Die Kunst des Wahrnehmens und (V)Erkennens

Auf den Spuren mittelalterlicher Wahrnehmungsprozesse in der höfischen Literatur

Von Stefanie HenkelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Henkel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage nach Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen in der mittelalterlichen Literatur gilt schon seit längerer Zeit als heiß diskutiertes Feld unter Philologen. Wegweisend für die intensive Auseinandersetzung mit diesem Thema war nicht zuletzt Joachim Bumkes Abhandlung "Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im 'Parzival' Wolframs von Eschenbach", in welcher der Autor Wahrnehmungsprozesse in Wolframs höfischem Roman unter die Lupe nimmt und vor dem Hintergrund scholastischer und philosophischer Vorstellungen des Mittelalters interpretiert.

Jetzt liegt dem mediaevistisch interessierten Leser eine Neuveröffentlichung vor, die auch als Antwort auf Bumkes Analyse gelesen werden kann. Der Herausgeber der elf Beiträge umfassenden Aufsatzsammlung "Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach", John Greenfield, trägt in diesem Buch die Ergebnisse eines Kolloquiums zusammen, das im November 2002 in Porto stattfand. Namhafte "Parzival"-Forscher wie Walter Haug, Elisabeth Schmid und Helmut Brall-Tuchel, um nur einige zu nennen, haben unter sehr differenzierten Gesichtspunkten neu über das Thema nachgedacht: Wie funktioniert Wahrnehmung in literarischen Texten, inwiefern kann der Rezipient mittelalterlicher Epik Einblicke in seelische Wahrnehmungsprozesse der Figuren gewinnen, welche sensorischen und emotionalen Bereiche der Wahrnehmung lassen sich ausmachen und in welcher Weise erleben die Romanhelden einen Erkenntnisgewinn? Dies sind alles Fragen, denen die Autoren in diesem Sammelband nachgehen. Stellt man sich zunächst die Frage, ob eine Figur, die letztlich in ein enges und schematisches literarisches Konstrukt eingebunden ist, überhaupt die Möglichkeit eines individuellen Erkenntnisgewinns und der daraus entstehenden Handlungskonsequenzen besitzt, so bietet der Aufsatz Walter Haugs einige schlüssige Antworten. Haug untersucht das Verhältnis zwischen individuellen Erkenntnisprozessen und strenger Handlungsführung im Sinne der traditionellen arthurischen Erzählstruktur. Hier scheinen sich zunächst zwei unterschiedliche Schulen unvereinbar gegenüberzustehen: die strukturalistische und die psychologische. Haug versucht, beide Rezeptionszugänge zu vereinen und kommt anhand seiner Analyse des "Erecs" und des "Parzivals" zu dem Schluss, dass Wahrnehmungsprozesse und Erkenntnisgewinne der Protagonisten durchaus vorhanden sind, dass diese aber die Handlungsstruktur des Erzählers nicht durchbrechen können und somit momenthaft bleiben. Betrachtet man zum Beispiel den Erkenntnisprozess, den Parzival bis zu seinem ersten Eintreffen auf der Gralsburg durchlaufen hat, so bleibt es für den Rezipienten unverständlich, warum er die alles entscheidende Frage nicht stellt. Aufgrund seines bisherigen Reifeprozesses und seiner Vertrautheit mit dem Leid von Menschen in seiner Umgebung sollte er durchaus in der Lage sein, die Zeichen zu erkennen. Schließlich hat er auch schon seiner Cousine gegenüber seine Wahrnehmungsfähigkeit und Empathie unter Beweis gestellt. Es bleibt dahingestellt, ob die versäumte Frage vor diesem Hintergrund dahingehend zu deuten ist, dass sie eben unerlässlich für die arthurische Romanstruktur ist. Hätte Parzival nicht versäumt, die Frage zu stellen, wäre das typische 2-Wege Modell, der doppelte Kursus, schwerlich möglich.

Während Haug in seinem einleitenden Aufsatz das Verhältnis zwischen Struktur und Individuum deutlich macht und herausstellt, dass die Figuren durchaus einen eigenen Wahrnehmungsspielraum besitzen, beschäftigen sich die anderen Abhandlungen mit verschiedenen Formen der Wahrnehmungen im "Parzival". Hierbei finden Wahrnehmungsbereiche der Akustik, des Visuellen, der emotionalen Liebeswahrnehmung, der Scham und des Schreckens besondere Berücksichtigung.

Einen thematischen Schwerpunkt des Sammelbands bildet die von Wolfram differenziert dargestellte Wahrnehmung von Liebe. Gleich drei Aufsätze beschäftigen sich mit der Frage, wie Minne in der Dichtung Wolframs erfahren wird. Elisabeth Lienert analysiert das Erfahrungsfeld der Minne und verweist auf die immer wiederkehrenden Assoziationen der Liebe mit den Begriffsfeldern Krieg, Gewalt, Dienst und Besitz. Minne wird sowohl von weiblichen als auch von männlichen Personen als physische Schmerzerfahrung wahrgenommen und mit einem entsprechend gewalttätigen Vokabular versehen. Sie kann aber, wie Lienert herausarbeitet, auch heilsam sein - bezeichnenderweise jedoch nur für die männliche Seite. Der Mann nimmt die Liebe zunächst als einen bewaffneten Angriff der Frau wahr. Letztendlich aber behält er die Oberhand, indem er die Frau trotz ihrer 'Liebeswaffen' überwältigt und sie erobert. Betrachtet man die Tatsache, dass Wolfram in seinem Roman einen starken Akzent auf die Verbindung zwischen Minne, Ritterschaft und Tod legt, scheint die schmerz- und gewaltbesetzte Konnotation der Liebe nicht verwunderlich. Liebe wird sowohl auf der Handlungsebene als auch in den Empfindungen der Romanhelden als Gewalt wahrgenommen.

Eine andere Form der Liebe hat Timothy McFarland in seinem Aufsatz untersucht. Nicht nur der visuelle Kontakt mit dem Gegenüber kann die Figuren in Liebe entbrennen lassen. Auch die Liebe zu einer gänzlich unbekannten, nie gesehenen Frau, kann Liebessehnsucht erzeugen. So verfällt Gramoflanz durch die Berichte anderer - durch die akustische Wahrnehmung über Dritte - der Liebe zu Itonje. Nur schrittweise, über mehrere Stationen, nähert sich Gramoflanz dem eigentlichen Erkennen der Geliebten an: durch das Hörensagen, durch die Begegnung mit Itonjes Bruder, in dem er ihr Ebenbild wahrzunehmen glaubt, und schließlich durch das Zusammentreffen mit der Geliebten selbst.

Dass die unterschiedlichen Formen der Liebeswahrnehmung nicht nur im "Parzival" eine Rolle spielen, zeigt Michael Shields anhand eines Wolfram'schen Tagelieds. Sein Hauptaugenmerk richtet sich auf die geschlechtsspezifischen Wahrnehmungsarten der Liebe.

Elisabeth Schmid und Stephan Fuchs-Jolie runden mit ihren Untersuchungen der Metaphorik Wolframs das Thema der Wahrnehmung ab. Es wird noch einmal deutlich, dass der Erzähler Wahrnehmungsformen bewusst einsetzen kann, um bestimmte Assoziationen und visuelle Bilder entstehen zu lassen. Anhand des Beispiels der 'taubenetzten Rose' stellen die beiden Autoren heraus, dass durch den gezielten Einsatz unpassend und widersprüchlich erscheinender Metaphern gezeigt werden kann, dass die Wahrnehmung des Individuums durchaus divergent zur Realität sein kann. Wahrnehmung kann schließlich nie einen allgemeingültigen Anspruch besitzen.

Die Autoren bieten in ihren Beiträgen textnahe, detaillierte und anschauliche Analysen verschiedenster Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse. Die Besonderheit der Anwendung dieser sozio-kulturellen und philosophischen Fragestellungen auf einen literarischen Text - der zudem 800 Jahre alt ist - liegt wohl in der Vielfältigkeit seiner Interpretationsansätze. So sind immer mehrere Ebenen gleichzeitig zu betrachten und zu differenzieren: Wahrnehmungsakte zwischen den Protagonisten spielen eine ebenso große Rolle wie solche zwischen Protagonisten und Publikum oder Erzähler und Rezipienten.

Deutlich wird auch, dass dieser thematische Zugang noch viele Fragen offen lässt und ein großes Feld weiterführender Arbeit bietet. So wäre zum Beispiel zu wünschen, dass noch deutlicher als bisher herausgestellt wird, wo die konkreten Anknüpfungspunkte Wolframs an die erkenntnistheoretischen Diskussionen seiner Zeit aufzuweisen sind. Bumke hat diese Fragestellung verfolgt und vermutet, dass Wolfram die beiden zeitgenössischen Erkenntnistheorien - die aristotelische wie auch die platonische - aufgreift und durchspielt. Diese Fragestellung wäre auch in Bezug auf eine Analyse des Einflusses mystischer Strömungen auf Wolframs Werk wichtig, da die innere Schau, die nach Platon zur eigentlichen Erkenntnis führt, auch immer eine religiöse Komponente in sich birgt. Ferner wäre sicherlich auch eine Untersuchung der religiösen Wahrnehmung der Romanfiguren interessant, da diese durchaus unterschiedlich auf religiöse Aspekte reagieren. Auch der Frage, wie Unrecht und Ungerechtigkeit von ihnen wahrgenommen wird, könnte eingehender nachgegangen werden.

Bezüglich des Werdegangs Parzivals wäre auch die Frage zu stellen, inwiefern die Wahrnehmung verwandtschaftlicher Strukturen und Bindungen eine Rolle spielen. Die stufenweise Einführung in die verwandtschaftlichen Verhältnisse prägen auch Parzivals Wahrnehmung seiner Selbst und seiner Verortung in der Gesellschaft.

Festzuhalten bleibt, dass Wahrnehmung und daraus resultierendes Erkennen der eigenen Person, der Situation und des Gegenübers ein faszinierendes Thema ist - in der damaligen Zeit, wie auch heute.

Titelbild

John Greenfield (Hg.): Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas do Coloquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002.
Faculdade de Letras da Universidade do Porto, Porto 2004.
278 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 972935057
ISBN-13: 9789729350573

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch