Im Zwischenreich

Georg Kleins neuer Roman „Bruder aller Bilder“ führt den Leser auf eine Reise, deren Ziel er nicht preisgibt

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein prägender Einschnitt im Leben eines Menschen ist der Tod eines Elternteils. Der Verlust eines Menschen, der von Anfang an Teil des eigenen Lebens war, wird auf ganz besondere Weise erfahren. Es können nun keine liebsamen oder unliebsamen Erinnerungen mehr geteilt werden, denn der geliebte oder ungeliebte Gesprächspartner ist für immer verstummt. Zugleich geht mit dem Tod der Eltern auch das Bewusstsein für das eigene Altern einher. Nun gehört man selbst zur Generation, die als nächste das Zeitliche segnen wird. Bevor sich die erwachsenen Kinder aber solchen Gedanken hingeben können, gilt es erst einmal eine Zwischenzeit zu überbrücken, in der die Wohnung aufgelöst und der Nachlass danach sortiert werden muss, was im eigenen Leben einen Platz finden wird und wovon man sich lieber trennen möchte. Je mehr Aufgaben bewältigt sind, umso mehr Raum nimmt das Gefühl des Verlustes ein. Erst langsam entwickelt sich auf diese Art und Weise ein Bewusstsein für die neue Lebensphase, in der man sich nun befindet.

Die Protagonistin von Georg Kleins neuem Roman Bruder aller Bilder steht am Ende dieser Schwellenphase. Monique Gottlieb ist als Halbwaise alleine mit ihrer Mutter aufgewachsen. Die Beziehung der beiden war nicht einfach, war die altkluge Monique doch so anders als andere Kinder und konnte sich weder für Spielzeug noch für ein Haustier oder gar ihre Klassenkameraden begeistern. Vom unerwarteten Tod der Mutter erfährt man nur, dass sie einige Tage im Krankenhaus war. Lediglich im Apartment der Protagonistin stapeln sich die Kartons, die darauf warten, dass sie ausgeräumt werden und damit der Erinnerung an die Mutter ein Platz im Leben der Tochter eingeräumt wird.

Da Monique sich gerade an einer zweiten wichtigen lebensgeschichtlichen Schwelle befindet – sie hat erstmals einen Jahresvertrag bei der Allgemeinen Zeitung unterschrieben und ist somit ihrem Traum, als Journalistin zu arbeiten, einen Schritt näher gekommen –, fällt es ihr leicht, die familiengeschichtliche Neuorientierung zu verdrängen. Den ungeliebten französischen Namen hat sie zugunsten des kurzen Moni schon lange abgestreift und der Erzähler nennt sie mit ihrem Redaktionskürzel nur MoGo.

Der Roman beginnt damit, dass MoGo von ihrem Kollegen, dem Sportreporter Addi Schmuck, für eine Reportage angefordert wird. Fünf Tage soll sie nun dem erfahrenen Journalisten assistieren. Welchen Auftrag die beiden verfolgen, weiß sie nicht. Nach einem Ausflug mit Addi Schmucks orangenem Mustang in ein Fußballstation, das unter einer enormen Taubenplage leidet, sodass der Greenkeeper der Verzweiflung nahe ist, fährt Addi mit ihr zu seinem geheimnisvollen Freund, den er ihr als „den Auskenner“ vorstellt. „Der Auskenner“ lebt auf einem verwilderten Grundstück mit vielen Bäumen, unter denen sich vor allem drei alte Ulmen besonders auszeichnen. Die Unterkunft „des Auskenners“ ist ein aus unterschiedlichen Materialien zusammengezimmertes Gebäude, das nur als „die Halle“ bezeichnet wird. Der Tod ist auch hier zugegen, scheint doch die Ulme an der Landstraße motorisierte Gefährte magisch anzuziehen. Zwischen den Zeilen deutet sich an, dass auch Monis Vater, der Bäckermeister im Altstadtbackstübchen, hier seinen Tod gefunden haben könnte.

Die folgenden Tage verbringt das seltsame Trio mehr oder weniger gemeinsam. Die beiden älteren Herren unterhalten sich in einem Kauderwelsch aus Deutsch und Englisch oder reden auf die junge Journalistin ein. In direkter Rede präsentierte Erinnerungen der Mutter lassen den Leser vermuten, dass die mal belehrende, mal besorgte Stimme der Mutter durch das Duo der beiden Vaterfiguren hervorragend ersetzt wird.

Scheint sich Moni über die beiden Herren und den nicht kommunizierten Arbeitsauftrag nicht zu wundern, so stellt sich der Leser zunehmend die Frage, welches Ziel der Autor mit seiner Erzählung verfolgt. Ein Lichtblick scheint dabei die in den Text eingeflochtene Liebesgeschichte Monis mit ihrem Nachbarn Dr. Feinmiller zu sein. Allerdings irritiert doch etwas, dass Moni jedes Detail seiner grauen Wollsocken wahrnimmt, sich aber nicht daran erinnern kann, wie sie den Weg von seinem Sofa in ihre Wohnung gefunden hat. Da es ihr mühelos gelingt, durch die Wand dem Nachbarn beim Duschen zuzusehen, verwundert es den Leser auch nicht mehr, wenn sich in der Mitte des Romans die Mutter aus dem Jenseits als heimliche Beobachterin zu Wort meldet. Dass nun weite Teile der Handlung in der direkten Rede der Mutter erzählt werden und der Erzähler sich immer mehr zurücknimmt, erhöht die Spannung, nimmt dem Leser jedoch auch die letzte Orientierung.

Allerdings stellt sich gerade bei Kleins magischem Realismus die Frage, wohin er führt. Scheint er doch eng mit der Protagonistin Moni verbunden zu sein, die in einer Rückblende einen Moment im Sportunterricht erinnert, in dem sie die wahren, reptilienartigen Gesichter der Klassenkameradinnen wahrgenommen hat. Die Doppelgesichtigkeit der Menschen kann aber kein Grauen erwecken, da alle Figuren der jungen Frau wohlgesinnt sind. Auch scheint Moni aus ihrer Fähigkeit keinen Nutzen zu ziehen, denn der Versuch der Kontaktaufnahme durch die Mutter aus dem Jenseits bleibt vergeblich und ein Blick auf das wahre Gesicht der beiden Herren scheint Moni nicht möglich zu sein.

Georg Klein gelingt es, den Leser mit einer unheimlichen Lust am Erzählen durch seinen Text zu führen. Selten wurden Alltagsgegenstände wie ein mechanischer Aschenbecher so prägnant beschrieben, dass der Leser die Feder springen zu hören glaubt. Auch die große Brezel aus dem Altstadtbackstübchen oder den Zwetschgenkuchen aus dem Café Himmel würde der Leser gerne selbst probieren. Trotz der sprachlichen Wucht scheint der Roman sein geheimes Zentrum, sein Thema aber nicht preisgeben zu wollen. So ahnungslos wie Moni Gottlieb mit Addi Schmuck und „dem Auskenner“ durch Augsburg zieht, liest der Leser sich durch den Roman. Aufgrund der Detailfülle und der erzählerischen Wendungen kommt keine Langeweile auf. Vielmehr entdeckt man immer wieder Themen und Merkmale Klein’schen Erzählens, wie eine mit viel Humor in den Text eingeflochtene Medienkritik und das Spiel mit verschiedenen Romanformen, denen sich der Text dann letztendlich immer zu entziehen weiß.

Einen kleinen Tipp, wie dem Roman sein Geheimnis zu entlocken sei, gibt vielleicht die Figur Moni selbst. Bevor sie am Samstagmorgen das Haus verlässt, liest sie Addi Schmucks samstägliche Kolumne. Immer abwechselnd wendet sich der Sportreporter in einem kurzen Text entweder unter der Überschrift „Tor, Tor, Tor“ einem wichtigen Fußballereignis oder in der Kolumne „Addi antwortet“ einer Frage seiner Leserinnen und Lesern zu. Es ist aber nicht die mit der Figur verbundene Medienkritik, sondern die Lektüre Monis, die die Lektüreanweisung vorgibt:

Dreimal hatte MoGo Schmucks Antwort gelesen. Das erste Mal zügig, fast fahrig dann langsam, mit einem Augenmerk dafür, wie Schmuck die Sätze baute, und ihre letzte Lektüre suchte, vor- und zurückpendelnd, nach den Wörtern und Wendungen, die verantwortlich dafür waren, dass ihr die Geschichte bereits beim ersten flüchtigen Lesen zu Herzen gegangen war.

Georg Kleins Roman Bruder aller Bilder ist mit seinen knapp 270 Seiten länger als eine Kolumne und so gibt es auch bei der vierten und fünften Lektüre immer noch etwas zu entdecken. Und die Hoffnung bleibt, dass der trotz aller Rätselhaftigkeit faszinierende Roman mit etwas Geduld und vor- und zurückpendelnden Lesebewegungen sein Geheimnis doch noch preisgeben könnte.

Titelbild

Georg Klein: Bruder aller Bilder.
Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.
272 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498035846

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch