Eine "Bibel gegen den Tod"

Elias Canettis Aufzeichnungen "Über den Tod" und Sven Hanuscheks Biografie

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Elias Canettis erbittertster Kampf war der gegen den Tod. "Wenn es denn schon sein muß - es heißt, es muß sein - wenn es denn schon ganz bestimmt sein muß, will er mit dem gelben Bleistift in der Hand über einem drohenden Wort gegen den Tod sterben", schrieb er noch im hohen Alter von 80 Jahren voller Trotz. Neun Jahre später starb der Dichter, friedlich, im Schlaf. Sven Hanuschek, der nun rechtzeitig zum 100. Geburtstag die erste Biografie des Literaturnobelpreisträgers vorgelegt hat, sieht in den wohl überlegten Nachlassregelungen - unter anderem suchte sich Canetti in Zürich eine Ehrengrabstätte neben der von James Joyce aus - so etwas wie eine späte Niederlage gegenüber dem Tod, den er nicht hinnehmen wollte. Tatsächlich haderte Canetti selbst damit: "Es war ein Einbruch der Sorge um zwei Dinge: das Schicksal meiner einzigen Angehörigen und das des Geschriebenen, das ich hinterlasse. Es war ein Zwang dabei, dem ich zum erstenmal nachgegeben habe, eine Anerkennung dessen, was geschehen wird. Ich habe es nicht nur gesehen, ich habe es nicht mehr bestritten. Damit ist es entschieden und ich bin ein geschlagener Mann. Dass dieser Schlag kommen wird, habe ich immer gewusst."

Und doch, die große Niederlage, die er Zeit seines Lebens fürchtete, war es nicht. Canetti hat zwar dem Tod so am Ende doch ein kleines Stück "Revier" eingeräumt, aber er hat ihn weiter bis zum letzten Atemzug verdammt. Er hat dem Gegner Tribut gezollt, ist aber nicht eingebrochen, wie er es bereits 1943 zu befürchten begann: "Wieder, es ist nun das zweite oder dritte Mal, habe ich an den Tod als an meine Erlösung gedacht. Ich fürchte, daß ich mich noch sehr verändern könnte. Vielleicht werde ich bald zu seinen Lobpreisern gehören, zu denen, die dann Zeit ihres Greisenalters zu ihm beten. So will ich hier ein für allemal festsetzen, daß jene zweite, künftige Periode meines Lebens, falls sie eintreten sollte, keine Gültigkeit hat. Ich will nicht da gewesen sein, um dann aufzuheben, wofür ich da war. Man behandle mich wie zwei Menschen, einen starken, einen schwachen, und auf die Stimme des starken höre man, denn der Schwache wird niemand helfen. Ich will nicht, daß die greisen Worte des einen die des Jungen zunichte machen. Lieber will ich in der Mitte abgebrochen sein. Lieber will ich nur halb so lang reichen."

Über Canettis Todesfeindschaft ist viel geschrieben worden. Sie wurde als persönliche Todesfurcht missverstanden und als Marotte, als dummer, da sinnloser Kampf eingestuft. Mitunter wurde sie, wie von Dagmar Barnouw, auch entschärft: "Es geht Canetti nicht um den Tod ,selbst', sondern um die soziale Dimension der Todeserfahrung: das passive Akzeptieren des Todes des anderen, das im Krieg in ein aktives Bejahen dieses Todes umschlägt." Selten wurde der Todeshass wirklich ernst genommen, in seinem ganzen Ausmaß, in all seinen Widersprüchlichkeiten. Und so hat auch Sven Hanuschek als Biograf durchaus seine Schwierigkeiten damit. Erst kurz vor Ende der 700-seitigen Lebensgeschichte rollt er das Kapitel des Todesfeindes Canetti systematisch auf, weist auf die Vielzahl der Aufzeichnungen zu diesem Thema hin und stellt die Pläne zum "Totenbuch", einem universellem Projekt, "für das Canetti recherchiert hat wie sonst nur noch für 'Masse und Macht'" dar. Die zentralen Ereignisse, die Canettis lebenslangen Kampf geprägt haben, finden sich - natürlich - in der Biografie. Doch gehen sie, wie viele andere Episoden auch, schlicht in der Faktenmasse unter.

Elias Canetti war sieben Jahre alt, als sein Vater, gerade einmal 31-jährig, beim Frühstück tot zusammenbrach. Das Erlebnis dieses frühen Todes hat Canettis konsequente Haltung begründet. Es ging ihm dabei nicht um die Abschaffung des Todes - "die nicht möglich sein soll. Es geht mir um die Ächtung des Todes". Keine Rechtfertigung ließ er gelten. Er gestattete sich keine Gewöhnung, keine Verdrängung und auch kein Ausweichen in die Jenseitshoffnung einer Religion. Das ist alles andere als einfach und bequem: "Mein Haß gegen den Tod setzt ein unaufhörliches Bewußtsein von ihm voraus", notiert er 1946, "es wundert mich, wie ich so leben kann." Das Aufbegehren gegen die Sinnlosigkeit dieses frühen Todes hat Canetti schließlich zur Ablehnung eines jeden Todes geführt. "Es ist um jeden schade. Niemand hätte je sterben dürfen. Das ärgste Verbrechen war nicht todeswürdig, und ohne die Anerkennung des Todes hätte es nie ärgste Verbrechen gegeben."

In seinem literarisch-anthropologischen Hauptwerk "Masse und Macht" führt der Dichter das Problem von Tod, Überleben und Macht dann auf einzigartige Weise mit einer Theorie der Masse zusammen; sein "Totenbuch" hingegen ist nie erschienen. Ein Roman unter dem Titel "Der Todfeind", konzipiert nach Abschluss des Erstlings "Die Blendung", wurde nicht ausgeführt. Im unvollendeten Manuskript des "Totenbuchs" findet sich überraschenderweise ein einziger Tod, den Canetti anerkannt hat. Ein Opfertod, vor dem er "tiefste Ehrfurcht" empfand: der Tod der Sophie Scholl.

Es sind solche Neuigkeiten aus dem Nachlass Canettis, die Sven Hanuscheks voluminöse Biografie lesenswert machen. Als einer der ersten konnte der Münchener Publizist in die rund 150 Schachteln bisher unveröffentlichter Aufzeichnungen und Materialien Canettis, die in der Züricher Zentralbibliothek aufbewahrt werden, Einblick nehmen. Erst knapp ein Zehntel der Aphorismen und Notizen des Schriftstellers sind bislang veröffentlicht, rechnet Hanuschek vor. Weitere Entdeckungen sind also zu erwarten, ist zu folgern - nicht zuletzt sind die Tagebücher Canettis sogar noch bis 2024 gesperrt. Sein Nachleben in der Literaturwissenschaft hat der Todesverächter damit offensichtlich geschickt gesichert.

Das Thema der Todesfeindschaft Canettis bleibt bei Hanuschek etwas blass. Die Lebensgeschichte wiederum erzählt er über große Strecken zu weitläufig und verwirrend. So werden die Kindheitsstationen Rustschuk (Bulgarien), Manchester, Zürich, Frankfurt, Wien zwar ausführlich erläutert, aber so recht fassbar wird nicht, wie es kam, dass sich die Wege der Brüder von denen der Mutter so früh trennten; und dies bei der engen Bindung nach dem Tod des Vaters. Ebenso wird das Beziehungsnetz, das der junge Autor während des Zweiten Weltkriegs im Exil in England knüpfte, gründlich dargelegt. Namen über Namen werden aufgezählt und die Bekanntschaften des "Gurus von Hampstead" ausgeleuchtet. Für Canetti-Kenner und -Forscher sicherlich eine wichtige Materialbasis. Für alle, die Canetti jedoch erst kennen lernen möchten, ist dies ein unentwirrbarer Dschungel, in dem man allzu schnell den Überblick verliert. Zumal man wichtige Ereignisse wie neue Beziehungen oder die zweite Heirat Canettis fast nur nebenbei erfährt. Eines allerdings wird bald klar: Der Todesfeind Canetti war auch ein ausgesprochener Frauenfreund. Und nicht selten ein recht unsympathischer dazu. So durfte er sich zwar selbst mit drei Geliebten zugleich vergnügen, überwachte umgekehrt jedoch die Frauen äußerst eifersüchtig. Immerhin: Das Einverständnis seiner Frau Veza für die zahlreichen Affären hatte er.

Deren Depressionen und Suizidfantasien überschatteten die Ehe, Vezas Tod 1963 führte auch zu Selbstmordgedanken (!) des Dichters. Dass der 82-Jährige seine zweite Frau, die um 27 Jahre jüngere Hera Buschor, mit der er ein spätes Vaterglück erleben durfte, 1988 ebenfalls zu Grabe tragen musste, war für Canetti ein unvorstellbarer Schlag. "Es sind zu viele. Man stirbt am Übergewicht der Toten", hatte er bereits 1976 angemerkt, aber auch lange vorher: "Erst die Gestorbenen haben einander ganz verloren". In den Jahren der schweren Krebserkrankung Heras hatte Canetti wieder verstärkt am "Totenbuch" gearbeitet, ist nun bei Hanuschek zu erfahren. Er exzerpierte dafür "biologische Bücher über Ameisen und Tod, Affen und Tod, staatenbildende Insekten und Tod." Er holte sich "Anekdoten über das Sterben von Molière, Thomas Morus und Shelley, [...] Hegel, Feuerbach und Heidegger" und sammelte "Zeitungsmeldungen über chinesische Seeleute, die als Kanadier reinkarniert worden sein sollten, oder über Soldatenleichen in Stalingrad."

Es ist zu hoffen, dass wenigstens diese unvollendeten Aufzeichnungen Canettis einst veröffentlicht werden. Denn "wie wenig echten Haß gegen den Tod gibt es schon in der überlieferten Literatur! Dieses Wenige aber muß gefunden, gesammelt und konzentriert werden. Aus einer solchen Bibel gegen den Tod könnten viele Kraft schöpfen, wenn sie daran sind zu erlahmen. Es würde auch dem eigenen Trotz etwas von seiner Überheblichkeit nehmen, denn wie wäre es möglich, dass man der Einzige ist, der den Tod durchschaut. Nicht nach Bundesgenossen suche ich, sondern nach anderen Zeugen. Denn wäre es nicht furchtbar, wenn meine eigene harte, durch nichts zu erschütternde Gesinnung gegen den Tod einmal psychologisch wegzuerklären wäre, so als wäre sie nur den besondere Bedingungen meines eigenen Lebens entsprungen, und darum nur für mich gültig? Wo immer sie sich bei anderen findet, gehört sie zu einem anderen Leben und die Wahrscheinlichkeit, daß sie zu jedem Leben gehören müßte, wäre größer." Canettis eigenen Hass dokumentiert inzwischen immerhin das kleine, aber verdienstvolle Bändchen "Über den Tod". Unter der Redaktion von Penka Angelova wurden die Aufzeichnungs-Bände und Werke Canettis nach Notizen zum Thema durchgesehen. Mit dem Ergebnis erhält man zwar keinen vollständigen Überblick - so wurde die Autobiografie nur unvollständig ausgewertet und auch aus "Masse und Macht" fehlen wichtige Aspekte -, aber doch einen faszinierenden ersten Einblick in das Innerste dieses unzeitgemäßen Autors, für den das große Skandalon unserer Zeit die selbstverständliche Akzeptanz des Todes war. All die wütenden, trotzigen, traurigen, anrührenden und bizarren Gedanken und Aphorismen, als deren dramatische Version auch das Theaterstück "Die Befristeten" gelten kann, bilden einen einzigartigen Kosmos, dessen zentrale Aussage das Nein zum Tod ist. Dies alles in der Gewissheit der Vergeblichkeit, aber auch der Idee, dass erst durch dieses Nein Humanität wirklich möglich ist. Oder wie wäre es, wenn ein wahrer Mensch erst der wäre, "der nie getötet und sich nie den Tod gewünscht hat"?

Titelbild

Elias Canetti: Über den Tod.
Herausgegeben von Thomas Macho.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
133 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3446202390

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Titelbild

Sven Hanuschek: Elias Canetti. Biographie.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
800 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3446205845

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