Im Reparatur-Café des Lebens
Toshikazu Kawaguchi verhilft mit „Bevor sich unsere Wege trennen“ Menschen zu einer magischen Wiedergutmachung
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBevor der Kaffee kalt wird (besprochen in literaturkritik.de 06/23) war Toshikazu Kawaguchis erster Band mit einem geheimnisvollen Café als Schauplatz. Dort besteht die Möglichkeit – für einen kurzen Moment, solange die Tasse Kaffee vor dem Gast noch nicht ganz abgekühlt ist – in die Vergangenheit zurückzukehren. Die Zeitreise wird unter Nutzung eines magischen Stuhls vollzogen, und die Beweggründe für den Reisewunsch sind generell mit Gefühlen der Reue verbunden.
Schuld und Schulung
Auch in den vier aktuellen Episoden von Bevor sich unsere Wege trennen (jap. Sayonara mo ienai uchi ni, 2021), „Der Ehemann“, „Das Lebewohl“, „Der Antrag“ sowie „Die Tochter“, schildert der japanische Autor Momente zwischenmenschlicher Versäumnisse: Der von der Archäologie faszinierte Wissenschaftler Kadokura aus der ersten Geschichte hat sich um seine Frau Mieko kaum gekümmert – als sie ins Koma fällt, spürt er starkes Bedauern, ihr nie gesagt zu haben, wie glücklich er mit ihr war; Sunao quälen Schuldgefühle, ihrem Hund Apollo in seiner letzten Stunde nicht besser beigestanden zu haben; Hikari leidet darunter, dass sie sich nicht zu ihrem Freund Yoji bekannt hat, bevor dieser plötzlich starb; die letzte Episode handelt von einer Tochter, die „ihren Vater von sich stieß“: Michiko stammt aus der Stadt Natori in der Präfektur Miyagi. Sie studiert in Tôkyô, auch deshalb, weil sie die Gegenwart ihres Vaters Kengo, der sie seit dem frühen Tod der Mutter überfürsorglich und zugleich mit väterlicher Strenge erzieht, nicht ertragen kann. Bei seinem Besuch in der Hauptstadt verhält sie sich abweisend und nimmt nicht einmal seine kleinen Geschenke an. Als er bei der Dreifachkatastrophe von Fukushima ums Leben kommt, kann sie sich ihr Verhalten nicht verzeihen. Ihr will nichts mehr gelingen, bevor sie sich für alles entschuldigen konnte. In Michikos Fall gelingt die Wiedergutmachung, indem sie während des magischen Moments im Café ihrem Erzeuger endlich bekennen kann, es wertzuschätzen, seine Tochter zu sein. Der Vater kehrt zufrieden in die Ewigkeit zurück.
Durch die Zeitreise bzw. die Möglichkeit, den Zeitstrom zu manipulieren, erhalten die Kunden des Cafés in einer transdimensionalen psychotherapeutischen Sitzung die Chance, die Dinge so zu regeln, dass sie ihre verpassten Gelegenheiten nachholen können. Mit der erfolgreichen Bereinigung einer belastenden Situation werden sie nun auch bei zwischenmenschlichen Interaktionen in der Zukunft selbstbewusster und positiver handeln.
Schema und Sentimentalität
Bevor sich unsere Wege trennen funktioniert ganz nach dem bewährten Schema von Bevor der Kaffee kalt wird. Eine zusätzliche Note bringt das Thema der Lokalität ein, d.h. das Café wird als Ort der magischen Heilung näher betrachtet. Wie es sich herausstellt, haben die auftretenden Figuren meist schon eine längere Beziehung zu dem rätselhaften Schauplatz im Souterrain. Kadokura, der Archäologe aus Episode eins, unterzieht sich, getrieben von wissenschaftlicher Neugier, sogar einem Selbstversuch, wenn er über die Mechanismen des unerklärlichen Geschehens nachdenkt und eben am eigenen Leib erprobt, welche Auswirkungen die Verfluchung durch den Geist auf den menschlichen Körper hat. Während auch die Beziehung der Geisterfrau zum Personal des Cafés, insbesondere zur Kellnerin Kazu Tokita, näher beleuchtet wird, verlaufen die vier Ausflüge in ein übernatürliches Raum- und Zeitgefüge ähnlich wie im Vorgängerband.
Der Autor beschreibt in den jeweiligen Episoden stets zwischenmenschliche Probleme, die unter Familienmitgliedern oder Liebespaaren entstanden sind. Das Thema Heirat rückt dabei nicht selten in den Vordergrund: Kadokura und seine Frau zeigen sich mit ihrer – japanischen Gepflogenheiten gemäß arrangierten – Ehe durchaus zufrieden. Um Heiratspläne geht es in der dritten und in der vierten Geschichte, wobei sich im Fall drei als Lösung des Konflikts eine Geisterhochzeit ergibt, im Fall vier die zuvor von Michiko abgelehnte Ehe mit Freund Yusuke nach der Versöhnung mit dem Vater stattfinden kann. Selbst die Erzählung, in der der Hund Apollo aus Altersschwäche stirbt, bestimmt die eheliche Thematik, handelt sie doch davon, wie das kinderlose Paar via Hund als Kindersatz sein Zusammenleben gestaltet.
Kawaguchis (leider nicht aus der Originalsprache übersetztes) in der Reihe „Knaur.Leben“ erschienenes Buch ist gewiss keine Avantgardeliteratur, die dem Zeitgeschehen Rechnung trägt. Der Schriftsteller vertritt konservative Werte und spricht sich für die Eheschließung als wichtigstes Ziel der Menschen aus. Eine Familie und vor allem Kinder scheinen ihm die Grundlage für ein geglücktes Leben. Die Eltern-Kind-Beziehung erweist sich sowohl als ein Muss wie auch als höchste Erfüllung – nicht ohne Absicht bildet die Geschichte von der Wiederbegegnung des Kindes mit dem gestorbenen Elternteil den Höhepunkt einer dramatisch angelegten Steigerung in den beiden Bänden. Wie viele andere Beispiele aktueller japanischer Unterhaltungsliteratur kommt Toshikazu Kawaguchis Kaffeehaus-Serie dem Trend zum Ratgeber entgegen. Er scheut sich dabei nicht, mit seinem magischen Café eine gehörige Portion Sentimentalität aufzutischen. Indem der Verfasser literarischer Seelsorge auf den Effekt der Rührung setzt, entspricht er offensichtlich den Erwartungen des Buchmarkts, nebenbei aber auch der japanischen Regierungspropaganda der letzten Jahre, die die Japaner und Japanerinnen angesichts einer auf niedrigem Niveau stagnierenden Fertilitätsrate zu mehr Einsatz für die Familie auffordert.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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