„Es fehlen die großen Romane“

Die große Vermittlerin der lateinamerikanischen Literatur, Michi Strausfeld, über die Notwendigkeit, den Kontinent und seine Literatur neu zu entdecken

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Dr. Michi Strausfeld war von 1974-2008 für das Spanisch-Lateinamerikanische Programm bei Suhrkamp (ca. 350 Titel) tätig, von 2008-2015 bei S.Fischer. Sie ist Herausgeberin von 18 Materialienbänden, Anthologien und Sondernummern. Ihre neueste Publikation trägt den Titel Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren. Lateinamerika erzählt seine Geschichte  und erschien 2019 bei Fischer. 2009 bekam sie für ihre Tätigkeit als Kulturvermittlerin den Orden Isabel la Católica verliehen.  2012 wurde sie als eine der 50 wichtigsten kulturellen Persönlichkeiten Lateinamerikas gewürdigt. Michi Strausfeld schreibt regelmäßig für literaturkritik.de.

 

Wie schätzen Sie das Verhältnis der deutschen Leser zur lateinamerikanischen Literatur heute ein?

Das Interesse ist leider sehr geschwunden. Man klammert sich immer noch an einen Begriff wie „magischer Realismus“, den man natürlich kennt. Aber das hat man alles schon vor vierzig Jahren gelesen, und dass die Szene sich völlig erneuert hat und anders geworden ist, wird leider nur sehr verschwommen oder auch gar nicht wahrgenommen. Das ist meine Erfahrung und ich finde das sehr betrüblich.

Was hat sich denn in Deutschland gewandelt seit den Boom-Jahren? Nicht nur auf der Leserseite, sondern auch auf der Seite der Verlage?

Von Verlagsseite ist es so, dass sich heutzutage die Mainstreamverlage kaum noch für lateinamerikanische Literatur engagieren. Vielleicht ab und zu mal ein bisschen, wenn ein Schwerpunkt Argentinien oder ein Schwerpunkt Brasilien kommt, – man braucht einen äußeren Anlass. Und dadurch, dass die Medien so wenig über Lateinamerika berichten, ist das Interesse an dem Kontinent insgesamt geschwunden. Also machen die Verlage weniger, die Verkaufszahlen sind bescheiden, um nicht zu sagen schlecht, und das ist nicht unbedingt ein Anreiz.

Wenn ich jetzt das Augenmerk auf die Produzenten, die Autoren richten würde, dann würde ich sagen, es fehlen die großen Romane, also das, was man gerne liest bzw. was die Verlage gerne haben, so dreihundert bis vierhundert Seiten. Ein Großteil der Bücher, die jetzt aus Lateinamerika kommen, sind schmaler geworden. Das ist unübersehbar. Und das macht einen Platz im Programm schwieriger, das macht die Vermarktung schwieriger. Als wollten die Leser sich nicht auf so schmale Bücher einlassen – das ist ja auch das Problem, was wir von der Kurzgeschichte her kennen: Wenn da ein Werk von Valeria Luiselli kommt, Das Archiv der verlorenen Kinder, das umfangreicher und darüber hinaus großartig ist, dann reagieren die Medien besser. Aber solche Bücher findet man jetzt nicht so häufig in Lateinamerika, da ist das Angebot bescheidener geworden. Das ist mein Eindruck.

Das heißt, das deutsche Publikum will eben den klassischen Roman haben, der, wie Sie schon sagten, so um die dreihundert Seiten lang ist, und weniger das experimentellere Novellenformat. Gleichzeitig – darüber habe ich auch mit Linus Guggenberger, dem Wagenbach-Lektor, gesprochen – fällt eben vieles, was im Romanformat kommt, gerade auch aus Mexiko, in diese Crime/Thriller-Kategorie, was eben auch ein Problem sein könnte, wenn man ernsthaftere Literatur vermitteln will. Sehen Sie das auch so?

Es ist natürlich so, dass der Vormarsch der Kriminalliteratur überall gigantisch ist. Da haben sich die Lateinamerikaner relativ spät eingeklinkt. Der erste ist Leonardo Padura in Kuba mit seinen Havanna-Romanen. Sie haben alle den idealen Umfang und wirklich großen Erfolg, auch bei uns. Die Argentinierin Claudia Piñeiro, die auch etwas dickere Romane schreibt, in denen der Mord eigentlich nur ein Vorwand ist, um andere Themen zu verarbeiten, hat auch viel Erfolg. Genau wie wir im Fernsehen mit Krimis überfüttert werden, ist auch die Krimiliteratur in deutschen Verlagen omnipräsent. Sie kommt aus allen Ländern und ein bisschen davon jetzt auch aus Lateinamerika, beispielsweise Mercedes Rosende aus Uruguay. Das sind einige wenige, die auf diesen Zug aufspringen. Ich war nie eine große Krimi-Leserin, aber die Bücher, die mir die Gesellschaft erläutern und tatsächlich etwas über sie aussagen, wie damals Batya Gur in Israel, mag ich und lese ich gerne. Aber das klassische Krimipublikum ist natürlich ein anderes und die Lateinamerikaner stehen noch ein bisschen dazwischen. Sie nutzen den Krimi, um ihre Anliegen loszuwerden, meinem Eindruck nach.

Was ja erst einmal nichts Schlechtes ist.

Stimmt! Und das funktioniert natürlich auch in Mexiko, man denke nur an die Omnipräsenz der Droge und der Frauenmorde und so weiter. Da ist es klar, dass die Mexikaner darüber schreiben. Der letzte Roman von Antonio Ortuño, Die Verschwundenen, ist auch wieder etwas umfangreicher und hat ein sehr starkes Thema. Diese Bücher haben es etwas leichter, weil sie mehr Seiten haben.

Aber was ich in den letzten Jahren so spannend in der Literatur aus Lateinamerika von jungen Autoren finde, das sind natürlich diese cronistas, die eine Mischung von gewissenhafter journalistischer Recherche und literarisch anspruchsvoller Kurzgeschichte vorlegen und die beste Auskunft darüber geben, was in Lateinamerika passiert. Und das hat es hier natürlich ganz besonders schwer, das wird kaum veröffentlicht. Es gibt einen Band, Strange Fruit von Leila Guerriero, es gibt ein oder zwei Anthologien, ein Buch von Alma Guillermoprieto, aber es sind sehr, sehr wenige. Für diese Autoren und diese Texte wünsche ich mir mehr Aufmerksamkeit von den Verlegern und dann natürlich von den Lesern. Aber wenn die Verlage so etwas produzieren und es total am Markt vorbeigeht, machen sie es eben nur einmal und das war es dann.

Wie würden Sie denn Ihre Rolle als Mittlerin beschreiben in diesem ganzen Konglomerat an Markt- und Leserinteressen und dem gleichzeitigen Willen, wichtige, anspruchsvolle Literatur zu vermitteln?

Ich bin ja nicht mehr aktiv. Ich rezensiere für Sie ein paar Bücher, weil ich finde, dass es in den großen Medien so wenig Aufmerksamkeit für lateinamerikanische Literatur gibt, dass jede Rezension wichtig ist. Und ich vermittle ein paar Autoren an das Literaturfestival in Berlin. Letztes Jahr hatten wir einen kleinen Lateinamerika-Schwerpunkt, der auch ganz schön funktioniert hat, wodurch man wieder etwas Aufmerksamkeit auf diesen Kontinent gelenkt hat. Aber insgesamt brauchen wir einfach mehr mediale Präsenz für diesen Kontinent. Lateinamerika ist immer mit Negativschlagworten besetzt. Berichtet wird dann, wenn es soziale Katastrophen gibt wie beispielsweise in Venezuela oder jetzt die Zahlen der Coronainfektionen in Brasilien. Für das breitere Publikum gibt es keine regelmäßige Berichterstattung in den Medien und das macht eben auch die Vermittlung von Literatur so schwer.

Junge Autoren jetzt durchzusetzen ist wirklich eine Herausforderung. Ich bewundere und schätze die Verlage, die das weiterhin machen. Das sind Wagenbach, Berenberg, Kunstmann, Schöffling, dann noch der Unionsverlag aus der Schweiz, alles mittelgroße oder kleinere Verlage, während Mainstream-Verlage sich da nur bescheiden beteiligen. Suhrkamp macht jetzt ein Buch von Alejandro Zambra. In meiner Zeit konnten wir fast zehn Bücher pro Jahr aus Lateinamerika vorlegen. Jetzt sind es nur noch einige wenige. Alles ist schwierig geworden.

Was würden Sie denn sagen, wie die Wahrnehmung von Lateinamerika in Deutschland früher war?

Die war sehr stark! Nach der Revolution ’79 in Nicaragua ging gefühlt die ganze deutsche Bevölkerung mit Rucksack los und half bei der Ernte. Da gab es eine riesige Solidarität. Und in den 80er Jahren war es so, dass Deutschland endlich den Anschluss an die Rezeption der lateinamerikanischen Literatur, der „Giganten“, nennen wir sie mal so, gefunden hat. Wir hatten 1982 das Horizonte-Festival, das fantastisch war. Dann gab es mehrere Friedensbuchpreisträger aus Lateinamerika, Octavio Paz, Mario Vargas Llosa, Ernesto Cardenal. Also lenkten immer wieder große Ereignisse den Blick auf Lateinamerika, wie auch die Buchmessen mit den Schwerpunkten Mexiko und Brasilien (auch Spanien und Portugal waren hilfreich). Die politische Berichterstattung war einfach drei- oder viermal so groß wie jetzt.

Viele Korrespondenten sind in der Zwischenzeit abgezogen worden, Mexiko wird im Fernsehen zum Beispiel teilweise von Washington aus behandelt  Das ist aberwitzig. Insofern steht die mangelnde Aufmerksamkeit der Medien heute in einem totalen Kontrast zu der Aufmerksamkeit, die Lateinamerika in den 80er Jahren erhielt. Das ist wirklich ein gewaltiger Unterschied. Ich wohnte zwar damals in Spanien, habe das natürlich aber trotzdem miterlebt über Suhrkamp, wo wir, wie gesagt, jedes Jahr etwa zehn Bücher publizieren konnten. Darunter gab es die Giganten, die alle mit der entsprechenden Verspätung und alle in mehr oder weniger überschaubaren Zeiträumen erschienen, die meisten in den 80er Jahren.

Die Leser waren fasziniert, und mehrere Titel kamen auf die Bestsellerlisten. Isabel Allende feierte mit jedem Roman neue Triumphe. García Márquez erhielt den Nobelpreis. Es war einfach eine gute Situation, goldene Jahre. In den 90er Jahren kam das demokratische Spanien dazu, hat ein bisschen etwas von der Aufmerksamkeit für Spanisch-Lateinamerika weggenommen, aber beide Bereiche lebten doch ganz gut beieinander. Und Octavio Paz erhielt den Nobelpreis. Meiner Wahrnehmung nach ging es ab etwa 2000 in die andere Richtung, das Interesse schrumpfte.

Was seltsam ist, weil man denken könnte, dass durch Bolaño noch einmal eine Welle entstand.

Ja, Roberto Bolaño war ein Liebling der Presse, er hat wirklich großartige Besprechungen bekommen. Fast alle nach seinem Tod, vorher waren es deutlich weniger. Aber dann waren die Verkaufszahlen doch nicht so gigantisch. Aber immerhin ist Bolaño eine Instanz geworden, völlig klar. Nur ist er leider tot und wir brauchen lebende Autoren. Im Literaturbetrieb braucht man immer eine Lokomotive, an die sich andere Autoren als Waggons dranhängen können. Ein Highlight war noch einmal der Nobelpreis für Mario Vargas Llosa 2010. Oder der Messeschwerpunkt Argentinien 2010: Die Lokomotive wäre Tomás Eloy Martínez gewesen, er sollte ja auch die Eröffnungsrede halten, starb aber acht Monate vorher. Und die vielen anderen Autoren – es sind ja etwa 70 Bücher erschienen, die meisten schmal, darunter einige Meisterwerke, sodass ein Buch das andere quasi totgedrängt hat – konnten sich nicht wirklich durchsetzen.

Bei Brasilien, 2013, erschienen auch etwa 70 Bücher, und leider gab es wieder keinen Leithammel. Schmale Bücher haben es einfach schwer. Zum Beispiel schätze ich Selva  Almada aus Argentinien sehr, die eine wunderbar poetische Sprache hat, um nur eine der jüngeren Autorinnen zu nennen. Ebenso die vielen Autorinnen, die sich jetzt überall zu Wort melden und unter denen es ganz spannende Stimmen gibt, sogar aus Ecuador und aus Bolivien, über die man immer gesagt hat, aus diesen Ländern käme nie etwas. Es gibt viele Namen, darunter erstaunlich viele Frauen, die durchaus übersetzt werden könnten, aber alles ist schwierig geworden. Weil es eben nur wenige Verlage sind, die das Wagnis eingehen, trotz kleiner Verkäufe, und weil die Rezeption insgesamt so bescheiden geworden ist.

Sehen Sie denn irgendwelche Namen, die zu diesen ‚Leithammeln‘ werden könnten in der Gegenwartsliteratur, wenn sie denn vernünftig vermittelt würden?

Nun ja, sagen wir es mal so: Den einen oder die eine Leithammel/in sehe ich nicht ganz klar am Horizont. Was ich bemerkt habe, ist die etwas bessere Aufmerksamkeit für umfangreichere Bücher– wie das von Valeria Luiselli. Ich hoffe, dass die Verkäufe auch ordentlich sind und dass es zu einem guten Taschenbuch-Vertrag kommt, denn das brauchen diese Verlage, um die Pionier-Arbeit weiter zu leisten. Desgleichen erschien Antonio Ortuño, damals Gast des DAAD. Er hatte viele Lesungen, ist dennoch nicht wirklich durchgedrungen. Soeben wurde – im Lockdown der Pandemie! –  das Buch von Lina Meruane, Heimkehr ins Unbekannte, ein Essay mit wichtigen Überlegungen, publiziert. Aber ihr zweiter Roman wird vermutlich nicht mehr erscheinen, weil es beim Arche Verlag einen Wechsel gab, wo Rot vor Augen herausgekommen war. Dann bleiben neue Bücher und ihre Autoren oft auf der Strecke. Ich finde, dass man gerade Lina Meruane, eine wirklich brillante, hochintellektuelle Autorin, unbedingt hätte weitermachen müssen.

Es gibt noch den erfolgreichen Autor Juan Gabriel Vásquez aus Kolumbien, den Schöffling seit Jahren publiziert. Der Verlag leistet sehr solide Arbeit und hält dem Autor die Treue – heute eine Seltenheit. Das letzte Buch hätte in meinen Augen ein bisschen gekürzt werden können, aber das machen die spanischen Verlage eben nicht. Deshalb ist es vielleicht in Deutschland, wo die Kritik strenger ist, nicht wirklich durchgedrungen. Aber mit anderen Büchern hat der Autor viel Erfolg gehabt und sie kamen auch ins Taschenbuch. Was bei diesen mittelgroßem Verlagen immer ganz wichtig ist: Sie brauchen das Geld des Taschenbuchverkaufs zur Refinanzierung, damit sie neue Autoren entdecken können und um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen.

Claudia Piñeiro verkauft richtig gut und ihre sogenannten Krimis – ich habe einen Großteil davon gelesen, weil ich die Autorin auch einmal vorgestellt habe – sind prima. Das letzte Buch, Der Privatsekretär, ist eine bitterböse Analyse von den politischen Zuständen in Argentinien – ausgezeichnet!

Oder auch der bereits erwähnte Kubaner, Leonardo Padura, er hat auch ein großes Publikum. In Nikaragua publiziert Sergio Ramírez die Zustände in seinem Land in Krimiform. Irgendwo findet man immer etwas. Und es melden sich kontinuierlich interessante neue Namen. Da kann man nur hoffen, dass die Verlage dranbleiben und einen etwas längeren Atem haben. Auch jetzt, da Corona noch zusätzlich alles erschwert. Das ist keine leichte Szene im Augenblick.

Nachdem die Frühjahrsprogramme 2020 in dieser Richtung schon recht enttäuschend waren, versprechen auch die Herbstprogramme nicht viel…

Nein. Also wie gesagt, das Panorama ist einfach sehr dünn geworden und Suhrkamp hat die Rolle, die es 30 Jahre lang gespielt hat, aufgegeben. Das ist ein Verlust, aber auch dem schwindenden Leserinteresse geschuldet. Rowohlt macht das eine oder das andere, Hanser auch, Fischer hat etwas mehr gemacht. Das ist insgesamt schade, weil wirklich viele spannende Titel auf dem Kontinent publiziert werden. Wir sollten uns unbedingt mehr dafür interessieren, was in Lateinamerika passiert. Was ich mit meinem Buch, Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren. Lateinamerika erzählt seine Geschichte zeigen will, ist die Notwendigkeit, einen Dialog auf Augenhöhe zu führen.

Die Deutschen wissen einfach zu wenig über die Geschichte und Kultur des Kontinents. Und die lateinamerikanische Literatur hat die eigene Geschichte seit der „Entdeckung“ 1492 großartig aufgearbeitet. Natürlich versuche ich auch ein bisschen polemisch zu argumentieren: Wollen die Europäer, nachdem sie Afrika an China verloren haben, jetzt auch noch Lateinamerika an China verlieren? Wenn man so etwas schreibt, dann gibt es sogar etwas Platz in den Zeitungen. Aber das ist doch die Situation: Wir verlieren Lateinamerika an die Evangelikalen, an die Chinesen, an die multinationalen Konzerne… und Europa tut viel zu wenig, quasi nichts.