Afroamerikanische Lyrik

Die historische Anthologie „Auch ich bin Amerika“ von Stephan Hermlin wurde wissenschaftlich ediert

Von Wilfried IhrigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wilfried Ihrig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die zweisprachige Anthologie Auch ich bin Amerika wurde 1948 im Verlag Volk und Welt in Ostberlin veröffentlicht, in der sowjetischen Zone ein Jahr vor Gründung der DDR. Ihr Herausgeber war Stephan Hermlin (1915 Chemnitz – 1997 Berlin), der als jüdischer Kommunist im Exil zuletzt in der Schweiz gelebt hatte, bevor er 1945 nach Deutschland zurückkehrte. Er lebte in Ostberlin und wurde dort einer der wichtigsten Schriftsteller der DDR, als Lyriker und Erzähler.

Mit dieser Anthologie begann die zweite Phase der Rezeption afroamerikanischer Lyrik in Deutschland. Die erste fand um 1930 statt, mit den Anthologien Afrika singt (1929) und Amerika singe auch ich (1932). Hermlin hat, wie die Herausgeberinnen belegen, vermutlich die Anthologie N**** Caravan (New York 1941) für seine Auswahl verwendet. Im Gegensatz zu den Herausgebern der früheren deutschsprachigen Anthologien war er Alleinübersetzer. Der Umfang seiner Anthologie war begrenzt, aber sie war eine Pionierleistung, zumindest für die deutsche Nachkriegszeit. Viele dieser Übertragungen, aber nicht alle, wurden in die Ausgabe Gedichte und Nachdichtungen (1990) übernommen. Jetzt ist die erste Neuausgabe der Anthologie erschienen, wissenschaftlich ediert mit Kommentar und Nachwort. Verändert wurde nur der Untertitel, Dichtungen amerikanischer N**** wurde ersetzt durch Lyrik schwarzer Dichterinnen und Dichter.

Die Anthologie versammelt politische Gedichte von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts; ein Anhang enthält wenige frühe Lieder, Spirituals und einen Blues. Dargestellt werden Motive aus der afroamerikanischen Geschichte, von unfreien Baumwollpflückern der Südstaaten bis zu ausgebeuteten Industriearbeitern in nördlichen Großstädten wie New York und Chicago. Die Unterdrückung der Afroamerikaner bildet das zentrale Thema, aber Hermlin hat auch gezielt Gedichte gewählt, die zur klassenkämpferischen Solidarisierung der afroamerikanischen und der weißen Proletarier aufrufen. Es war eine gewagte Anthologie, politisch jenseits der zeitgenössischen Begrenztheit, zukunftsweisend, viele Jahre bevor Schwarze Aktivist:innen wie Martin Luther King oder Lyriker wie LeRoi Jones wahrgenommen wurden und Einfluss nehmen konnten.

Die bekanntesten der versammelten Autoren sind wohl Langston Hughes und Richard Wright. Hughes ist mit den meisten Gedichten vertreten, natürlich auch mit dem berühmten I too sing America, dem der Titel des Buchs entnommen ist. Richard Wright, der als Erzähler bekannt wurde, wird mit einem frühen Gedicht vorgestellt, das bis in die Gegenwart eines der berühmtesten Gedichte der afroamerikanischen Befreiungsbewegung ist, mit I have seen black hands. Es ist eines der umfangreichsten Gedichte der Anthologie, mit freien Versen und freien Rhythmen in Langzeilen, jeder Satz eine Strophe, das Gedicht eines Erzählers, aber auf einer Ebene mit Walt Whitman und Allen Ginsberg, eine Art kollektive prophetische Biographie der Afroamerikaner von der Geburt bis zur Revolte. 

Hughes gilt noch immer als bedeutendster afroamerikanischer Lyriker. Er ist der einzige, von dem Hermlin nicht nur Gedichte aus der Anthologie N**** Caravan übertragen hat. Wright gilt als Vorläufer von Black Power. Aber nicht nur mit ihnen hat Hermlin eine überzeugende Auswahl bewiesen. Die Anthologie liest sich erstaunlich wenig veraltet. Der Grund ist vermutlich die Bevorzugung politischer Gedichte. Das Buch enthält keine Liebesgedichte, nur ein Gedicht auf eine afroamerikanische Frauenschönheit, die zu unterdrückt ist, um sich als solche zu erkennen, keine Naturgedichte, auch wenn Natur von der Antike bis zur Gegenwart erfasst wird, keine Gedichte, die durch historischen Abstand ins Kitschige geraten könnten. Gedichte von Hughes und Robert E. Hayden über Lynchjustiz werden gelegentlich durch Nachrichten über Polizeigewalt noch immer bestätigt. Die von Frank Marshall Davis in dem Gedicht Snapshots of the cotton south (Momentaufnahmen aus dem Baumwollsüden) als verlogen entlarvte Phrase ‚Jeder kann Präsident werden‘, ist mit Obama unerwartet zur Wahrheit geworden, aber vorerst ist er die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Außerdem weiß fast niemand, dass es diese propagandistische Phrase bereits gegeben hat, als ein Obama noch unmöglich war. Das Gedicht Let America be America again von Hughes liest sich wie ein vorweggenommener Gegenentwurf zum Wahlspruch Make America great again von Donald Trump.

Das Bildungsbürgertum hatte in den USA nie dieselbe Bedeutung wie in Europa. Die amerikanische Lyrik war deshalb, gleichgültig in welcher ethnischen Bevölkerungsgruppe sie verfasst wurde, außer wenn sie europäisch beeinflusst war, nie überambitioniert, gekünstelt, ästhetizistisch wie vieles in der europäischen Lyrik. Auch dies ist ein Grund, weshalb die Anthologie fast nicht antiquiert erscheint. Das Vorwort zur Erstausgabe vermerkt, Byron und Keats wären rezipiert worden, allerdings nur, um hervorzuheben, die afroamerikanische Lyrik dürfe Weltgeltung beanspruchen. Das ausführliche Nachwort von Heinrich Detering zur neuen Ausgabe erläutert diese Bezüge. Einzelne Texte verarbeiten Worte von Goethe und Shakespeare, einmal auch Begriffe der klassischen europäischen Musik, aber sie werden nicht epigonal oder bildungsbeflissen. Wenige Gedichte sind gereimt, fast alle in Klartext, meist in freien Formen.

Hermlin hatte erst im Exil angefangen, Gedichte zu schreiben, darunter politische Balladen in fast traditionell gereimter Form. Er war prädestiniert, die kleinen gereimten Gedichte der Anthologie zu übertragen, auch wenn er sich nicht immer streng an die Reimschemata gehalten hat, wie die großen Gedichte in freien Formen und die Gedichte in Klartext. Auch als Übersetzer folgt er dem politischen Charakter der Gedichtauswahl. Er übersetzt nicht interlinear, aber präzise, bekräftigt Desillusion und Protest, reduziert gelegentlich das christliche Pathos der frühen Gedichte, wird nie überambitioniert. Die Anthologie wirkt auch aus diesem Grund nicht antiquiert.

Auch ich bin Amerika ist eine Anthologie der Dichtung einer ethnisch definierten unterdrückten Bevölkerungsgruppe, wie Die Morgendämmerung der Worte, eine internationale Anthologie der Lyrik der Sinti und Roma, wie die vielen Anthologien jüdischer Dichter. Der jüdische Kommunist Hermlin hat, das Nachwort macht es deutlich, mit dieser Anthologie seine gleichzeitig rassistische und politische Unterdrückung durch den Nationalsozialismus verarbeitet. Mit der Übertragung afroamerikanischer Dichter, von denen einzelne, wie Hughes, sich als Kommunisten verstanden, hat er den Rassismus in den USA kritisiert und die Auseinandersetzung mit race als Klassenauseinandersetzung dargestellt. Das Buch war eine politische Solidaritätserklärung mit den Mitteln eines Lyrikers, die allerdings in dem in Zonen aufgeteilten Nachkriegsdeutschland wenig wahrgenommen wurde.

Die Afroamerikaner waren Begründer einer der wichtigsten musikalischen Traditionen für die USA wie die Roma für Europa, einer Veränderung der zahmen Musik der saturierten Weißen durch die freiheitliche Musik einer unterdrückten ethnischen Minderheit. Unter der Überschrift Folklore wurden einzelne frühe Lieder und Spirituals wie auch, als letzter Text, der berühmte Silicosis Blues in die Anthologie integriert. In den Anmerkungen wird Joshua White genannt, „aus dessen Repertoire“ der Blues gewählt wurde, aber der Text erscheint noch als anonyme Folklore. White durfte 1941 als erster afroamerikanischer Musiker in Washington vor einem amerikanischen Präsidenten auftreten – vielleicht der Grund, weshalb Hermlin gerade diesen Text an das Ende der Anthologie gesetzt hat.

Ausdrücklich als Texter von Silicosis Blues wird White vermutlich erst seit dem Plattenalbum The best of Josh White (1970) genannt, nachdem er das Lied zuerst 1936 unter dem Titel Silicosis is killin’ me und dem Pseudonym Pinewood Tom auf einer Singleplatte veröffentlicht hatte. Die Einordnung in der Anthologie schwankt noch zwischen Dichtung und Volksliteratur. Erst mit den Büchern „The poetry of blues“ (1960) des amerikanischen Musikwissenschaftlers Samuel Charters und „The meaning of the blues“ (1960) des englischen Blueskenners Paul Oliver wurde es üblich, die Texte des afroamerikanischen Blues als Dichtung zu würdigen. Joachim-Ernst Berendt und Janheinz Jahn haben mit wenig Erfolg versucht, diese Würdigung in Deutschland durchzusetzen. Auch ich bin Amerika endet mit einem frühen Ausblick in die Poesie des Blues.

Titelbild

Eva Tanita Kraaz / Kai Sina (Hg.): I Too Am America/Auch ich bin Amerika. Lyrik Schwarzer Dichterinnen und Dichter.
Zweisprachige Ausgabe. 1948 ausgewählt und übertragen von Stephan Hermlin. Mit einem Nachwort von Heinrich Detering.
Wallstein Verlag, Göttingen 2024.
176 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783835355682

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