Liebenswerte Psychiatrie-Patienten und ihr beherzter Pfleger
Der Wiener Autor Ernst Kaufmann berichtet in 20 Erzählungen anschaulich und mitfühlend „Vom Rand der Vernunft“
Von Rainer Rönsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseErnst Kaufmann widmet sein Buch den in psychiatrische Anstalten abgeschobenen liebenswerten Menschen. Die Hoffnung, der literarische Rang der Texte möge dem ethischen Niveau der Widmung entsprechen, erfüllt sich gleich in der ersten Erzählung. Patienten werden einfühlsam, aber ohne Schönfärberei vorgestellt. Da macht ein Mann rüde Bemerkungen, und eine Frau hat eine schrille Stimme – das soll es auch außerhalb von Krankenhäusern geben. „Die erste Nacht“ heißt der Text, denn es ist „die erste Nacht in Toms Traumjob“. Nach Tom, dem neuen Krankenpfleger in einem psychiatrischen Krankenhaus in Wien, rufen „vier Gestalten im Nachtgewand“, darunter ein Riese mit Schaufelhänden und Kinderstimme, weil sich jemand in der Besenkammer eingeschlossen hat und keinen Ton von sich gibt. „Aufg’hängt“ hat er sich, der Anton, der doch kurz vor der Entlassung stand, und Tom sieht erstmals einen Toten. Auf den dramatischen Todesfall reagieren die Überlebenden banal: Ein alkoholabhängiger Arzt drängt Tom billigen Brandy in Mengen auf, und der „Primar“ (entspricht dem deutschen Chefarzt) spendiert ihm zwei zwölfjährige Whiskeys. Als Tom das Krankenhaus verlässt, hält man ihn „für einen alkoholkranken Patienten auf Morgenspaziergang“.
Der Krankenpfleger Tom kommt in allen 20 Erzählungen vor, doch als „Hauptperson“ würde man ihn – und würde er sich selbst – nicht bezeichnen. Die Helden dieses rundum gelungenen, anschaulichen und einfallsreichen Buchs sind die oft stillen und manchmal lauten Menschen am Rande der Vernunft. Wenn Tom sie gelegentlich als „schräge Vögel“ betrachtet, dann ist das von Respektlosigkeit so weit entfernt wie von Rührseligkeit.
Ernst Kaufmann, in Wien geboren und dort lebend, ist ein erfahrener Autor, bekannt durch seinen instinktsicheren Salzburger Chefinspektor Martin Ruprecht. Neben Krimis und Erzählungen hat er auch Sachbücher über Geheimnisse aus der Klosterküche veröffentlicht. Im vorliegenden Erzählungsband gelingt ihm immer wieder der wohltuende Wechsel zwischen dramatischen Vorfällen und kleineren Vorkommnissen, die Unbeteiligten nicht auffallen würden. Die Sprache ist melodisch und verrenkungsfrei.
Faustdicke Überraschungen hält der Autor bereit. So würde man die Erzählung „Zwischen den Stockwerken“ über einen steckengebliebenen Aufzug, der dank der erstaunlichen Muskelkraft von Alex wieder in Bewegung kommt, womöglich rasch vergessen, wäre da nicht der geduldige und gegenüber den aufgeregten Eingesperrten den richtigen Ton findende Dr. Griesinger. Dem Autor auf die Schliche kommt, wer die Namensgleichheit mit einem Begründer der modernen Psychiatrie erkennt.
Ernst Kaufmanns Können als Kriminalautor blitzt auf, wenn er in der Erzählung „Schach“ das Motiv für den Kauf von neun Grabstellen durch eine Patientin erst kunstvoll verdeckt und dann mitfühlend enthüllt.
Toms lebensgefährlicher Versuch, trotz „Höhenangst“ (so der Titel der Erzählung) einen Patienten davon abzuhalten, von einem hohen Kran in den Tod zu springen, endet mit einer gewaltigen Überraschung.
Auf dem Friedhof spielt die Erzählung „Pompe funèbre“, in der die Aufforderung, alte Probleme zu begraben, von einigen Insassen des Krankenhauses wörtlich genommen wird. Die skeptische Frage, wie wahrscheinlich dergleichen ist, weicht rasch dem Mitgefühl mit denen, die ihre Krankheiten nicht begraben können.
Auch außerhalb psychiatrischer Einrichtungen kennt man die Versuchung, unerfüllte Träume als Realität auszugeben. Tom freut sich mit einem Patienten, der in der Erzählung „San Francisco“ nach tagelanger Abwesenheit strahlend von seiner angeblichen Reise in jene amerikanische Stadt erzählt, obwohl er doch nur bei einem Bekannten unweit von Wien war.
Tom ist nicht nur im Krankenhaus für seine Schützlinge da, sondern begleitet sie auch hilfreich außer Haus. Das wird lustig, aber nicht peinlich beim „Shopping mit Tante Rosa“, die trotz ihrer Betagtheit in einer durchsichtigen Chiffonbluse mit nur Haut darunter aus der Umkleidekabine heraustritt. Diese bescheidene und bodenständige Patientin verfügt über erstaunlichen Grundbesitz und vererbt Tom in „Verlassenschaft“ ein schönes altes Winzerhaus. Tom tritt das Erbe nach einigem Zögern an, zieht aufs Land und bekommt eine Stelle im nahen Landesklinikum. Das führt zum ergreifenden „Abschied“ (Erzählungstitel) vom Krankenhaus, bei dem Alex sogar seine heißgeliebte Cola an Tom abgeben würde, wenn der nur bliebe. „In solchen Momenten wusste Tom, warum es das Schönste wahr, diesen Beruf gewählt zu haben.“
Wir Leserinnen und Leser wissen auch aus den Erzählungen, die hier nicht erwähnt werden, wie gut es ist, dass Tom diesen Beruf gewählt und dass Ernst Kaufmann über ihn und seine Pflegebefohlenen geschrieben hat.
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