Literatur und Holocaust

Ein Sammelband untersucht den Stellenwert der Shoah in der deutschsprachigen Literatur seit 1945

Von Magnus KlaueRSS-Newsfeed neuer Artikel von Magnus Klaue

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literatur nach Auschwitz - das war einmal, als Theodor W. Adornos berühmtes Diktum nicht nur wiedergekäut, sondern auch reflektiert wurde, ein heiß umstrittenes Thema und einer der brisantesten Schnittpunkte zwischen Ästhetik und Politik. Spätestens nach der Wiedervereinigung jedoch ist die deklamatorische Berufung auf Auschwitz selbst zum positiven Bestandteil nationaler Selbstlegitimation geworden.

Der medial aufbereitete Streit über 'Holocaust-Romane' wie Bernhard Schlinks "Der Vorleser" hat sich seither kaum mehr ernsthaft auf die von Adorno aufgeworfene Frage nach der ästhetischen Authentizität literarischer Verarbeitungen des Sujets eingelassen. An die Stelle von Grundlagenreflexion traten oberflächliche Streitigkeiten, die gerade durch ihren vermeintlich kontroversen Charakter der Marktgängigkeit des Themas vorarbeiteten. Je mehr sich die Holocaust-Forschung als eigenes wissenschaftliches Paradigma etablieren konnte, desto mehr schwand das Bewusstsein für die Inkommensurabilität des Gegenstands.

Der von Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke herausgegebene Sammelband zur "Shoah in der deutschsprachigen Literatur" gliedert sich in einen allgemeinen Teil, der sich ebenjener oft marginalisierten Grundlagenreflexion widmen soll, und ein Kapitel mit knappen, monografischen Porträts einzelner Autoren. So unterschiedlich die Qualität der Beiträge ist, fällt insgesamt auf, dass der Band die angesprochenen Aporien der wissenschaftlichen Institutionalisierung des Holocaust eher umschifft. Problematische Autoren wie Bernhard Schlink, Martin Walser oder auch Thor Kunkel, an denen sich der 'großdeutsche' Paradigmenwechsel der Holocaust-Literarisierung demonstrieren ließe, werden allenfalls nebenher erwähnt. Grundlegende poetologische Fragen etwa nach dem Stellenwert grotesker, komischer und satirischer Schreibweisen in der Holocaust-Literatur werden zwar in den Beiträgen von Hans Otto Horch zu Edgar Hilsenrath oder von Hartmut Steinecke zu Robert Schindel behandelt, aber nicht systematisch entfaltet. George Tabori, dem wohl wichtigsten Exponenten dieser Form von Holocaust-Literatur, ist leider kein Einzelbeitrag gewidmet. Insbesondere in den einleitenden Essays von Stephan Braese, Rüdiger Steinlein und Michael Hofmann, die alle in ähnlicher Weise die Holocaust-Diskussion in Literatur, Philosophie und Medien unmittelbar nach 1945 nachzeichnen, herrscht ein - von den Herausgebern zweifellos nicht intendiertes - Chaos der Deutungen und Kotextualisierungen. Es wäre wohl an der Zeit, die völlig konträren philosophischen Reaktionen auf den "Zivilisationsbruch" etwa bei Adorno, Jaspers, Arendt, Améry und Kogon, die bei Braese et al. nur summarisch referiert werden, in ihrer Widersprüchlichkeit und in ihren politischen Antagonismen zu entfalten.

Der erste Teil des Bands entwickelt dagegen kaum "übergreifende Fragestellungen", sondern bietet vor allem eine Aneinanderreihung von Feststellungen, die in ihrer Mischung aus Positivismus und politischer Vorsicht unbefriedigend bleibt. Ausnahmen sind der instruktive Essay von Norbert Otto Eke über die antifaschistische "Schlußstrichmentalität" der DDR-Kulturpolitik, in dem die letztlich selbst bürgerlichen "narrativen Muster" DDR-typischer "Widerstands- und Entwicklungsgeschichten" analysiert werden, Rüdiger Steinleins Aufsatz über die pädagogische Aufbereitung des Themas in der Kinder- und Jugendliteratur sowie Hartmut Steineckes Überblick über die Werke jüdischer Autoren der "Zweiten Generation" wie Maxim Biller, Barbara Honigmann und Doron Rabinovici. Darüber hinaus bleibt der erste Abschnitt aber eklektisch und additiv, zumal jüngere Forschungsergebnisse wie die Arbeiten der 'Yale-School' um Geoffrey Hartman und Ulrich Baer kaum einbezogen werden.

Der zweite Abschnitt zeigt ähnliche Schwächen, obwohl mit den Beiträgen von Alo Allkemper über Nelly Sachs' erlösungstheologische Interpretation des Holocaust, Stephan Braeses aufschlussreicher Studie zu Wolfgang Hildesheimer und Hartmut Steineckes Porträt von Robert Schindel interessante Deutungsvorschläge vorgelegt werden.

Was aber bringt es ein, so wichtige Autoren wie Grete Weil (Susanne Baackmann), Erich Fried (Pól O' Dochartaigh) oder Jean Améry (Irene Heidelberger-Leonard) auf je vier bis sechs Seiten abzuhandeln? Der Anspruch exemplarischer Interpretation, der dem monografischen Verfahren eigen ist, wird dadurch ad absurdum geführt; übrig bleiben standardisierte Lexikonartikel. Insgesamt ist der Band, bei allen Vorzügen einzelner Aufsätze, symptomatisch für einige zentrale Schwachstellen der deutschen Forschung zur Holocaust-Literatur: Zum einen wird der internationale Diskussionsstand nur fragmentarisch reflektiert; ferner wird nach wie vor eine 'neutrale' Perspektive bevorzugt, die auf begründete ästhetische Wertungen und politische Deutungen verzichtet. Schließlich hapert es an methodologischer Selbstreflexion, wie sie außerhalb der Literaturwissenschaft etwa Detlev Claussen mit seiner Kritik am Aufkommen einer wissenschaftlichen 'Holocaust-Industrie' seit langem übt. Insofern spiegelt der Band die Befindlichkeiten der gegenwärtigen Forschung wider, über sie hinaus geht er nicht.


Titelbild

Norbert Otto Eke / Hartmut Steinecke (Hg.): Shoah in der deutschsprachigen Literatur.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2006.
344 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-10: 3503079769

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