Melville unplugged

Christian Brückner liest "Moby Dick"

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den Initiationsriten der kulturindustriellen Gesellschaft gehört die Verstümmelung. Noch bevor ihre Mitglieder im bloßen Vollzug ihrer Existenz ihre Fertigkeiten und Fähigkeiten auf die Erfordernisse der herrschenden Verhältnisse zurichten, erfahren sie in ihrer Jugend, wie der Apparat mit sperrigen Kunstwerken verfährt. Herman Melvilles Opus magnum "Moby Dick" ist seit Generationen auf das Abenteuer reduziert, wobei das geniale Werk von der Kulturindustrie als Vorlage für die Ausschlachtung als Jugendbuch, Abenteuerhörspiel, Spielfilm oder Zeichentrickserie herangezogen wurde. Durch die vom Apparat geprägte Vorstellungswelt geistert Ahab als Doppelgänger Gregory Pecks aus John Hustons missglückter Verfilmung aus dem Jahre 1956, der eher an einen neurotischen Cousin Horatio Hornblowers denn als an Melvilles Romanfigur erinnert.

Neben einer Reihe von Jugendhörspielen, die das komplexe Erzähl- und Sprachwerk - oft unter Titeln wie "Originale" oder "Bibliothek der Jugendklassiker" - auf eine Spielzeit zwischen 35 und 175 Minuten brachial herunterbrechen, kursieren auf dem Markt auch zwei dramatisierte Fassungen des Regisseurs Klaus Buhlert: Die erste, auf der Übersetzung Matthias Jendis' basierende Inszenierung aus dem Jahre 2002 umfasst eine Laufzeit von 540 Minuten und stellt den Versuch dar, neben der Abenteuergeschichte auch den von Melville verwendeten Stilmitteln wie Prosasequenzen, theatralischen Szenen, Mono- und Dialogen, wissenschaftlichen Digressionen, Predigt- und Bibeltexten Geltung zu verschaffen. "Das Projekt ist von der Idee getragen", heißt es im Booklet zur CD-Ausgabe, "jenseits einer normativen Dramaturgie, die sich nur um Wiedergabe einer ,Handlung' oder ,story' bemüht, eine komplexe und formenreiche Hörspielfassung zu entwickeln, die dem gigantischen, wirren und polyphonen Erzählwerk Melvilles näher kommt als die Moby-Dick-Adaptionen der Vergangenheit." Tatsächlich aber gelingt es der Inszenierung nicht, über die bloße Behauptung dieses Unterfangens hinauszukommen. Sie wirkt wie ein mit Meeresrauschen, Trillerpfeifen, Shanties, einer misslungenen Seemannsprache irgendwo zwischen aufgesetztem Yankee-Slang und norddeutschen Dialektanklängen aufgeblähtes Kostümstück aus der Illusionsmaschine. Ebenso gefällig wie die Übersetzung sind die Erzähler Ishmael (Rufus Beck) und Melville (Felix von Manteuffel), die die existentielle Monstrosität nicht überzeugend zu vermitteln vermögen. Das Stück ist über weite Strecken "phony". Einzig Manfred Zapatka als sich in Rage und Hass um den Verstand redender Ahab ragt aus der mittelmäßigen Gefälligkeit. Symptomatisch ist, dass Buhlert 2005 ein "Adventure Cut" dieses Hörspiels realisierte, der das Werk auf 75 Minuten zusammenpresste. Auf dem Cover dieses Stücks findet sich schließlich auch wieder Gregory Peck als popkulturelle Inkarnation Ahabs wieder.

Dem "gigantischen, wirren und polyphonen Erzählwerk Melvilles" wird dagegen Christian Brückners 30-stündige Lesung "Moby Dicks" in der eigensinnigen Übersetzung Friedhem Rathjens gerecht. Diese Koproduktion der Verlage Zweitausendeins und Parlando, die gänzlich ohne Effekthascherei auskommt, ist in seiner Gewaltigkeit und Besessenheit selbst ein "ahabeskes" Unterfangen und kann als Summe von Brückners bisherigen Hörwerken wie Joseph Conrads "Herz der Finsternis" (2000), Melvilles "Bartleby" (2003), "Annäherungen an Melville" (2005) oder "Beat" (2001) gelten, die zu einer fortwährend weitergeführten ekklektischen Anthologie der Moderne gehören. Nicht allein weiß Brückner mit der komplexen Syntax und den neuartigen Wortverbindungen und -deutungen, den Archaismen und der zuweilen pathetischen Rhetorik der Melville-Übersetzung Rathjens eindrucksvoll umzugehen; er vermag auch dem vielstimmigen Ensemble der sozial und kulturell differenzierten Figuren in der Landschaft New Englands und auf der Pequod markanten, einfühlsamen Ausdruck zu geben, sodass die zum Markenzeichen gewordene angeraute "Edelstimme" zu keinem Zeitpunkt penetrant wird und dem Hörer auf die Nerven fällt, wie es bei anderen professionellen, weniger talentierten Sprechern der Fall ist, die mit ihrer käuflichen Stimme sowohl Antistax-Pillen im Brustton der absoluten Überzeugung bewerben als auch wohlfeile Kulturkritikhäppchen im wochentäglichen TV-Feuilleton ans Publikum verhökern. Brückner gelingt es nicht allein, über dreißig Stunden die Spannung aufrecht zu erhalten, sondern auch Figuren wie Ishmael und Queequeg, Father Mapple und Elia, Peleg und Bildad, Starbuck, Stubbs, Flask, Tashtego, Dagoo, Pip und vor allem Ahab - diesem "fanatischen, zerrissenen Gottesoppositionellen" (Brückner) - eine grandiose Qualität zu verleihen, die sich in der Erinnerung festsetzt. Dieses auf vielfache Weise wundersame Hörwerk mit seiner allein durch das Instrument der Stimme erzeugten faszinierenden Klang- und Erzählstruktur ragt aus dem Wust der nichtigen und mittelmäßigen Hörbücher, die mittlerweile den Markt überschwemmen und die Regale in den Buchläden verkleistern, als einzigartiges Meisterwerk heraus.


Titelbild

Herman Melville: Moby-Dick. Hörspiel.
DHV - Der Hörverlag, München 2002.
540 Minuten, 49,95 EUR.
ISBN-10: 3899402545

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Titelbild

Herman Melville: Moby-Dick: Abenteuerhörspiel. Hörspiel.
DHV - Der Hörverlag, München 2005.
75 Minuten, 14,95 EUR.
ISBN-10: 3899406729

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Titelbild

Herman Melville: Moby-Dick oder: Der Wal. 2 MP3-CDs.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2006.
30 Stunden, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3861506661

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