Tschechows Welt

Eine Biografie von Rosamund Bartlett

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rezensenten werden manchmal nach der Anzahl von Spalten oder Zeilen bezahlt, und neuerdings vielleicht auch nach der Menge der Zeichen. Sie könnten daher versucht sein, ihre Besprechungen künstlich zu strecken, etwa durch unnötige Einleitungen. Nicht sehr anders ging im Grunde genommen der junge Anton Tschechow vor. Aufgewachsen im südrussischen Taganrog am Asowschen Meer, zog er 1879 mit 19 Jahren nach Moskau, wohin seine Familie bereits einige Jahre zuvor übergesiedelt war. Um nun das Familieneinkommen ein wenig aufzubessern - der Vater wirtschaftete als Kaufmann mehr schlecht als recht -, war der Student der Medizin und angehende Schriftsteller bestrebt, möglichst viele kurze Humoresken, erste knappe Erzählungen und Anekdoten bei verschiedenen Zeitschriften unterzubringen. Da er dafür ein Zeilenhonorar erhielt, versteckte er sich hinter mehreren Pseudonymen, um seine Chancen auf Veröffentlichung zu erhöhen.

2004 war ein Tschechowjahr: Man gedachte seines 100. Todestages. Dies bot Anlass für zahlreiche Publikationen von und über Tschechow. So hat der Verlag Artemis und Winkler in vier Bänden einen Großteil der Erzählungen - darunter berühmte wie auch weniger bekannte - neu übersetzt. Dies ist umso erfreulicher, als Tschechow bei uns noch immer vorwiegend als Dramatiker rezipiert wird; seine Stücke sind Klassiker und werden landauf, landab beinahe unablässig gespielt. Der Erzähler Tschechow ist dabei etwas in den Hintergrund geraten, dabei gehört er auch hier zu den Meistern seines Fachs.

Rosamund Bartlett, Dozentin für russische Literatur im englischen Durham, hat nun eine neue Biografie Tschechows vorgelegt. Die Autorin verfolgt den durchaus anregenden Ansatz, sich Tschechow über dessen physische Umgebung anzunähern. Die Teile des Buchs sind dementsprechend vorwiegend mit geografischen Namen überschrieben. Bartletts Methode kommt nicht ganz von ungefähr, wie sie selbst auch eingesteht: Angesichts der bereits existierenden Biografien könnte sich in der Tat die Frage aufdrängen, wieso noch ein weitere hinzugefügt werden soll. Gerade aus diesem Grund aber will Bartlett das Augenmerk auf Tschechows Beziehung zu den Orten und Gegenden legen, in denen er lebte. So schält sich eine Art Reiseführer durch Tschechows Welt heraus. Es ist durchaus möglich, dass Bartlett vom "New Historicism" inspiriert wurde, der das Interesse auf einen - wie auch immer verstandenen, aber doch außerliterarischen - Kontext verlegt, in den das eigentliche Werk eingebettet ist. Es entsteht dabei jedenfalls ein sehr plastisches Bild von Tschechows "Umwelt", von den Orten, an denen er schrieb, die er gleichzeitig aber auch immer wieder in sein Werk einschrieb: Taganrog, Moskau, Sankt Petersburg, Sachalin, die Krim, Nizza und Badenweiler beispielsweise, wo Tschechow 1904 an Lungentuberkulose starb. Bartletts Ansatz bewährt sich etwa in den Passagen über den Landschaftsmaler Isaak Lewitan (1860-1900), mit dem Tschechow eine lange und enge Freundschaft verband. Bartlett zeigt sehr schön auf: Für beide, für Tschechow wie auch für Lewitan, stellte die Landschaft vielleicht die wichtigste Quelle lyrischer Inspiration dar.

Die Methode hat allerdings auch ihre Schwächen. Bartlett nimmt in Kauf, dass der Schriftsteller Tschechow mit seiner geistigen Biografie weitgehend im Dunkeln bleibt; über seine Stellung in der Literaturgeschichte, über seine literarischen Ahnen und Nachkommen erfährt man in ihrem Buch nur wenig. Darüber kann auch die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass Rosamund Bartlett immer wieder aus Tschechows Werken selbst zitiert.

Viele Leser mag es irritieren, dass die Übersetzerin Anna Blum konsequent die wissenschaftliche Schreibweise verwendet, also Cechov statt Tschechow usw. Dies ist vielleicht ein Tribut an Peter Urban und sein langjähriges Projekt einer deutschen Gesamtedition von Tschechows Werk beim Zürcher Diogenes Verlag: Urban verwendet nämlich schon seit einigen Jahren die wissenschaftliche Schreibweise.

Trotz dieser Einwände stellt Rosamund Bartletts Buch aber eine vorzügliche Ergänzung zu in westlichen Sprachen bereits verfügbaren Tschechow-Biografien dar.

Titelbild

Rosamund Bartlett: Anton Cechov. Eine Biographie.
Übersetzt aus dem Englischen von Anna Blum.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004.
476 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-10: 3552053093

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