich gegen die "Manipulation" der Montage (wie sie Eisenstein, Pudowkin und Kuleschow in den zwanziger Jahren begründet hatten) wandte, da sie in den Augen Bazins dem Zuschauer eine Eindeutigkeit und ideologische Sicht der Dinge aufzwang. Dagegen förderte die Schärfentiefe in der mise-en-scène eine intellektuelle Aktivität auf Seiten des Zuschauers, da sie Raum zu einer Mehrdeutigkeit und einer freien Interpretation gab.

Als Antwort auf Bazins Essay "Montage interdit" (1953/56) argumentierte Jean-Luc Godard in seinem Artikel "Montage, mon beau souci" (1956), dass in der filmischen Aktivität beide Methoden - mise-en-scène und Montage - in dialektischer Synthese miteinander verbunden seien. Sowohl die Montage als auch die mise-en-scène konnten "unaufrichtig" und manipulativ angewendet werden. Zudem blendete Bazin in seiner ethischen, vom linkskatholischen Milieu geprägten Kritik ökonomische und politische Faktoren weitgehend aus. Nichtsdestotrotz könnte Bazin einer der Paten einer neuen kritischen Medientheorie sein, die das autoritäre bis totalitäre Moment der postmodernen Video-Ästhetik und der massenornamentalen "event culture" thematisierte und wieder die Freiheit und soziale Verantwortlichkeit der intellektuellen Aktivität gegen die Mundstücke der Anti-Aufklärung in Position brächte.

Titelbild

André Bazin: Was ist Film? Mit einem Vorwort von Tom Tykwer und einer Einleitung von Francois Truffaut.
Herausgegeben von Robert Fischer.
Übersetzt aus dem Französischen von Robert Fischer und Anna Düpee.
Alexander Verlag, Berlin 2004.
440 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3895810622

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch