Religion in der Kulturwissenschaft
Kleine Hinweise zu einem großen Forschungsfeld
Von Thomas Anz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer in dieser Dezember-Ausgabe 2005 von literaturkritik.de nachpublizierte Aufsatz von Jan-Philipp Reemtsma "Christen und wir" steht in Kontexten zahlreicher Beiträge zu einschlägigen Themenbereichen einer historischen und kulturwissenschaftlichen Anthropologie. Zu ihren Untersuchungsgegenständen haben Phänomene der Frömmigkeit und Religiosität schon immer gehört. Denn diese scheinen einerseits zu den universalen Merkmalen der Gattung Mensch zu gehören. Andererseits sind ihre zeit-, gruppen- und regionalspezifischen Erscheinungsformen so unterschiedlich und so starken Veränderungen unterworfen, dass sie sich allen universalisierenden Aussagen über eine konstante Natur des Menschen entziehen. Die ursprünglich provokativ-paradoxe Bezeichnung "Historische Anthropologie" versuchte genau diese Entgegensetzung von universaler Natur (als Gegenstand der Anthropologie) und historisch-kultureller Vielfalt (als Gegenstand der Geschichtswissenschaft) aufzulösen. So auch das kulturwissenschaftliche Konzept der Herausgeber des Buchs, Friedrich Jaeger und Jürgen Straub, in dem der Aufsatz von Reemtsma zuerst erschien: "Die jüngeren Kulturwissenschaften untersuchen die als Kollektivsingular begriffene Lebensform des Menschen ebenso wie die historisch und kulturell variablen, heterogenen Lebensformen der Menschen." Vertreter verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, unter ihnen der Philosoph Paul Ricœur, der Soziologe Hans-Georg Soeffner, der Literaturwissenschaftler Wilhelm Voßkamp und der Historiker Hans-Ulrich Wehler, greifen diverse Aspekte einer so verstandenen Kulturwissenschaft auf. Sie reichen von Phänomenen der ästhetischen Erfahrung, des Umgangs mit Sinn oder der Ausbildung narrativer Identitäten bis hin zur "Genderisierung" des Subjekts im Liebesdiskurs, zu historischen Ausprägungen der Gewalt, zu Traditionen utopischen Denkens - und eben auch der Religiosität.
Zu den Verdiensten der jüngeren Kulturwissenschaften gehört nicht zuletzt die Wiederaneignung religionswissenschaftlicher Interessen. Inzwischen hat sich allerdings auch die Theologie kulturwissenschaftlichen Forschungen gegenüber weit geöffnet. Einer der vielen vorzüglichen Artikel in dem 2004 erschienenen "Handbuch der Kulturwissenschaften", dessen zweiten Band ebenfalls Friedrich Jaeger und Jürgen Straub herausgegeben haben, informiert über die "Protestantische Theologie im Horizont der Kulturwissenschaften". Die Autorin Petra Bahr, Referentin für Theologie am Institut für Interdisziplinäre Forschung in Heidelberg, erinnert an die Vorgeschichte der jüngsten kulturwissenschaftlichen Wende in der Theologie. Sie begann am Ende des 18. Jahrhunderts und erreichte ihren Höhepunkt um 1900. In den 1920er Jahren folgte ein Rückschlag zu einer Form kirchlicher Theologie, die sich als Gegenmodell zu ihrer kulturwissenschaftlichen Öffnung profilierte. Ein antikulturalistischer Affekt prägte die Theologie noch bis in die 1970er Jahre hinein. Was der "cultural turn" in den Nachbardisziplinen in den folgenden Jahrzehnten anregte, ist nach Bahr von der Theologie nur langsam, u. a. mit der Rezeption von Ritual-, Zeichen- oder Symboltheorien, aufgenommen worden.
Symptomatisch für die Öffnung der Theologie zu kulturwissenschaftlichen Perspektiven gleich in mehrfacher Hinsicht war der 2001 im "Religion & Kultur Verlag" erschienene Band "Religionskultur - zur Beziehung von Religion und Kultur in der Gesellschaft". Herausgeber ist der evangelische Theologe Markus Witte. Er lehrt in Frankfurt an einem Fachbereich, der seit 2000 zusammen mit dem Institut für Ev. Theologie im Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaft der Universität Gießen einen standortübergreifenden Verbund bildet. Das Buch erschien zum Anlass eines Kirchentages in Frankfurt, der, so Witte, "zum ersten Mal in seiner Geschichte die Kultur [...] in sein offizielles Programm aufgenommen hat". Der Band enthält Beiträge über die Zusammenhänge von Religion und Ästhetik, Bildung, Kulturgeschichte, Wirtschaft und Wissenschaft. Name des Verlags, Titel des Buches, institutioneller Hintergrund, Anlass des Erscheinens und Inhalt - alles zusammen verweist in potenzierter Akzentuierung auf die Affinitäten gegenwärtiger Theologie zur allgemeinen Kulturwissenschaft. Die knappe und instruktive Einleitung des Herausgebers zeigt allerdings bald, was solche Annäherungen der Theologie an die Zusammenhänge von Kultur und Religion von denen gegenwärtiger Kulturwissenschaft unterscheidet. Der Definition von Religion ist das zunächst kaum anzumerken. Sie wird verstanden "als kultisch-rituell artikulierte Gottesbeziehung, d. h. als eine zu einer aus dem Alltag ausgegliederten Zeit, unter Vollzug bestimmter Worte und Gebärden und dafür ausgewählten Orten ausgeübten und erlebten Begegnung mit Gott". Das hätte ähnlich auch ein Kulturwissenschaftler schreiben können. Und auch noch die folgende Feststellung, Religion sei "weniger als Kultur, da sie nur einen Ausschnitt menschlicher Lebensgestaltung umfasst." Aber nicht mehr den daran anschließenden Satz: "Andererseits ist Religion mehr als Kultur, da ihr Gegenüber, Gott, nicht in der jeweils vorfindlichen Welt aufgeht." Der Satz enthält nämlich die Präsupposition, dass ein Gott jenseits der "vorfindlichen Welt" existiert. Implizite oder explizite Wahrheitsbehauptungen über die Existenz Gottes sind hingegen in jüngeren kulturwissenschaftlichen Schriften zur Religion nicht zu finden, und zwar unabhängig davon, ob die Autoren dieser Schriften persönlich an einen Gott glauben oder nicht. Denn darüber schweigen sie in dem, was sie schreiben. Vielleicht ist dies der entscheidende Vorzug kulturwissenschaftlicher Religionsforschung gegenüber einer theologischen, die über metaphysische Wahrheitsbehauptungen hinaus oft auch noch ihre konfessionelle Bindung anzeigt. Ihre säkulare Sprache schließt niemanden aus und hat damit in ihren Aussagen über Religion eine größere Integrationskraft.
Die Neigungen der Theologie, dem für ihre Wissenschaft konstitutiven Gegenstand, der Religion, einen exklusiven Sonderstatus im profanen Spektrum kultureller Phänomene zuzuschreiben, finden sich allerdings auch in einer Literaturwissenschaft, die glaubt, ihre Identität werde durch die Kulturwissenschaften gefährdet, und ihre Existenzberechtigung mit Berufungen auf die ästhetische Außerordentlichkeit ihrer Kunstgegenstände legitimiert. Die theologischen Wurzeln der Literaturwissenschaft sind hier deutlich erkennbar. Umgekehrt meidet mancher Kultur- und Literaturwissenschaftler in den forcierten Anstrengungen, die theologischen Traditionen seiner Wissenschaft hinter sich zu lassen, die Beschäftigung mit Phänomenen der Religiosität wie der Teufel das Weihwasser. Selbst in zwei ansonsten ganz vorzüglichen Einführungen und Darstellungen zu kulturwissenschaftlichen Konzepten der Vergangenheit und Gegenwart findet sie allenfalls eine marginale Berücksichtigung: in Ute Daniels "Kompendium Kulturgeschichte" und in Jakob Tanners "Historische Anthropologie zur Einführung".
Ute Daniels Kompendium enthält instruktive Überblicke über einzelne Kulturwissenschaftler, die von Nietzsche bis zu Pierre Bourdieu reichen. Doch sogar in dem Kapitel über Max Weber ist Religion kaum ein Thema. In den Überblicken zu Schlüsselthemen und -begriffen der Kulturgeschichtsschreibung fehlt sie ebenfalls. Die Lektüre der zur Zeit wohl besten Einführung in die Historische Anthropologie ergibt das gleiche Bild. Dass Religion zu den genuinen Gegenstandsbereichen der Historischen Anthropologie gehört, merken allerdings Daniel wie Tanner ausdrücklich an. Und beide nennen die gleichen Gründe dafür, warum Religion in der Geschichtsschreibung der vergangenen Jahrzehnte relativ wenig Beachtung fand. Es war die Dominanz modernisierungstheoretischer Fragestellungen, die in der seit den 1970er Jahren etablierten Sozialgeschichtsschreibung jene Themen und Gegenstände privilegierte, die für Beschreibungen gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse besonders wichtig erschienen. Religion als (scheinbar) vormodernes Phänomen gehörte nicht dazu. Die Historische Anthropologie hingegen rückte, wie Tanner formuliert, "jene Bereiche ins Blickfeld, die von einer modernisierungstheoretischen Konzeption der Geschichtsschreibung als 'Relikte' der Vergangenheit betrachtet und deshalb kaum einer historischen Untersuchung unterzogen wurden: Religion, Frömmigkeit, Magie, Aberglaube, Hexerei etc." Obwohl sich also die Historische Anthropologie als "Abkehr von modernisierungstheoretischen Vorgaben" (Ute Daniel) versteht, hat sie diese, was die historische Untersuchung religiöser Einstellungen, Praktiken und Lebensformen angeht, noch nicht durchgängig vollzogen.
Dass man allerdings sogar unter modernisierungstheoretischen Vorgaben historische Phänomene der Religion und Religiosität mit erhellenden Einsichten untersuchen kann, zeigt in dem genannten "Handbuch der Kulturwissenschaften" der systemtheoretisch an Niklas Luhmann geschulte Artikel des Tübinger Religionswissenschaftlers und klassischen Philologen Burkhard Gladigow. Er enthält viele bedenkenswerte Belehrungen über den Stellenwert von Religion in den Ausdifferenzierungsprozessen der Kulturgeschichte. Religion verdankt, so führt er aus, ihren relativ eigenständigen, professionell gepflegten Status als Subsystem im Gesamtsystem einer Gesellschaft einerseits kultureller Differenzierung, andererseits versucht sie diese durch Vorgaben für Wirtschaft, Recht oder Wissenschaft immer wieder zurückzunehmen und privilegierte Ansprüche auf Systemintegration zu erheben. Aus Fragen danach, wie Religionen in ihre Umwelten eingepasst sind, wie sie diese strukturieren oder sich bei Änderungen der Umwelten selbst umstrukturieren und wie ähnlich oder unähnlich sie ihren politischen, wissenschaftlichen oder ökonomischen Umwelten sind, ergeben sich vielfältige Forschungsperspektiven.
Gladigow wendet sich dabei unter anderem mit Nachdruck gegen die durch eine christlich und monotheistisch ausgerichtete Theologie vorgegebene und von Religionswissenschaftlern meist übernommene Vorstellung, dass ein Mensch jeweils nur eine Religion hat oder haben kann. Wenn diese Religion in modernisierten Gesellschaften nicht mehr alle Bedürfnisse abdecken kann, so folgerte etwa der Religionssoziologe Peter L. Berger im Rahmen dieser Vorstellung, entstehe der Zwang zur Häresie. Gladigow setzt dem einen anderen Befund entgegen: die Beobachtung eines freien Wechsels von Orientierungssystemen, der schon in den polytheistischen Religionen der Antike praktiziert wurde, doch in den komplexen Strukturen moderner Gesellschaften, die dem Einzelnen ein hohes Maß an Flexibilität abfordern, neue Anziehungskraft gewonnen hat. Als einen Beleg dafür führt er Goethe an. Dieser hatte am 6. Januar 1813 an seinen Freund Jacobi die bis heute oft und gerne zitierten Sätze geschrieben: "Ich für mich kann bei den mannigfachen Richtungen meines Wesens nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher und eins so entschieden als das andere. Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt. Die himmlischen und irdischen Dinge sind ein so weites Reich, dass die Organe aller Wesen zusammen es nur erfassen mögen."
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