Kein Ort draußen

Der von Eva Illouz herausgegebene Band „Wa(h)re Gefühle“ analysiert die Totalintegration der Individuen in die kapitalistische Kultur

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kürzlich attackierte der Journalist Til Raether im SZ-Magazin die allgegenwärtigen Vermarktungsprozesse. Seine Beispiele: Frühaufstehen wird in Miracle Morning umbenannt und mit Vorträgen, Handlungsanweisungen, einem Hashtag und einem Begleitbuch profitabel unters Volk gebracht. Oder: Mit kostspieligen Begleitseminaren werden uralte Meditationstechniken (entspiritualisiert) als Achtsamkeitstraining verkauft. Er kritisiert den Trend, „alles, was dem Menschen guttut, zu kommerzialisieren“: „Die letzten Bereiche, in die der Mensch sich im Spätkapitalismus zurückziehen kann, werden mit einem Warenzeichen versehen, vermarktet und ausgebeutet“.

Dieses Phänomen will Illouz‘ Sammelband Wa(h)re Gefühle genauer analysieren, erklären und entmächtigen. Die Forschungsfrage lautet: Wie kann menschliches Handeln gleichzeitig rationalisiert und emotional intensiviert werden? Immer zielgerichteter nämlich orientierten sich Menschen an Eigeninteressen und abstraktem Wissen, zugleich aber verfolgten sie immer bewusster emotionale Projekte und Ziele um ihrer selbst willen (z.B. Erlebnisreisen, innerer Frieden). Die Erklärung liegt in der kulturellen Transformation des Kapitalismus. Der industrielle Kapitalismus hatte mit der Trennung von Arbeit und Freizeit den Weg bereitet für die Steigerung von Intimität in der Familie und für ein auf Privatheit basierendes Modell des Selbst mit den Idealen emotionaler Authentizität und Selbstverwirklichung. Der gegenwärtige Kapitalismus – als kognitiver, ästhetischer, affektiver oder Konsumkapitalismus apostrophiert – wirkt zunehmend nicht-materialistisch: Er beansprucht die Aufmerksamkeit (nicht die Körperkraft) des Arbeiters, produziert vorrangig Wissen und Dienstleistungen, und vor allem verwandelt er Konsum in einen emotionalen Vorgang. Konsum wird zum Mittel der Identitätsbildung. Emotionen werden zu Waren. Individuen eignen sich die von Konzernen (z.B. der Vergnügungsindustrie, der Psychoindustrie) angebotenen Gefühlsschablonen an und nutzen sie – um sich emotional vom Alltag zu befreien, um persönliche Nähe herzustellen, um Selbstverbesserung zu erzielen. Sie werden zu aktiven Ko-Produzenten dieser Gefühlswaren, für die Illouz den Begriff ‚emodities‘ prägt (als Verbindung von emotions und commodities). Diese, so die zentrale These, „stellen einen der stärksten roten Fäden dar, um die Entwicklung des Kapitalismus seit der Mitte des 20. Jhdts zu erklären“. Empirische Einzelfallstudien illustrieren die Prozesse.

Der erste Teil behandelt ‚Die Befreiung des Selbst: Emotionale Erlebnisse und Stimmungen‘. Y.B. Alaluf analysiert, wie Gefühlserlebnisse, etwa Entspannung, in Club Med Urlaubsresorts von Kunden nachgefragt und erfolgreich produziert werden. Mittels ausgeklügelter Techniken (z.B. räumliche Abgrenzung, architektonische Gestaltung, Verschleierung ökonomischer Aspekte durch ein Ambiente der Klassenlosigkeit, Konzentration auf den Einzelnen) verwandeln die Clubs emotionale Stimmungen in authentische Urlaubserlebnisse – von der Vorwegnahme über ihre Gegenwart bis zu ihrer Erinnerung (Vorfreude, Glück, Nostalgie). O. Schwarz zeichnet nach, wie die moderne Musikindustrie mit dem Verkauf abgepackter Gefühlserlebnisse Gewinn aus der emotionalen Wirkungskraft der Musik zu ziehen vermag. Dank der Digitalisierung lassen sich persönliche Playlists erstellen, die eine ‚therapeutische‘ Verwendung von Musik ermöglichen: Sie wird konsumiert, um Gefühle zu steuern und das eigene Selbst emotional zu lenken. D. Gilon beschreibt, wie die Filmindustrie Gefühle konstruiert: Bei Testpersonen werden psychoneurologische Messwerte mit dem Ziel erhoben, gruppenspezifisch (z.B. für Kinder, für Jugendliche) bestimmte emotionale Erlebnisse (z. B. Horror) zu erzeugen. So wird der finanzielle Erfolg von Filmen gesichert, aber zugleich auch das kulturelle Repertoire der Gefühle erweitert. D. Kaplan schließlich untersucht die Wirkung der Verteilung von Sexwerbekarten in Tel Aviv. Die Präsentation der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Entspannungssexualität, so ihre These, schafft die emotionale Grundlage für die neoliberale Subjektivierung des unternehmungslustigen Selbst.

Im zweiten Teil geht es um ‚Das Ideal der Intimität: Beziehungsgefühle‘. Am Beispiel von Glückwunschkarten belegt E. West das Eindringen des Kommerzes in die Intimität. Die Karten funktionieren: Die aufgewendete Zeit und Mühe (Auswahl, Kauf, Versenden) werden sowohl vom Sender als auch vom Empfänger als Ausdruck genuiner Anteilnahme verstanden. Der Markt ist Teil des Gefühlsregimes: Er verschafft einer als riskant empfundenen Aktivität – dem Ausdruck von Gefühlen in Beziehungen – Anerkennung, Sicherheit und Berechtigung und verstärkt zugleich die Vorstellung, Gefühlsmitteilungen seien riskant.

Gegenstand des letzten Teils ist ‚Das Ideal der geistigen Gesundheit und der Selbstverbesserung: Emotionale Selbstüberwachung als Ware‘. Die menschliche Person und ihre Gefühle sind zum Geschäftsbereich einer Industrie geworden: Psychologische Beratung, Coaching und Psychopharmaka stellen Techniken sowie Mittel zur Gefühlssteuerung bereit. Zunehmend folgt die Konstruktion von Subjektivität und Beziehungen einer ökonomischen und konsumorientierten Logik (Effizienz, Eigeninteresse, persönliche Wahl und befristete Verträge, Selbststeuerung). Moralische Kategorien machen einem hedonistischen (emotionalen) Kalkül Platz. Glück gilt als emotionale Grundverfassung, die nicht durch ein tugendhaftes Leben, sondern durch Konsumrituale und Psychotechniken erreichbar scheint. Die Kosten analysiert E. Caharas in seinem Text ‚Psychobürger‘: Glück als verinnerlichte Lebensweise ist eine normative Erwartung, die in psychologischen Begriffen und Praktiken definiert ist – als Forderung nach emotionaler Rationalität, Authentizität, permanenter Selbstverbesserung. Wer diesen Anforderungen nicht genügen kann, ist selbst schuld. So halst die neoliberale Ideologie im fortgeschrittenen Kapitalismus dem (Psycho-) Bürger die Verantwortung für die inhärenten ökonomischen und politischen Widersprüche und Paradoxien auf.

Im Schlusskapitel diskutiert Illouz ihr zentrales Anliegen: Wie ist eine kritische Theorie des Kapitalismus heute noch möglich? Der Kapitalismus hat die Subjektivität des Verbrauchers geformt. So lässt sich die Lebenswelt nicht mehr zur Kritik heranziehen. Es gibt keinen Standpunkt außerhalb, kein normatives Apriori. Es bleibt allein ein immanenter Weg: Wir verstehen unsere Subjektivität als selbsterzeugt. Diese gefühlte Authentizität geht ihrer scheinbaren Spontaneität und Autonomie verlustig, wird die Kette der Ursachen nachgezeichnet, die uns zu den Subjekten gemacht haben, die wir geworden sind. Der kritische Effekt – so die Hoffnung – folgt aus der Erkenntnis, dass unsere Authentizität marktvermittelt ist.

Die vorgelegten Befunde und theoretischen Interpretationen sind faszinierend. Neu, so Honneth in seiner prägnanten Einleitung, sei nicht die Deutung der kapitalistischen Gesellschaft als geschlossenes System; neu sei die Erklärung durch die Wandlung unserer Gefühlskultur. Entscheidend allerdings sei, ob sich für „diese steile These […] genügend stichhaltige Beweise“ finden lassen. Einige Einwände seien kurz angedeutet.

Diskussionswürdig scheint zum einen die empirische Reichweite der Diagnosen. So fokussiert die Rede vom neuen ‚kognitiven’ oder ‚ästhetischen‘ Kapitalismus auf exemplarische, aber atypische Industriezweige. Außer Acht bleibt die zunehmende Konzentration von Kapital und Macht – eine vielleicht folgenschwerere Entwicklung. Des Weiteren vermag die Aufklärung über die kommerzielle Vermittlung von emotionalen Erfahrungen ihre kritische Kraft nur bei unreflektierten Konsumenten zu entfalten. Individuen können aber zu den Marktangeboten durchaus eine Haltung kritischer Distanz einnehmen und sie zu selbst gewählten Zwecken nutzen. Dies gilt für Urlauber, die bereitwillig für die vom Med Club angebotene Feriengestaltung zahlen. Aber auch Psychoprogramme dienen nicht allein der Zurichtung der Klienten auf eine neoliberale Wirtschaftsordnung. Ich-Kompetenzen sind auch erforderlich für moralisches Handeln, für Kritikfähigkeit und zivilgesellschaftliches Engagement.

Zum andern lassen sich auch konzeptionelle Entscheidungen hinterfragen. Die forschungsleitende Entgegensetzung von Rationalität und Emotionalität entspricht nicht neueren kognitivistischen Emotionstheorien. Danach gelten Emotionen als zwar rasche, gleichwohl kognitiv gehaltvolle Urteile über die subjektive Bedeutsamkeit von Sachverhalten. Dies ist evolutionsbiologisch fundiert: Schon im Tierreich entscheidet die Bedeutung eines anderen Tieres (als Feind, Beute, Partner) über die Auslösung basaler Emotionen (Furcht, Aggression, Begehren). Auch mag man die Gleichsetzung von Identität mit emotionaler Authentizität und deren Fundierung in Gefühlswaren bezweifeln. Die meisten Befragten – so der Befund eines repräsentativen Generationenvergleichs – glaubten dann eher ‚eine andere Person‘ zu sein, wenn sie andere moralische Überzeugungen hätten, als wenn sie andere Interessen, andere Freunde oder sehr viel Geld hätten. Konsum mag zur Inszenierung von Individualität oder Besonderheit genutzt werden. Das Problem der Sicherung von Kontinuität über den Lebenslauf und Konsistenz über soziale Kontexte hinweg ist allerdings besser durch (an Lernprozesse gekoppelte) Wertbindung als durch Konsum lösbar.

Nachfragen dieser Art zeigen: Illouz‘ originelle Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse öffnet den Blick für eine Vielfalt weiterer explorierender Forschungen. Ein solcher Erfolg wäre dem Buch sehr zu wünschen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Eva Illouz (Hg.): Wa(h)re Gefühle. Authentizität im Konsumkapitalismus.
Mit einem Vorwort von Axel Honneth.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Adrian.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
332 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518298084

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