Kabinett der Körper

Thomas Hettches Spurensuche am Canal Grande

Von Felix MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Flaneur erkundet Venedig. Sein Spaziergang kreuzt Gässchen und Brücken, Kapellen und Paläste, führt vorbei an Gondeln und asiatischen Touristen. Und überall ist Wasser. Es "leckt über die oberste Stufe der kleinen Treppe neben der Brücke" und "flattert eiskalt über die Marmorstufen unter dem Rundbogen des Tores", mal steht es "hoch und unruhig", dann wieder ist es "seltsam glatt". Dem Erzähler sind die Adria und ihr labyrinthisches Netz in der Lagunenstadt mehr als nur Verkehrsweg und flüssige Grenze. Das wogende Salzwasser ist die Haut eines Körpers.

Thomas Hettche durchmisst einen gewaltigen Assoziationsraum. Seine Essays, die er kunstvoll verklammert, entdecken den Körper als Leitmotiv, und nicht nur den städtischen mit seinen Fassaden und Winkeln. Die "Suche nach dem Ursprung der Körper", die der Flaneur antritt, gilt zuerst dem menschlichen Leib und den Mythen, die ihn umgeben. Sein Blick reicht weit zurück in die Jahrhunderte, und entsprechend groß ist die Galerie der Gewährsleute, die ihm bei seinem Vorhaben zur Hand gehen. Er liest die pikanten Sonette des Renaissancedichters Pietro Aretino, verfolgt eine orientalische Fährte des jungen Gustave Flaubert und reflektiert das Wirken des Anatoms Andreas Vesal. Sie alle stehen in einem Spannungsfeld, in dem sich auch der Erzähler selbst befindet: Dem von Körper, Bild und Text.

Mit Aretinos Texten verbindet den Autor ein besonderes Verhältnis. Die "Modi" des Venezianers, der im 16. Jahrhundert am Hof Papst Leos X. weilte, hat Hettche 1997 erstmals in deutscher Übersetzung publiziert. Es handelt sich um kommentierte Kupferstiche des Druckers Mercantonio Raimondi, die ein entkleidetes Paar bei verschiedenen Spielarten des Liebesaktes zeigen. Die Gespräche des Paares hat Aretino in derben, mitunter bewusst vulgären Sonetten inszeniert, die mit Recht als Urtexte der Pornografie gelten können. Ihren obszönen Charakter entfalten sie nach Hettche erst durch ihre Form: Der Dialog der Liebenden lenke "den Blick des Lesers hin und her, vom Bild zum Text und wieder zurück, so den gefrorenen Augenblick zur Handlung schmelzend und jene Spiegelkonstruktion erzeugend, die für einen pornografischen Text so wichtig ist."

Hettche richtet seine Aufmerksamkeit auch auf den Preis, den Aretinos Verse für ihre suggestive Sinnlichkeit entrichten mussten. Nur kurze Zeit nach ihrem Erscheinen von der Zensur verboten, überdauerten sie die Jahrhunderte nur im Abglanz ihres Mythos. Erst 1921 wusste die Leipziger "Zeitschrift für Bücherfreunde" von einem Fund im entlegenen Winkel einer Bibliothek zu berichten - einem Raubdruck der "Modi" Aretinos. Es ist die gesellschaftliche Verdrängung der Pornografie, die ihr nach Hettche erst ihr Eigenleben verleiht: "Am Ort ihrer Verbannung", schreibt er, "verwandeln sich die Texte selbst zu Körpern, und es geschieht ihnen dasselbe wie der Stimme an jener Stelle des Kuppelbaus, wo selbst ein Flüstern unmäßig verstärkt wird."

Die Begegnung des jungen Gustave Flaubert mit einer orientalischen Kurtisane bildet einen zweiten Fluchtpunkt für Hettches Erkundungen. Flaubert durchquerte Ägypten im Schub der zeitgenössischen Bildungsreisen von 1849 bis 1851. Das Land, dem er so hoffnungsvoll entgegen gesehen hatte, schien zunächst nur Frustrationen bereitzuhalten. "Die ägyptischen Tempel", schrieb er seinem Freund Louis Bouilhet, "gehen mir furchtbar auf die Nerven. Wird das ebenso sein wie mit den Kirchen in der Bretagne, den Wasserfällen in den Pyrenäen? Immer diese Notwendigkeit!" Als Flaubert jedoch in Esneh, einer kleinen Stadt südlich von Luxor, auf die Tänzerin Ruschiuk Hânem traf, änderte sich die Lage. Es war ihr betörender Körper, der den Schriftsteller in Alarmbereitschaft versetzte. Mehr noch: Er infizierte Flaubert mit dem Wunsch, die Wirklichkeit ganz in Worten einzufangen, und diese Worte sollten der realen Schönheit ebenbürtig sein. "Der weibliche Körper", schreibt Hettche, "ist in der Moderne der privilegierte Ort, an dem Literatur mit den Bildern in die entscheidende Konkurrenz tritt."

Nicht das Porträt, sondern die Zergliederung war das Geschäft des frühneuzeitlichen Anatoms Andreas Vesal, dem in einem der längeren Kapitel des Bandes nachgespürt wird. Vesal, zunächst Professor der Medizin in Padua, später Leibarzt Karls V. und Philipps II. von Spanien, schuf mit seiner "Fabrica" ein mehr als sechshundert Seiten starkes Werk über den Aufbau des menschlichen Körpers. Seine detailgetreuen Illustrationen schufen Klarheit über viele unentdeckte Regionen im Innern des Leibes und setzten so für die zeitgenössische Anatomie neue Maßstäbe. Doch ihr Wert war nicht allein medizinischer Natur. "Vor der 'Fabrica' dienten Illustrationen in den medizinischen Werken weniger der Darstellung denn als Schmuck. Vesal nun kehrt das Verhältnis von Bild und Text um: Der Text erläutert bei ihm das, was auf dem Bild zu sehen ist, wie der Lehrende nun den Leib auf dem Tisch erläutert, statt den kanonischen Text zu illustrieren."

Hettches "Animationen" sind ein Kuriositätenkabinett. Ein Stück nach dem anderen wird aus der Vitrine geholt, gewendet und poliert. Der Besitzer stößt auf viele unentdeckte Facetten, und manchen Gegenständen gewinnt er unverhofften Glanz ab.

Titelbild

Thomas Hettche: Animationen.
DuMont Buchverlag, Köln 1999.
200 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 377014578X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch