Postkoloniale Germanistik?

Ein Sammelband versucht, die Postcolonial Studies auf die deutsche Literatur anzuwenden

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ausgehend von Edward Saids Studie zum Orientalismus (1978) und der darin vorgeschlagenen Re-Lektüre kanonischer Texte auf ihre kolonialistische Herkunft (Abbildfunktion) und ihre Weiterschreibung des kolonialen Diskurses (Diskursformierung) unternimmt der vorliegende Sammelband den Versuch, die deutsche Literatur und Literaturwissenschaft an den postkolonialen Diskurs anzuschließen.

Das führt zum Einen zur Neubewertung grundlegender Texte des deutschsprachigen Kanons (etwa Johann Wolfgang Goethes "Wilhelm Meister" unter dem Aspekt der Kapitalismus-Utopie), zum Anderen zur Neupositionierung weitgehend marginalisierter Autoren (etwa Peter Altenberg). Besonders die Re-Lektüre der zeitgenössischen Autoren (W. G. Sebald oder Uwe Timm) kann überzeugen, bei den älteren Autoren überwiegt der Versuch der Interpreten, sie vor postkolonialer Kritik in Schutz zu nehmen. Neben überzeugenden Interpretationsansätzen ist allgemein die weitgehende Kritiklosigkeit der Interpreten zu bemängeln - gerade hierin liegt jedoch das Potential der Postcolonial Studies. Weniger überzeugend sind die Arbeiten vor allem dann, wenn eine "Rettung" einzelner Autoren unternommen wird (wie im Falle Altenbergs durch Dirk Göttsche). Zudem wird unter Hinweis auf fehlende Kolonialisierungsbestrebungen Deutschlands und Österreichs im 19. Jahrhundert ein ethischer Vorsprung vor anderen Staaten postuliert - und dabei übersehen, dass Ungarn und Deutsch-Südwestafrika als Teile des deutsch-österrreichischen Kolonialdiskurses gelesen werden können und müssen (erinnert sei an den Herero-Aufstand und seine zunehmend breitere Rezeption in der Öffentlichkeit anlässlich der hundertsten Jährung).

Darüber hinaus existieren theoretische Ansätze wie der Jochen Dubiels, die einen Überblick über postkoloniale Konzepte geben. Ihre exkursorische Anwendung auf literarische Texte birgt jedoch die Gefahr, Kategorien über Texte zu legen, statt diese aus ihnen zu entwickeln.

Zudem scheint die Vorherrschaft des westlichen Kanons ungebrochen und unbestritten; der Blick über den sprichwörtlichen Tellerrand wird weitestgehend unterlassen. Dazu zählt auch, dass kritische Einwände, etwa zur Theorie der Hybridität (zurückgeführt auf Homi Bhabha und dessen Walter-Benjamin-Lektüre), wie sie von Autoren der so genannten "Dritten Welt" geübt wird, zwar genannt, nicht aber produktiv oder reflexiv gehandhabt werden. Alles in allem bleibt das Gesamt-'ergebnis' (in Anführungszeichen auch deshalb, weil sich die Teilnehmer des Symposiums, aus dem der Sammelband hervorgegangen ist, zu selten zugehört zu haben scheinen) etwas ernüchternd, da es bestätigt, dass die angloamerikanischen Postcolonial Studies in der deutschen Germanistik kaum je weiterenwickelt, als vielmehr nachgeahmt werden. So ist das kritische Potential verschenkt und verloren, trotz gutgemeinter Ansätze.

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Axel Dunker (Hg.): (Post-) Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2005.
287 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3895284793

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