Historischer Roman einmal anders?

Die Weiterentwicklung einer Roman-Untergattung in der Gegenwart

Von Julia StetterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Stetter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Historische Roman ist keine Neuheit unserer Zeit. Schon im 19. Jahrhundert erreichte er eine größere Leserschaft. Oft wird er mit dem schottischen Schriftsteller Walter Scott in Verbindung gebracht. Dennoch ist es gerade unserer Gegenwart, in der sich wiederum eine Blütephase des Historischen Romans abzeichnet. Zahlreich sind aktuelle Publikationen, die romanhaftes Geschehen in einen historischen Kontext setzen. Diesem Umstand widmet sich der Sammelband Romanhaftes Erzählen von Geschichte, der von Daniel Fulda und Stephan Jaeger herausgegeben wurde.

Fragen, die sich angesichts des momentanen Aufschwungs geschichtlicher Themen in Romanen stellen, sind: „In welchem Maße dienen die Traditionen des historischen Romans […] noch heute als Modelle? In welcher Weise werden solche Traditionen gebrochen, umgestaltet, kommentiert […]? Bildet die Jahrtausendwende eine […] Schwelle, an der sich das Erzählen von Geschichte grundlegend verändert hat?“ Neu sei in der Gegenwart beispielsweise die Gattung der autobiografisch fundierten Generationserzählung, ebenso wie eine Ausgangslage, in der Geschichtswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler an Geltung verlören, während populäre Darstellungen an Bedeutung gewännen. Gleichzeitig bestehe ein verstärktes Bedürfnis nach Orientierung und der Wunsch, Vergangenes selbst zu erfahren, fiktive Zeitreisen sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Ferner komme es zu Hybridisierungen in Bezug auf Gattungen sowie zu Vermischungen von Fiktionalität und Faktualität.

Neben einer 53-seitigen Einführung in das Thema des Romanhaften Erzählens von Geschichte beinhaltet der Sammelband 18 Beiträge, darunter viele von Professorinnen und Professoren. Die Beiträgerinnen und Beiträger stammen aus acht verschiedenen Ländern, die sich mehrheitlich mit deutschsprachigen Werken beschäftigen. Aufgeteilt ist der Band in die vier Sektionen a) Leitbegriffe und -aspekte, b) romanhaftes Geschichtserzählen vom 20. Jahrhundert, c) alternative und hybride Romangattungen und d) Zeitreisen und populäres Geschichtserzählen. Einige thematische Hauptstränge sind überdies die Relation zwischen gender und historischem Erzählen sowie der postkoloniale Roman. Daneben werden die historischen Stationen Erster Weltkrieg, Holocaust und DDR-Zeit chronologisch vorgestellt. Insgesamt ist der Band aber sehr vielfältig und enthält weitere Aspekte.

Dem Verhältnis von Weiblichkeit und romanhaftem Erzählen von Geschichte widmen sich sowohl Daniel Fulda als auch Gaby Pailer. Fulda verweist auf den Umstand, dass sich bei vielen der heutigen Romane mit geschichtlichem Bezug unkritische Projektionen gegenwärtigen Empfindens in die Vergangenheit hinein feststellen lassen. Beliebt sei beispielsweise die Darstellung emanzipierter Frauen, die in den historischen Romanwelten einen Gegenpart zu dominanten gewaltbereiten Männern bilden. Pailer deutet in diesem Kontext auf „ein female empowerment der Protagonistinnen“ und auf „female agency“ hin. Insbesondere in ihrer Vorstellung von Viola Roggenkamps Die Frau im Turm (2009) sowie Sabine Weigands Die Markgräfin (2005) stellt sie ein solches Schema fest. Insgesamt werde bei Roggenkamp und Weigand den Frauen „eine ‚moderne‘ Mentalität […], den männlichen Widersachern dagegen eine eher ‚atavistische‘ Mentalität“ zugeschrieben.

Fulda jedoch sieht in seinem Beitrag eine oberflächlich geschichtliche Einkleidung von Romanen, in denen modernes Empfinden beibehalten wird, eher skeptisch. Ein wirklicher Annäherungsversuch an die Vergangenheit fehle dann oft, wenngleich solche Romane vor allem bei der weiblichen Leserschaft beliebt seien. Während die Bereiche Politik und Geschichte lange Zeit als genuin männliche Interessensgebiete galten, etabliere sich gegenwärtig verstärkt der feminine Geschichtsroman. Darin werden Fehler der von Männern geführten Geschichte aus weiblichem Blickwinkel dargestellt. Eine ambitioniertere Variante findet Fulda in Angela Steideles Briefroman Rosenstengel (2015). In der Doppelbiografie geht es um Sexualgeschichte im frühen 18. und späten 19. Jahrhundert. Durch offensichtliche Anachronismen werde mit einer naiven Darstellungsweise von Geschichte gebrochen, etwa durch einen Strumpfwirker mit dem Namen Gilles de Leuze im frühen 18. Jahrhundert. Fulda bemerkt in Steideles Roman einerseits „eine starke Orientierung auf Geschichte“, andererseits aber auch ein „großes Vergnügen am literarischen Spiel und dessen Nutzung für metahistoriographische Reflexionen“.

Dem postkolonial-historischen Roman widmen sich Herbert Uerlings und Elena Agazzi. Ähnlich wie Fulda thematisiert auch Uerlings Brüche von Projektionen eigener Wünsche in die Vergangenheit hinein. In Populärmedien hingegen komme es zu naiven Repräsentationen, etwa in Momella – Eine Farm in Afrika. Obwohl das Thema Afrika im Fernsehen boome, ist aber nicht jede Produktion eine kritische. In literarischen Texten wird dieser Problematik teilweise Rechnung getragen. Ein Fortschreiben kolonialer Erzählweisen in postkolonialen Zeiten soll derart verhindert werden. Konkret stellt Uerlings für Christof Hamanns Usambara (2007) fest, dass der Roman den gegenwärtigen Afrika-Aufschwung in den Medien parodiere. Indem der (unzuverlässige) Erzähler Fritz Binder in Usambara keine Kritik am Kolonialismus übe und indem zu „Mitteln der ironischen Zuspitzung“ gegriffen werde, versuche der Roman, gegenwärtiges „reenactment“ kolonialer Vergangenheit prüfend zu beleuchten. Dennoch hält es Uerlings für „fraglich, ob diese Brechungen ausreichen“. Bedenklich sei etwa, dass den Kolonialisierten im Roman nur sehr rudimentär eine Stimme eingeräumt wird.

Elena Agazzi kontrastiert hinsichtlich postkolonialer Romane zwei verschiedene Arten des Erzählens. Zum einen findet sie in Marc Buhls Das Paradies des August Engelhardt (2011) einen Stil, der Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts verpflichtet bleibe. Zum anderen geht sie auf postmoderne Formen in Christian Krachts Imperium (2012) ein. Beide Romane beziehen sich auf die gleiche historische Konstellation, das heißt auf die Person August Engelhardt und die deutschen Kolonialgebiete in Neuguinea (1884–1914). Im Wesentlichen geht es inhaltlich um Engelhardts an Fanatismus grenzendes Bemühen, ein naturnahes Leben zu führen. Agazzi zeigt durch ihren Vergleich von Buhls und Krachts Literarisierungen, dass bei Kracht durch seinen postmodernen Ansatz ein weiterer Horizont als bei Buhl gezeichnet wird. Kracht, der noch freier als Buhl mit historischen Fakten umgeht, gelinge es, den Engelhardt-Fall in einen größeren Kontext von Imperialismus und Nationalsozialismus einzubetten. Buhl dagegen begrenze sich aufgrund seines traditionellen Schreibverfahrens auf die Darstellung einer „nebensächlichen, […] kuriosen Episode in der deutschen Kolonialgeschichte“. Insgesamt stellt Agazzi die Vorzüge Krachts beziehungsweise einer postmodernen Ausprägungsform des Historischen Romans heraus.

Neben vertiefenden Analysen einzelner Werke bietet der Sammelband auch stärker an einem Gesamtüberblick orientierte Beiträge. So thematisiert Stephan Jaeger in seinem Aufsatz die generelle Schwierigkeit der romanhaften Darstellung des Ersten Weltkriegs, insbesondere was den deutschsprachigen Raum betrifft. Jaeger zeigt zunächst auf, dass in Frankreich im Vergleich zu Deutschland mehr diesbezügliche Veröffentlichungen erfolgen. In Deutschland stehe der Erste Weltkrieg im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Dennoch verweist Jaeger auf Hans von Trothas Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen (2013) und Christoph Poschenrieders Der Spiegelkasten (2011). Da beide Bücher jedoch „mehr die Psychose der Gegenwart“ ausdrücken, kämen sie „dem Ersten Weltkrieg historisch und in seiner anthropologisch-emotionalen Bedeutung nicht näher“. Als alternative Anbahnungen betrachtet Jaeger das dem Thema gewidmete Sonderheft der Zeitschrift die horen von 2014, die Inszenierung der Sonderausstellung Der gefühlte Krieg vom 27.06.2014 bis 30.08.2015 im Museum europäischer Kulturen in Berlin-Dahlem sowie die achtteilige Dokumentarfilmserie 14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs. Im Anschluss daran bespricht Helmut P. E. Galle Holocaustliteratur in deutscher Sprache seit 1990. In Anlehnung an Aleida Assmann stellt Galle ab 1990 eine Zäsur in der Darstellungsweise des Holocausts fest. Da die Anzahl lebender Augenzeugen abnimmt, fingen individuelle Erinnerungen an, vom kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis zu wechseln. Zu unterscheiden sei laut Galle daher zwischen primärer und sekundärer Zeugenschaft.

Der Sammelband Romanhaftes Erzählen von Geschichte ist sehr reichhaltig sowohl hinsichtlich der Anzahl der von ihm behandelten Unterthemen als auch der Gründlichkeit seiner Erörterungen. Darüber hinaus liefert er nicht nur Einblick in Gegenwartsliteratur mit Geschichtsbezug, sondern auch generell in Tendenzen des momentanen Zeitgeists. Mit seinen Fallstudien und systematisierenden Überblicken bietet er vielfach Möglichkeiten zum Weiterdenken und -forschen.

Titelbild

Daniel Fulda / Stephan Jaeger (Hg.): Romanhaftes Erzählen von Geschichte. Vergegenwärtigte Vergangenheiten im beginnenden 21. Jahrhundert.
In Zusammenarbeit mit Elena Agazzi.
De Gruyter, Berlin 2019.
502 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110540567

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