Die säkularisierte Epiphanie

Kevin Kempkes Untersuchungen zu den Frankfurter Poetikvorlesungen als neues Genre

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der überarbeiteten Fassung seiner gleichnamigen Dissertation von 2019, die jetzt als Publikation im Göttinger Wallstein Verlag vorliegt, bezieht sich Kevin Kempke einleitend auf ein Diktum des italienischen Germanisten Matteo Galli, der bereits im Jahr 2014 in einem Aufsatz in der Zeitschrift Merkur diagnostiziert hatte, dass „wir uns im Zeitalter der Poetikvorlesungen“ befinden. Diese Erscheinung spiele im zeitgenössischen Literaturbetrieb nicht nur für Autorinnen und Autoren – Kempke verwendet übrigens durchgängig das neue Genderformat mit Sternchen – eine zunehmend wichtige Rolle. In einer Vielzahl von Formaten und auf unterschiedlichsten medialen Kanälen, z. B. als Buchpublikation, als Videomitschnitt, als Ergänzung des jeweiligen literarischen Werks, treten Autorinnen und Autoren als Interpreten ihrer selbst auf und stoßen damit auch auf ein wachsendes Interesse des Lesepublikums, des Wissenschaftsbetriebs und der Verlagslandschaft.

Poetikvorlesungen sind damit, das legt der Untertitel von Kempkes Studie bereits nahe, nicht nur zu einer erfolgreichen, weil gut zu vermarktenden festen Institution auf dem Literatursektor geworden, sondern stellen auch ein charakteristisches eigenständiges Format innerhalb der Gegenwartsliteratur selbst dar.

Was der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette (1930–2018) schon in seinem für die Literaturwissenschaften so folgenreichen Werk Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches (1987, dt. Campus 1989) in einem der letzten Kapitel nur knapp als „öffentlichen Epitext“ (im Gegensatz zu „privaten“ Epitexten in Briefen, Tagebüchern und mündlichen Mitteilungen) gekennzeichnet hatte, sei jedoch – so Kempke – derzeit noch ein Desiderat der Forschung geblieben. Sein Befund: Zu dieser seit 1959 in der deutschsprachigen Literatur maßgeblichen und gleichermaßen zur Institution erhobenen Stimme – den Beginn markierte die in Aussage und Habitus prototypische Poetikdozentur Ingeborg Bachmanns an der Universität Frankfurt – gebe es nur wenig Forschungsliteratur und „noch weniger systematisch argumentierende Beiträge“. Der Blick in den bibliografischen Anhang offenbart allerdings, dass Kempke nicht weniger als 500 Titel (darunter viele Aufsätze und selbstständige Publikationen) aufführt und wohl auch ausgewertet hat, die einen weiterführenden Einstieg in die Thematik gestatten.

Auch das Textkorpus, also alle gedruckt oder auch als auswertbare Videomitschnitte vorliegenden Vorlesungen von Autorinnen und Autoren, zeugt von dem Forschungsehrgeiz Kempkes, der das Institut der Poetikvorlesung als Produkt einer spezifischen Konstellation von poetologischem und (hochschul)politischem Diskurs der Nachkriegszeit begreift, da sich bereits seit den allerersten Poetikvorlesungen „viele der zentralen Form- und Diskussionsstränge“ herausgebildet hätten, die für die weitere Gattungsgeschichte bis heute charakteristisch sind: das Format der Poetikvorlesung selbst, seine medienreflexive Thematisierung von Autorschaft, die Situierung im Spannungsfeld von Literatur und Philologie sowie die Funktion der Gattung bei der Imageerzeugung, nicht zuletzt die Funktionsweise von „literarischer Markenbildung im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdzuschreibungen“. Jedem dieser Aspekte widmet Kempke ein eigenes Kapitel.

Auf dem Feld zwischen Hörsaal und Buchmarkt, mit der vorerwähnten Ingeborg Bachmann als Ausgangspunkt, aber auch an weiteren Beispielen wie Uwe Johnsons spektakulärer Auseinandersetzung mit seiner literarischen Rolle im geteilten Deutschland, Christa Wolfs grenzüberschreitender Schilderung ihres Arbeitsprozesses an der Kassandra-Erzählung, Rainald Goetz’ „gescheitertem und gerade deshalb produktiven“ Versuch, die Entstehung von Literatur live vorzuführen bis hin zu Christian Krachts „Umdeutung des eigenen Werks vor dem Hintergrund des sexuellen Missbrauchs“, entfaltet Kempke das Erfolgsmodell des neuen Literatursektors, das „seitens der beteiligten Würdenträger immer wieder stolz hervorgezeigt werden kann“.

Außer den erwähnten exemplarischen Analysen hat Kempke nicht weniger als 79 Vorlesungsreihen, gehalten allein in Frankfurt vom Wintersemester 1959/1960 bis zum Sommersemester 2018, berücksichtigt. Kempke wirft darüber hinaus auch einen Blick auf die Konzentration der Publikationen dieser Vorlesungen in insgesamt 67 Buchveröffentlichungen in 14 Verlagen, davon allein und nicht zufällig 35 Titeln im Frankfurter Suhrkamp Verlag. Hinzu kommen die – wie der Autor einräumt – außerdem zu berücksichtigenden Analysen der durchaus „schwierig zu rekonstruierenden“ Einflussnahme der Verlage auf die Einladungspraxis sowie ein vergleichender Blick auf die Vergabe von Literaturpreisen. Weiterhin widmet sich der Autor in einem eigenen Abschnitt dem Georg-Büchner-Preis als dem wichtigsten deutschen Literaturpreis.

Schon in einem orientierenden Zwischenfazit konstatiert Kempke, dass Poetikvorlesungen zum „betrieblichen und verlegerischen Standardfall“ der Literaturlandschaft geworden sind und ein in mehrfacher Hinsicht etabliertes und ausdifferenziertes Format aufweisen können. Einladung, das Event der Vorlesung selbst sowie die sich anschließende Publikation bilden ein Konglomerat, das für Autorinnen und Autoren nicht mehr „nur als lediglich einmalige Chance“ verstanden werden muss, dem eigentlichen literarischen Werk eine resümierende poetologisch-reflektierende Position publikumswirksam an die Seite zu stellen. 

In den sich anschließenden, vertiefenden Kapiteln wendet sich Kempke dann den publizierten Texten von Konrad Bayer bis Juli Zeh zu, den jeweiligen „Hauptwerken“ zum paratextuellen „Beiwerk“. Auch und gerade mit dessen Berücksichtigung kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass Poetikvorlesungen zu einer Bühne im doppelten Sinn geworden sind, „für die Autor*infigur selbst, aber auch für die poetologische Selbstbeobachtung, in der sehr häufig in Form von Schreibszenen die eigene Arbeit und ihre Begleitumstände“ reflektiert werden. Das Sprechen über das eigene Werk, das direkte Zitat daraus und die zumal bei Erfolgsautorinnen und -autoren immer mitzubedenkende stillschweigende Voraussetzung der allgemeinen Kenntnis desselben sind performative und argumentative Bestandteile dieser epitextuellen Literatur, die damit in einem mehr oder weniger engen Verbund mit dem eigentlichen Werk (der Lyrik, den Stücken, dem Prosawerk) gesehen wird.

Dieser Verbund wird auch an den zunehmend erfolgreicher werdenden Vermarktungsstrategien der großen Verlagshäuser erkennbar, die den Autorinnen und Autoren zu einer zusätzlichen Popularität verhelfen. Christa Wolfs Buch Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter Poetik-Vorlesungen, 1983 erschienen bei Luchterhand, hat es immerhin bis auf den Schulbuchmarkt geschafft und der Autorin in der jeweils nachwachsenden Lesegeneration zu einigem zusätzlichen Bekanntheitsgrad verschafft, wobei der Stern Ingeborg Bachmanns inzwischen etwas zu verblassen drohte.

Kevin Kempke hat mit seinem Buch eine beachtenswerte Publikation vorgelegt, die nicht nur der einschlägigen Literaturwissenschaft, sondern auch einem breiteren Leserkreis empfohlen werden kann.

Titelbild

Kevin Kempke: Vorlesungsszenen der Gegenwartsliteratur. Die Frankfurter Poetikvorlesungen als Gattung und Institution.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
484 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835339460

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