Das große Unbehagen

Christian Kracht erhält endlich seinen eigenen „Text und Kritik“-Autorenband

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Erfreuliche an der Reihe Text und Kritik ist ja seit jeher, dass sie nicht nur eine thematisch breit gestreute Anzahl an literaturwissenschaftlichen Beiträgen zu dem jeweils behandelten Autor bietet, sondern auch (unveröffentlichte oder zumindest weithin unbekannte) kurze Texte von diesem und/oder von anderen prominenten Autoren bietet. Dass der bekanntermaßen reklusive, enigmatische Christian Kracht sich hier nicht beteiligt – davon war auszugehen. Dafür springen seine Schriftstellerkollegen Clemens J. Setz und Daniel Kehlmann in die Bresche; ersterer mit einem zwar etwas wirren, jedoch unterhaltsamen, letzterer allerdings mit einem klaren, witzigen und hintergründigen Kurz-Essay, der allein die Daseinsberechtigung der Reihe nachhaltig unterstreicht. Darüber hinaus enthält der Sammelband ein erhellendes Gespräch zwischen seinem Herausgeber, Christoph Kleinschmidt, und Krachts Verleger Helge Malchow. Passend dazu gibt es noch  einen aufschlussreichen Essay von Thomas Wegmann zu Krachts Interviews.

Moritz Baßler und Heinz Drügh plädieren in ihrem Aufsatz „Eine Frage des Modus. Zu Krachts gegenwärtiger Ästhetik“ am Ende für eine Berücksichtigung des Pop-Kontexts, aus dem sich der Autor ja angeblich mit seinem Zweitwerk 1979  nach allgemeinem Empfinden verabschiedet hat. Das ist ein interessanter Aspekt, der durchaus zum Weiterdenken anregt und nach Pop-Verweisen auch jenseits der von Baßler und Drügh behandelten Ästhetik des Autors suchen lässt. Der ausgewiesene Pop-Experte Till Huber verfolgt in seinem Text über Krachts „Nebenwerk zwischen Pop-Journalismus und Docu-Fiction“ ähnliche Ansätze, behandelt dabei allerdings – eine weitere erfreuliche Erscheinung der Text und Kritik-Reihe – die weniger beachteten kleineren Texte des Autors.

Ärgerlich hingegen ist der Aufsatz von Immanuel Nover, der bei seiner Verteidigung von Imperium, wie schon viele vor ihm, in die Immanenz-Falle tappt. Die heftige, in Teilen sogar persönliche Kritik an Georg Diez’ mittlerweile ja schon legendärer Rezension des Buches, in dem der Kritiker den Autor als „Türsteher der rechten Gedanken“ bezeichnet, fußt ein weiteres Mal lediglich auf aus dem Roman selbst erarbeiteten Gegenbelegen. Das ist einerseits insofern legitim, als dass Diez die von ihm angeführten Passagen unter Umständen tatsächlich mißgedeutet hat, doch basiert Diez’ wütende Kritik letztlich auf der parallellen Lektüre des politisch durchaus zu hinterfragenden Briefwechsels Five Years zwischen Kracht und David Woodard, der von Nover mit keinem Wort erwähnt wird. Dies ist bei einer Beschäftigung mit dieser doch essentiellen Frage bezüglich der Rezeption von Krachts Gesamtwerk in Anbetracht des heutigen Forschungsstands unentschuldbar, egal, wie man den Tatbestand letztlich bewertet.

Komplettiert wird der Band durch drei weitere, sehr gelungene Aufsätze zu den „Techniken des Erzählens“ (Kleinschmidt), zum äußerst spannenden Thema des Figureninventars in Krachts Romanen (Isabelle Stauffer und Björn Weyand) sowie zum Roman Die Toten (Susanne Komfort-Heim). An dieser kurzen Übersicht kann man jedoch – bei aller Qualität der Beiträge – die negative Seite des Bandes erkennen: Auch wenn dies nicht das explizite Ziel der Text und Kritik-Reihe ist, so fehlt dieser Ausgabe, anders als anderen Bänden (jener zu Helmut Krausser fällt mir hierzu ein) doch die Sicht auf das Gesamtwerk. Die Beiträge sind äußerst heterogen, und nur zwei – jene von Susanne Komfort-Heim und Till Huber – widmen sich tatsächlich der Analyse eines einzelnen Romans bzw. einer Textreihe. Gerade bei einem recht schmalen Ouevre wie dem Krachts wäre hier durchaus die Möglichkeit gegeben gewesen, nicht thematisch, sondern werkgeschichtlich vorzugehen. Aber dies sollte als subjektive Kritik verstanden werden, andere Leser werden sich sicher über die verschiedenen Aspekte, mit denen die Autoren jeweils große Teile des Gesamtwerks behandeln (Baßler/Drügh, Nover oder vor allem Stauffer/Weyand), freuen.

Am Ende sei noch darauf hingewiesen, dass im Frühjahr 2018 der von Matthias Lorenz und Christine Riniker herausgegebe Band zu ihrer im Herbst letzten Jahres in Bern stattgefundenen Tagung „Jenseits des Unbehagens“ erscheinen wird, in dem viele erhellende, vor allem auch kontroverse Beiträge zu erwarten sind.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Christoph Kleinschmidt (Hg.): Text+Kritik. Christian Kracht.
Heft 216, September 2017.
edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2017.
104 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783869166117

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