Dumm? Gedankenlos? Verblendet? Falsch gedacht? Zu kurz gedacht? Unterkomplex? Moralisch falsch?
Die forensische Psychiaterin Heidi Kastner hat einen anregenden Essay über „Dummheit“ geschrieben
Von Kai Sammet
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWer, so nimmt Heidi Kastner, forensische Psychiaterin aus Österreich, eine Überlegung Robert Musils von 1937 zu Anfang ihres Essays über Dummheit auf, über Dummheit schreibe, sei in einer speziellen Not – Musil: „jeder, der über Dummheit“ spreche, setze damit ja voraus, „dass er nicht dumm sei; und also“ trage er zur Schau, „dass er sich für klug halte“. Und könnte dann also, sich über andere zu erheben, dumm sein? Vielleicht, aber Dummheit ist Dummheit und Selbstüberschätzung Selbstüberschätzung. Und mit intellektueller Arroganz muss man nicht immer falsch liegen. Aber man macht sich halt auch angreifbar: Spricht man von der Dummheit (anderer natürlich), muss man aufpassen, nicht bei was Dummem ertappt zu werden.
Genau in derselben Not bin ich nun. Äußere ich etwas zu Kastners Essay außer haltlosem Lob, dann sieht das so aus, als wäre ich klüger als sie: Frau Lehrerin! Ich weiß es besser. Ich weiß es nicht besser, ich sehe manches anders und will mich damit natürlich als klug erweisen. Man kommt aus der Nummer nicht raus, wie man’s dreht und wendet.
Kastner beansprucht nicht, umfassend zu sein, sie beschreibe lückenhaft einige Phänomene, nicht zuletzt seien auch „Wertungen“ dabei. Leider weist sie da aber nicht darauf hin, dass ein Dummheitsverdikt oft nur dazu dient, moralische Entrüstung zu rationalisieren, ins Intellektuelle zu wenden: Wie kann einer nur so dumm sein, und……! Jedenfalls, so Kastner, sei Dummheit nicht ausrottbar, es bleibe nur „Resignation“.
Dass Dummheit nicht ausrottbar ist, das mag so sein. Aber folgt aus Dummheit (oder ist hier nur eine womöglich groteske Fehleinschätzung gemeint und gar nicht Dummheit?) nicht manchmal mancherlei Positives? Das aktuellste Beispiel (so zynisch das auch angesichts von Kriegsverbrechen klingen mag): Putins Glaube, er werde die Ukraine in wenigen Tagen überrennen, könnte man als dumm bezeichnen. So quälend, vernichtend, zerstörerisch und verstörend dieser Krieg ist (und sein und bleiben wird): könnte diese ‚Dummheit‘ jenseits unendlichen Leids nicht Folgen haben, die im Moment nicht absehbar sind, aber doch nicht nur Anlass zur Resignation liefern? Und: war, was Putin tat, ‚dumm‘? Bezogen auf seine Ziele: womöglich ja. Aber hat er hier nicht einfach falsch gedacht? Und ist eine falsche Einschätzung komplexer Situationen dumm? War Putin in seiner von vielen Kommentatoren angenommenen Isolation nicht einfach ‚verblendet‘, wühlte sich in Paranoia und Fehleinschätzungen hinein, dachte – einmal zynisch-strategisch gesagt – zu kurz? Ich weiß es nicht. Und niemand kann es im Moment wissen und spätere InterpretatorInnen werden sich sicher auch nicht einig werden.
Kastner setzt Dummheit Intelligenz entgegen. Sie skizziert kurz die Geschichte der Intelligenztests – nachvollziehbar, da in der forensischen Psychiatrie (nicht in der Psychiatrie allgemein) Intelligenztests bei Begutachtungen eine Rolle spielen. Alfred Binet entwickelte um 1900 erste massenhaft einsetzbare Tests zur Sortierung französischer Schulkinder: Volksschule oder ‚Hilfsschule‘? Wie auch bei der Definition der Intelligenz durch den ‚Erfinder‘ des IQ William Stern ging es dabei um so etwas wie Problemlöseverhalten. Sterns Beschreibung aus dem Jahr 1912: Intelligenz sei die „allgemeine Fähigkeit eines Individuums, sein Denken bewusst auf neue Forderungen einzustellen, sie ist allgemeine geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgabe und Bedingungen des Lebens“. Aber ist das nicht eher Klugheit? Wäre also Dummheit nicht etwa mehr Klugheit als Intelligenz entgegengesetzt? Nebenbei: angesichts dieser Definition wäre ich jedenfalls in vielen Belangen recht dumm (keine Koketterie).
Mir scheint, dass Kastner Dummheit an höheren moralischen Zwecken misst. Beispiel Kastners: „Fraglos“ könne man auch das
Entleeren von Altöl in irgendeinen Abwasserkanal als wirkungsvoll ansehen, es kann für mich sogar zweckvoll sein, indem ich mich einer unbrauchbaren Substanz entledige, es kann mir vernünftig erscheinen, weil es mir weitere Wege oder gar Kosten spart, aber würden wir das als intelligente Handlung bezeichnen wollen?
Warum nicht? Das mag egozentrisch sein, klug für das Individuum kann es allemal sein – könnte nicht manchmal klug sein, was mir nützt? Hier wird Dummheit arg moralisiert mit mindestens zwei unhinterfragten Unterstellungen: wenn wir das alle so machten, dann könnten wir unser Grundwasser vergessen (stimmt, aber es machen nicht alle so). Und: was richtig ist, definiert der- oder diejenige, der/die andere der Dummheit zeiht. Hm. Das wird dann aber schnell Rechthaberei, oder?
Viele der Personen, die Kastner als Gerichtspsychiaterin begutachtete, waren zwar in ihrer Intelligenz eingeschränkt, doch bei keiner „war die Intelligenz das zentrale Problem, meist waren ganz banale, alltägliche Beweggründe wie Gier, Wichtigtuerei oder die Unwilligkeit, Grenzen zu akzeptieren, ausschlaggebend dafür, dass sie mit dem Gericht in Kontakt kamen“. Offensichtlich waren diese Individuen also gar nicht kognitiv (so) dumm, sondern begingen gesetzeswidrige (d.h. dumme?) Handlungen, weil sie von Gefühlen getrieben wurden, die ein brauchbares Zweck-Mittel-Räsonnement torpedierten.
In diesem Zusammenhang skizziert Kastner auch die allseits bekannte (und berüchtigte) Theorie der Psychologie der Massen von Gustave LeBon. LeBon zufolge sei der „intrinsische Wert einer Idee“ belanglos „für ihre Verbreitung und ihren Erfolg“, sie müsse ins Unbewusste eindringen, dort in ein Gefühl transformiert werden, die Massen (das sind natürlich die anderen, nicht Nachdenkenden) seien „hinsichtlich der Ideen „stets mehrere Generationen hinter der Wissenschaft und der Philosophie zurück““, altkluger Von-oben-Herab-Kommentar Kastners: „Dumm gelaufen, wenn sich die anstehenden Probleme in dieser Zeit verselbständigen und unumkehrbare Verhältnisse schaffen.“
Einige Fragen hierzu: (1) Wer definiert, was die „anstehenden Probleme“ (für wen) sind? (2) Auch das Lösen von Problemen schafft unter Umständen „unumkehrbare Verhältnisse“ – oder vielleicht ist beides gar nicht recht absehbar und das „unumkehrbar“ ist vielleicht etwas zu einfach gedacht? (3) Und egal, wie wir die „anstehenden Probleme“ angehen: die Neben- und weiteren Folgen sind doch gar nicht absehbar. Wann also sind wir dumm?
Kastners Essay wurde in der Hochphase der Corona-Pandemie geschrieben. Klar, dass insbesondere die Impfmuffel und Querdenker dumm sind. Diese verwechselten das „Recht auf eine eigene Meinung mit dem Recht auf eigene Fakten“. Das ist sicher so. Aber ist es wirklich ganz so einfach? Wie lassen sich in ihrer Reichweite und ihren Konsequenzen schwer einschätzbare Studien interpretieren? Soll man sich ein viertes Mal impfen lassen? Ist die Null-Covid-Strategie Chinas gescheitert? Vielleicht unter Omikron. Und wenn es Omikron nicht gegeben hätte? Und hätte es zu lockdowns nicht (bessere? klügere? weniger kurzgedachte?) Alternativen gegeben? Abwasserscreening auf Viruspartikel zum Beispiel, das vielleicht eine frühere Entdeckung von Ausbrüchen, mithin zielgenauere Einschränkungen ermöglicht hätte? Ich weiß es nicht, mir fehlt die Expertise, ich kann es kaum beurteilen. Außerdem ist man hinterher oft schlauer, aber manchmal auch nicht. Die Corona-Pandemie und die damit zusammenhängenden wissenschaftlichen Fragen sind im Fluss – was heute als gesichert angesehen wird, könnte morgen anders gesehen werden. Impfskepsis gab es schon immer (aus verschiedenen Gründen, sicher auch nicht immer aus in unserem Sinn ‚vernunftgesteuerten‘ Gründen, die aber auch ihrer Logik folgten) und dass man hartgesottenen Impfverweigerern auch nicht mit „dem besseren Argument“ beikommen kann – ja klar. Aber nicht jeder, der wie auch immer durch seine Ängste und Gefühle gesteuert ist, ist dumm.
Aber wieder ist für Kastner alles klar, wenn von Querdenkern die „Freiheit“ ins Feld geführt wird:
Die fundamentale Dummheit besteht allerdings in der Verweigerung eines Lebens in begrenzter, geordneter Freiheit, das als Grundkonzept aller demokratischen Gesellschaftsstrukturen verstanden werden muss. Unbegrenzte Freiheit wäre erstmal Anarchie und dann schnell ziemlich viel Unfreiheit für ziemlich viele, all diejenigen nämlich, die nicht über ausreichend physisches Durchsetzungsvermögen verfügen, um den freien Handlungen anderer ihre eigenen Freiheitsvorstellungen entgegenzusetzen.
Das bloße Dagegensein erinnere „weit mehr an die inhaltsleere, aus Prinzip trotzige Verweigerung eines Vierjährigen mit entsprechendem Intelligenzalter“. Das finde ich unterkomplex, wenn nicht gar simplistisch. (1) Einfach „begrenzte“ Freiheit „unbegrenzter“ entgegenzusetzen, gibt es diese Dichotomie? Bei Freiheitseinschränkungen schaut das Bundesverfassungsgericht zumindest idealiter auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, es wird bei zwei konfligierenden Gütern – hier Freiheit, da körperliche Unversehrtheit – abwägt, weil richtig und falsch, und so auch dumm/intelligent nicht funktionieren wie schwarz und weiß. (2) Ob „unbegrenzte Freiheit“, was immer das heißen mag, Anarchie wäre und An-Archie gleichbedeutend mit Gesetzlosigkeit und dem Recht des Stärkeren: das ist doch etwas klischeehafter Hobbesianismus. (3) Ist es grundsätzlich bloß infantil, erst einmal misstrauisch gegenüber staatlichen Maßnahmen zu sein? Staaten haben im letzten und in diesem Jahrhundert allerlei Dummheiten begangen. Da darf schon mal, wenn auch manchmal dumm oder verblendet oder begriffsstutzig oder (allzu) bockbeinig nachgefragt werden.
Nein, das artet hier manchmal doch zu sehr in Rechthaberei aus. Vor allem bezogen auf den Klimawandel weiß Kastner, dass die „globale Dummheit […] anscheinend noch schneller“ zunehme als die „globale Erwärmung.“ – Und sie weiß: „Die gravierendsten Folgen der Dummheit zeigen sich also in komplexen Problemlagen, die nur durch gemeinsame Anstrengung bewältigt werden können und das gesamtgesellschaftliche Gefüge betreffen“ – schon, aber nicht, wenn nur eine Bescheid weiß und alle anderen dumm sind, die nicht ihrer (rationalen) Meinung sind, denn ist es nicht das Kennzeichen komplexer Problemlagen, dass man halt oft erstmal nicht weiter weiß, sich am Kopf kratzt und sich nicht nur dumm vorkommt, sondern auch, was adäquate Lösungen anbelangt, auch dumm ist?
Zum Schluss nimmt Kastner Bezug auf ein Buch des Wirtschaftshistorikers Carlo Cipolla über die Dummheit. Cipolla hat einige interessante Behauptungen parat. Unter anderem werde die Zahl der dummen Individuen unterschätzt (sicher? Ich unterschätze oft die Intelligenz anderer Leute – bin ich dumm oder bloß arrogant?), ein Dummer sei einer, der anderen Schaden zufügt und dabei nichts gewinne (das klingt oke), eine dumme Person sei die „gefährlichste Art Person“, schlimmer als ein Verbrecher. Sicher? Dummheit lässt sich vielleicht manchmal erkennen, das abgrundtief Böse auch?
Damit soll mein fragmentarischer Streifzug durch Heidi Kastners anregende, aber doch hinterfragbare Überlegungen zur Dummheit beendet sein.
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