1968 in Polen
David Kowalski analysiert den Zusammenhang von studentischem Protest, polnischer Identität und antisemitischer Repression
Von Jens Flemming
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSchon am späten Nachmittag des 30. Januar 1968 begann sich das Foyer des Warschauer Nationaltheaters mit Menschen zu füllen, darunter viele, die ohne Eintrittskarten gekommen waren. Gegeben wurde der im Dresdner Exil entstandene und 1832 veröffentlichte dritte Teil aus dem Dramenzyklus Dziady (Ahnen- oder Totenfeier) von Adam Mickiewicz, dem weit über den Tod hinaus geachteten, auch dazu stilisierten literarischen und politischen Repräsentanten des Polentums. Den Anstoß hatte ihm die blutige Niederschlagung der polnischen Unabhängigkeitsbewegung von 1830/31 geliefert. Themen sind die Liebe zur Freiheit und die Unabhängigkeit der Nation. Das Leiden unter der moskowitischen Gewaltherrschaft wird synonym gesetzt zum Opfergang Christi – ein Bild, in das die künftige Erlösung Polens wie selbstverständlich eingeschrieben ist. Opfernarrativ und messianische Erwartung, von Mickiewicz eindringlich gestaltet, gehörten seither zum selbstreferentiellen Signalementen einer Nation, die nach 1795, der von Russland, Österreich und Preußen verfügten Aufhebung der eigenen Staatlichkeit, über Jahrzehnte hinweg Objekt fremder Machtambitionen und Expansionsbestrebungen und nur für eine kurze Periode zwischen den Weltkriegen in die Rolle des Subjekts der Geschichte hineingewachsen war, diese aber 1939 erneut verloren und 1945 unter sowjetrussischem Patronat mit nur sehr eingeschränkter Reichweite wiedergewonnen hatte.
1968 kamen mehr Besucher als das Theater Plätze hatte. Geschuldet war dies der Staats- und Parteiführung, deren Repräsentanten das Stück ursprünglich gutgeheißen, jedenfalls genehmigt hatten, nun aber verfügten, es vom Spielplan zu entfernen. Das war ein Affront. Offenbar hatte man Angst vor der eigenen Courage bekommen, denn die Zuschauer spendeten lauthals vor allem jenen Partien Beifall, in denen die Unterdrückung durch das zaristische Russland thematisiert wurde. Darin eine Übertragung auf die Gegenwart, einen Ausdruck zunehmender Unzufriedenheit und Enttäuschung, ja, eine Willensbekundung zu sehen, die sich gegen die in der Bevölkerung unpopulären Statthalter Moskaus richtete, lag nahe. Zwar scheute die Staatsmacht davor zurück, den Autor und sakrosankten polnischen Nationaldichter anzugreifen, wohl aber die Interpretation des Regisseurs und die Reaktionen des Publikums. „Mickiewicz war nie und wird nie ein Banner für die Reaktionäre sein“, verkündete gleichsam ex cathedra Parteichef Władisław Gomułka bei einem Treffen mit Warschauer Genossen im März 1968.
Gegen die verfügte Absetzungerhob sich entschiedener Widerspruch. Noch am Abend des 30. Januar versammelte sich ein Demonstrationszug von 200 bis 300 Personen, die vom Theater bis zum Mickiewicz-Denkmal in der Altstadt marschierten. Vor allem Angehörige der Warschauer Universität artikulierten ihr Unbehagen – darunter als führender Kopf Adam Michnik, heute einer der renommiertesten Publizisten des Landes und leitender Redakteur der liberalen Gazeta Wyborcza. In einem eigens formulierten Text wurde die Entscheidung der Regierung kritisiert und zugleich die allgegenwärtige Zensur sowie die manifest gewordene kulturpolitische Repression angeprangert. Unterschrieben von gut 3.000 Studenten, wurde die Petition dem Sejm, dem Parlament eingereicht. Zusätzlich gab Michnik dem Korrespondenten der Pariser Le Monde ein Interview, in dem er die Geschehnisse erklärte und kommentierte. Dies wiederum rief den Bildungsminister auf den Plan, der (und nicht der eigentlich zuständige Rektor) die Relegation Michniks anordnete.
Die Bereitschaft zum Protest wurde damit jedoch nicht gedämpft sondern befeuert. Im März 1968 kulminierte sie in landesweiten Kundgebungen. Für das Regime erschien dies insofern gefährlich, als in der benachbarten Tschechoslowakei im Januar mit Alexander Dubček, dem neuen Mann an der Spitze der dortigen Partei, der Prager Frühling eingeläutet wurde. Dessen Vision eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, einer Liberalisierung und Demokratisierung des politischen Systems, wurde in Moskau und den anderen Hauptstädten der sowjetischen Einflusssphäre als Provokation empfunden. Um ihrer Herr zu werden, rückten im August 1968 Truppen des Warschauer Pakts ein, darunter auch polnische. Er habe, notierte Michnik später, „zum ersten Mal“ in seinem Leben so etwas wie „nationale Schmach verspürt.“ Damit wurde zugleich das Streben nach einem polnischen „Frühling“ für etliche Jahre blockiert. Für Michnik und seine Freunde waren die Konsequenzen der Protestaktionen gravierend: Sie wurden verhaftet, verhört, teils zu empfindlichen Gefängnisstrafen verurteilt.
Die Ereignisse um das Theaterstück Dziady markieren den realhistorischen Rahmen von David Kowalskis Buch mit dem Aufmerksamkeit heischenden Titel Polens letzte Juden. Sein Interesse richtet sich indes nicht auf die bloße Rekonstruktion der äußeren Geschehnisse. Das haben bereits andere vor ihm erledigt. Ihm geht es vielmehr um die Handlungsfelder und den inneren Sinn, um die teils bewussten, teils unbewussten Antriebskräfte der damaligen Akteure, um deren Herkunft und Prägungen, um das Milieu, in dem sie zu Hause waren sowie um historische Traditionslinien, die erst im Konflikt zu Tage traten. Dies alles wird mit viel Umsicht analysiert, in flüssiger Prosa und durchdachter Struktur dargeboten. Die Quellen, auf denen die Studie fußt, sind einerseits Bestände aus polnischen Archiven, andererseits selbst erhoben durch Interviews, die der Autor mit 20 der Beteiligten geführt hat, unter anderem mit seinen Eltern, die zum Kreis der Widerständigen gehörten, wie viele ihrer Mitstreiter am Ende der 1960er Jahre emigriert waren und nun auf die Ereignisse zurückschauen, über ihre Erfahrungen und Erwartungshorizonte berichten. In die Geschichte der polnischen 68er ist hier ein Stück Familiengeschichte eingewoben, die sich jedoch nie in den Vordergrund drängt, sondern eher beiläufig, zudem in akademischer Nüchternheit, eingeflochten wird. Auch das, die gelungene Mischung aus Nahsicht und Distanz, macht die Eindringlichkeit der Studie aus.
Den Kern der Oppositionellen bildete eine überschaubare Zahl von jungen Leuten. Sie waren schon als Schüler zusammengekommen und hatten 1962 einen Diskussionszirkel gegründet, den „Klub der Widerspruchsuchenden“ – für unsere Augen ein eigenartiges Firmenschild, aber im Rahmen eines Systems, das sich auf Karl Marx und die übrigen Kirchenväter des Kommunismus berief, nicht ungewöhnlich. Denn deren Lehre hatte die gesellschaftlichen Widersprüche zum Movens der Geschichte erklärt. Selbstverständlich nur im Zeitalter des Kapitalismus und nicht im Sozialismus, in dem dergleichen als überwunden galt. Insofern war der Name der Gruppe durchaus Programm; er wies in die Richtung selbstbewusster Debatten und Analysen, die vor den Tabus und Sagbarkeitsregeln des Regimes tatsächlich nicht halt machten. Bei den Teilnehmern handelte es sich um einen relativ homogenen Kreis von Gymnasiasten, fast durchweg Kinder von Vätern, die in den staatlichen oder staatlich kontrollierten Apparaten hohe Funktionen bekleideten. Das heißt, sie waren mit den in diesem Milieu üblichen Privilegien aufgewachsen: Auskömmliche Einkünfte, gediegene Bildung, komfortable Wohnungen und Dienstautos, wovon in Warschau, das vom Krieg und der deutschen Okkupation schwer in Mitleidenschaft gezogen war, die Mehrheit der Bevölkerung nur träumen konnte. Waren schon dies allein Distinktionsmerkmale, dann umso mehr die Tatsache, dass fast alle jüdischer Herkunft waren, was in den Auseinandersetzungen der kommenden Jahre eine wesentlich Rolle spielen sollte. Trotz der bereits nach zwei Jahren erfolgten Selbstauflösung des Klubs blieb die Gruppe weiterhin aktiv. Ihre Mitglieder verbanden sich mit dem ein Dutzend Jahre älteren Dissidenten Jacek Kuroń, Vorbild und Mentor in einer Person, organisierten Vorträge und machten sich, wann und wo immer möglich, als kritische Diskutanten bemerkbar, was ihnen – abschätzig oder bewundernd – den Spitznamen Komandosi (Kommandotruppen) eintrug.
Kowalskis Argumentation bewegt sich in drei konzentrischen Kreisen. Da ist zum einen die Idee von Nation und Polonität. In Anlehnung an Mickiewicz’, der Epoche der Romantik verhafteten Vorstellungen begriffen die Protagonisten Polen nicht als ethnisch und katholisch definiert, sondern als universalistische Kulturnation, geeint in kulturellen Traditionen, Werten und Perspektiven. Das erklärt, warum sie sich nicht als Juden, sondern als polnische Staatsbürger empfanden. Das war im Einklang mit den Positionen und Erfahrungen ihrer Eltern, die sich in der Zwischenkriegszeit der kommunistischen Partei angeschlossen hatten und die ihre jüdischen Wurzeln, mit denen sie groß geworden waren, gekappt, im spanischen Bürgerkrieg an der Seite der Republik und im Weltkrieg in polnischen Formationen der Roten Armee gegen die deutschen Besatzer gekämpft hatten. Ihre Söhne und Töchter hatten sie allerdings über ihre Schicksale und die ihrer Familien im Unklaren gelassen, sodass sie die antisemitische Agitation der Partei, die von oben bis in die untersten Ebenen reichte, relativ unvorbereitet traf. Den Antisemitismus in einer für die Machthaber bedrohlichen Situation zu instrumentalisieren, als Mittel der Mobilisierung zu nutzen und die Opposition als dem Polentum wesensfremde Elemente zu stigmatisieren, spekulierte – erfolgreich – auf in der Gesellschaft tief verankerte antijüdische Ressentiments und Stereotype.
Mit dem Konzept der Nation eng verknüpft war zweitens die Entscheidung für den Sozialismus. Auch hier schwangen Erfahrungen der Zwischenkriegszeit mit. Denn Sozialismus bedeutete für die Dissidenten Gleichheit, Abwesenheit von Diskriminierung, Teilhabe am polnischen Gemeinwesen ohne Wenn und Aber. Voraussetzung dafür war ein Sozialismus der Freiheit, Pluralität und Demokratie, nicht jedoch in der real existierenden Gestalt einer Ordnung, in der sämtliche Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse von einer Partei und der von dieser gesteuerten Bürokratie monopolisiert wurden. Die alles bewegende Frage lautete, wie Michnik das in den Umbrüchen der späten 1980er Jahre formulierte: „Was für ein Polen wollen wir?“ Darin steckte, ob man wollte oder nicht, schließlich drittens die Frage nach dem Stellenwert des Judentums und jüdischer Identität. Die „Widerspruchsuchenden“ maßen dem keine wesentliche Bedeutung zu, aber das Problem war damit nicht aus der Welt. Erst im Konflikt mit Partei und Staat, bisweilen erst sehr viel später wurde man gewahr, dass die Verwandlung von Juden in polnische Staatsbürger jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft alles andere als reibungslos war. Gegenüber dem Antisemitismus, der ihnen 1968 entgegenschlug, verhielten sich die Oppositionellen reserviert, um ihre ohnehin vorhandene Partikularität nicht noch zu unterstreichen. Stattdessen suchten sie nach einer Instanz, die in der Lage wäre, den antisemitischen „Volkswillen“ zu neutralisieren. Das schien fortan – im Gegensatz zu den Illusionen der deutschen 68er – im Sozialismus mit den Arbeitern als herrschender Klasse nicht länger möglich zu sein, sondern, wie der Autor resümiert, allein in der repräsentativen Demokratie und der dort verankerten „Zusage bürgerlicher Gleichheit.“
Eine letzte Bemerkung, angeregt von Kowalskis scharfsinnigen Analysen: Ein deutsches Äquivalent für den einprägsamen, zugleich schwebenden Begriff „Polonität“ gibt es nicht. Aber das, worum es in der Sache geht, sehr wohl. So wie ihre östlichen Nachbarn mühen sich die Deutschen ab mit dem, was hierzulande unter „deutscher Identität“ abgehandelt wird – ein altes Thema, das sich ebenfalls bis weit ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Klarheit herrscht weder über die Elemente noch die Essentials von Zugehörigkeit. Vergleichbar jedoch wären Haltungen und Mentalitäten. Dominierte in Polen das antirussische Sentiment, war es in Deutschland bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs das antifranzösische. Ähnliches gilt für Judenfeindschaft und Antisemitismus, die jahrzehntelang die verschlungenen Erörterungen über das Deutschsein wenn nicht prägten, so doch mitbestimmten und grundierten. Ethnizität, überlagert und verschärft durch das Gerede von „Rassen“ und „Rassenhierarchien“, hielten auch im Deutschen Reich viele für das Fundament der Nation. Nicht von ungefähr verschrieb sich der politische Radikalismus von rechts dem Konzept eines „integralen Nationalismus“. Komparativ angelegte Untersuchungen bietet sich hier ein weites und fruchtbares Feld, dem sich lohnende Erträge abgewinnen ließen. Im Blick auf die modernen Migrationsbewegungen und die damit verknüpften Integrationserwartungen hätte dies eine enorme gegenwartspolitische Bedeutung und Dimension.
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