Kritik (an) der verstehenden Vernunft
Vittorio Hösles geisteswissenschaftliche Grundlegung riegelt das Untergründige ab
Von Christian Milz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenn es Literatur gibt, dann sind Geisteswissenschaften, soweit sie sich mit Werkverstehen abgeben, durchaus obsolet. Theodor Fontane hat den Roman Effi Briest „ohne rechte Überlegung“, „träumerisch“ und „fast wie mit einem Psychografen“ (ein spiritistischer Buchstabenzeigeapparat) geschrieben (Brief vom 2. März 1895 an Hans Hertz); das ist wissenschaftlich gesehen ein No-Go, allerdings doch wohl irgendwie Geist. Literarischer Geist ist anscheinend ein anderer Geist als der der Geisteswissenschaften, die den alten Begriff tradieren, aber weltanschaulich anders gelagerte Begriffe, wie den des „Mentalen“, vorziehen. Verstehende Vernunft – als Unterabteilung des Mentalen – ist weder der angemessene Begriff für die Beschreibung der Entstehung von Romanen noch für deren Rezeption.
Naturwissenschaften sind ohne Wechselwirkung mit dem Empirischen nicht vorstellbar. An der Entstehung und Rezeption von Literatur sind die Literatur- beziehungsweise Geisteswissenschaften nicht nur nicht beteiligt, genauso wenig wie die Musikwissenschaften an der Musik, sie finden explizit jenseits von Wissenschaft statt. Wo literarisches Schreiben unterrichtet wird, hütet man sich, auch nur in die Nähe der Geisteswissenschaften zu geraten. Die Methoden sind einfach zu unterschiedlich. Umgekehrt: Wer gut wissenschaftlich oder philosophisch schreiben will, der wird sich an der Literatur orientieren. Dass Professoren gelegentlich Bestseller schreiben, ist kein Gegenargument.
Falls es indes Wissenschaften geben sollte, die für das literarische Schreiben relevant sein könnten, dann ziehen die Geisteswissenschaften hier geflissentlich eine Demarkationslinie. Vittorio Hösles Kritik der verstehenden Vernunft liefert ein jüngstes Beispiel. Wenngleich auch Hösle vieles an seinem Metier auszusetzen hat und eine neue Grundlegung der Geisteswissenschaften unternimmt, ist seine Argumentation eher ein Beleg für die Eingangshypothese als wohlbegründet. Die Geisteswissenschaften hätten sich in die Ecke der „Beliebigkeit“ und eine „selbstmörderische Verneinung des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit des Verstehens und Interpretierens“ hineinmanövriert, ihnen drohe der Verlust des Statusʹ der Wissenschaftlichkeit und das Ausscheiden aus der institutionellen Gemeinschaft der „unstrittigen Wissenschaften“ . Solche eine Diagnose von freiwilliger Selbstaufgabe klingt verdächtig nach Immanuel Kants Definition von Aufklärung als „Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“, die einer genaueren Überprüfung kaum standhält, aber ihre polemische Wirkung immer noch zuverlässig entfaltet.
Das Chaos, in dem die Geisteswissenschaften sich zu Anfang des 21. Jahrhunderts tummeln, habe viele Ursachen, konstatiert der Autor im gleichen Modus, aber eine wichtige sei zweifelsohne das Fehlen von Klarheit hinsichtlich grundlegender Begriffe, Methoden und Aufgaben dieser Wissenschaften. Allerdings ist das mehr ein programmatischer Vorsatz im Hinblick auf einen Neuansatz als eine Ursachenfeststellung. Plausibler ist die Annahme, dass besagtes Fehlen die Folge des vermeintlichen Chaosʹ und nicht dessen Ursache ist, denn das Design von Begriffen und Methoden folgt bestimmten Prämissen und Erkenntnisinteressen, die im Allgemeinen ultra rationem liegen. Das sieht übrigens auch der Autor so, wenn er später moniert, dass die Geisteswissenschaften den Glauben an eine gültige Metaphysik und Ethik durch das Überschwemmen des menschlichen Geistes mit einer Fülle unvereinbarer Weltanschauungen unterminiert hätten, aus denen sich jeder etwas picken mag, aber eben nur unter dem Vorbehalt, eine andere Auswahl aus dem Menü von Werten und Glaubenssystemen sei genauso berechtigt. Das hat man schon von der Kanzel gehört, wenn die Kirche leer und der Pfarrer schlecht gelaunt war. Dadurch wird es nicht richtiger. Besagte Auswahl erfolgt keineswegs auf der Basis von Beliebigkeit, in der Regel auch nicht in Verbindung mit Toleranz und schon gar nicht aufgrund der durchschlagenden Wirkung der Geisteswissenschaften.
Wie stellt sich Hösles Gründungsprogramm einer geisteswissenschaftlichen Neuausrichtung nun dar? Der Autor delegiert dessen ausführliche philosophische Herleitung wie anderes auch an eine andernorts nachzulesende „erste Philosophie“. Der in der Kritik der verstehenden Vernunft erläuterte Gedankengang beginnt folgendermaßen: Verstehen sei nur eine von verschiedenen intellektuellen Operationen: weder rein begriffliches Denken, noch sinnliche Wahrnehmung noch Introspektion könnten auf es zurückgeführt werden. Gleichwohl ließe sich geradezu von einer Unhintergehbarkeit des Verstehens reden, weil jeder, auch der Naturwissenschaftler, zunächst von Lehrern unterrichtet werden müsse, Verstehen also allem vorausgehe. Nun manövriert der Autor sich vorsätzlich in einen Zirkel: Auch die Theorie des Verstehens setze das bereits vorhandene Verstehen voraus. Das Buch könne daher nur hoffen, die Natur von Verstehensprozessen für Leser zu erklären, die selbst schon schwierige Verstehensprozesse zu erbringen in der Lage seien.
Es lohnt sich, dieses merkwürdige Manöver kurz zu beleuchten. Was zunächst wie eine Banalität daherkommt, offenbart seinen Sinn in der Schlussfolgerung: Nützlich möge das Buch den Lesern trotzdem sein, wenn es ihm gelinge, das explizit zu machen, was implizit das Verstehen der Leser immer schon leite. Die Schmeichelei in Verbindung mit einem Bescheidenheit vortäuschenden Kratzfuß suggeriert die Identität der an den Mann zu bringenden Theorie mit der apriorischen Vernunft des Lesers, ja beschwört letztere geradezu. Damit verbunden ist die Unterstellung, der Leser könne keine Lehrer gehabt haben, die sein Verstehen nicht im Sinne des vorliegenden Buches angeleitet hätten, was in Anbetracht des beklagten Zustandes der Geisteswissenschaften ziemlich unwahrscheinlich ist. Andernfalls müsste das Ergebnis der falschen Bemühungen trotzdem zu einem potentiell richtigen Verstehen geführt haben. Alles also halb so schlimm?
Der Sinn des Abschnitts, nüchtern betrachtet Kokolores, liegt in der Einleitung eines Programms, dass auf die Verabsolutierung des in ihm angelegten Begriffs von Bewusstsein ausgerichtet ist. Die begriffliche Fassung des Verstehens als eine auf die Erschließung anderer mentaler Akte gerichtete rein rationale Operation und deren analytische Zergliederung im Anschluss an Edmund Husserl und Donald Davidson in perzeptuelles, noetisches und noematisches Verstehen will die Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Zusammenführung aller möglichen Gegensätze bewirken (analytische und kontinentale Philosophie, Materialismus und Idealismus, Dualismus und Monismus); das Ganze, triadisch gegliedert in transzendentale Ästhetik, Logik und Pragmatik der Hermeneutik, läuft auf den umstrittenen anomalen Monismus hinaus und nennt sich objektiver Idealismus, sozusagen: Alles unter einen Hut.
„Alles“ allerdings nur im Sinne der Schulphilosophie bzw. Geisteswissenschaften. Denen darf man – von der literarischen Hermeneutik aus betrachtet – den Streit um des Kaisers Bart getrost überlassen. Die Schwäche der Kritik der verstehenden Vernunft liegt wie gesagt ganz woanders.
Ein von dem amerikanischen Psychiater Milton H. Erickson (1901–1980) verwendetes Kommunikationsmodell geht bei zwei kommunizierenden Personen von zwölf Kanälen aus. Auf beiden Seiten je zwei in beide Richtungen zwischen Bewusstem und Unbewusstem, dann jeweils vier von den beiderseitigen zwei Polen zu denen der gegenüberliegenden Seite. Erickson war ein virtuoser Hypnotiseur, manche, die ihn kannten, weigerten sich ihm die Hand zu geben, weil er einem per Händedruck das Bewusstsein abschalten konnte. Schon als Kind hypnotisierte er Haustiere sozusagen im Handumdrehen. Vor dem Hintergrund des genannten Modells ist eine Argumentation nicht hinreichend, die, von Karl-Otto Apels Unentrinnbarkeitsargument abgeleitet, davon ausgeht, dass das Bestreiten von Verstehen selbst schon Verstehen voraussetzt. Für das Verstehen ist vielmehr unabdingbare Voraussetzung, dass das Unbewusste beziehungsweise bewusstseinsferne Impulse mit der Ratio harmonieren. Daher rühren die oft vergeblichen Anstrengungen, das Unbewusste auszuschalten oder zu neutralisieren. Erst Ericksons Modell ist hinreichend komplex, um empirische Kommunikationsvorgänge und Literaturrezeption, insbesondere deren Defizite, beschreiben und erklären zu können.
Man kann an Hösles Buch exemplifizieren. Immer wieder finden sich in ihm Argumentationsweisen, die unterschwellige Gefühle mobilisieren: Die zu Beginn angesprochene „Gefährdung der Geisteswissenschaften“ ist mit Angstabwehr assoziiert, genauso wie der Begriff „selbstmörderisch“. Mit dem (sachlich falschen) Begriff der „unstrittigen“ Naturwissenschaften ist eine unvernünftige Ablehnung von intellektueller Auseinandersetzung verbunden. Schließlich „hofft“ sein Buch, verstanden zu werden, das kaschiert seinen dogmatischen Anspruch und soll an das Entgegenkommen des Lesers appellieren. Explizit und exemplarisch offenbart der Autor spezifische Grenzen der verstehenden Vernunft im Falle von Susan Sontags einflussreichem Aufsatz Against Interpretation, der auf einer „abwegigen Philosophie der Erotik“ basiere. Was Hösle nicht versteht – Susan Sontag hätte sich auch auf Friedrich Schillers ästhetische Briefe berufen können (1. Brief: Die ganze Magie der Schönheit beruhe auf ihrem Geheimnis, mit dem notwendigen Bund ihrer Elemente sei auch ihre Schönheit aufgehoben) – ist die schon angesprochene prinzipiell gegebene Differenz von ästhetischer Erfahrung und Kognition. Letztere hat zweifellos ihre Daseinsberechtigung, aber der Kontrast darf nicht verwischt werden.
Das fehlende Verständnis für diese Problematik macht sich auch in der begrifflichen Architektur von Hösles Grundlegung bemerkbar. Der Begriff des „Mentalen“ hat nicht nur eine konzeptionelle Funktion, sondern auch eine polemische. Er soll eine Demarkationslinie zum Unbewussten ziehen. Das belegt Hösles Fazit: „Andere als die in diesem Buch behandelten Formen des Ausdrucks von Mentalem gibt es nicht – Mantik bzw. Divination sind ebenso überholt wie der Animismus“. Vernunft oder Dogma, das ist hier die Frage.
Geisteswissenschaften lägen dort vor, verortet Hösle, wo der Gegenstand verstehbar, das heißt auf mentale Akte zurückführbar sei. Zum Wesen des Mentalen gehöre es, dass es bewusst sei. Der Begriff unbewusster mentaler Vorgänge scheine daher eine contradicto in adjecto. Der Autor beruft sich dabei insbesondere auf den amerikanischen Psychologen William James (1842–1910). Um die einschlägige Evidenz des Unbewussten zu widerlegen, nimmt Hösle sich kurzer Hand (unter Inkaufnahme eines Kategorienfehlers) einen speziellen Theoretiker desselben, nämlich Sigmund Freud, vor und versucht ihn auf wenigen Seiten zu marginalisieren. Im dialektischen Teil kommt der Autor (mit einigen Verbindlichkeiten im Hinblick auf Freuds „traditionelle, realistische Sicht auf den Menschen“) auf die Psychoanalyse zurück und greift nun die psychoanalytische Hermeneutik mit einem weiteren Kategorienfehler an, indem er deren vermeintlich „recht bescheidenen praktische Erfolge“ anführt.
Hösle scheitert an seinen eigenen Maßstäben. Sehr richtig stellt er nämlich fest: „Innerhalb der theoretischen Rationalität sind die beiden wichtigsten Kriterien die korrekte Wahrnehmung aller für ein bestimmtes Urteil einschlägigen Bereiche der Wirklichkeit auf der einen und korrekte Folgerungen aus den eigenen Annahmen auf der anderen Seite“. Rationaler sei, wer mehr einschlägige Evidenzen zur Kenntnis nehme und mehr relevante Folgerungen ziehe. Unvermeidliche Eingrenzungen sind freilich ein bevorzugter Anlass, sich durch willkürlichen Zuschnitt des argumentativen Schlachtfeldes, gegebenenfalls auch mit Hilfe von Macht, durchzusetzen. Im 20. Jahrhundert hat die – um einen Begriff Henri F. Ellenbergers, Professor für Psychiatrie an der McGill University (The Discovery of the Unconscious, New York 1970), zu verwenden – dynamische Psychiatrie als Lehre vom Unbewussten nicht nur einen neuen Bereich von Medizin/Psychologie, von der Lehre bis zur Patientenbehandlung, erschlossen, sondern auch in die Literatur und Literaturinterpretation Eingang gefunden und beansprucht einen wissenschaftlichen Status. Ausgerechnet Freuds Neffe Edward Bernays (1891–1995), dem „Vater“ der modernen Propaganda, gelang mit Hilfe der Erkenntnisse seines von ihm tief bewunderten Onkels über die Macht des Unbewussten die lukrative Manipulation weiter Bevölkerungsteile zugunsten von Wirtschaft und Politik, nicht zuletzt machte er die Psychoanalyse in den USA populär. Im Hinblick auf die Hermeneutik von Literatur und Film dürfte die analytische Psychologie C.G. Jungs maßgeblicher sein, dessen Begriffe wie „introvertiert“ oder „Individuation“ mittlerweile zum Alltagsgebrauch gehören, während das „kollektive Unbewusste“ und die „Archetypen“ in sein Konzept der „Nachtmeerfahrt“ beziehungsweise „Heldenwanderung“ eingeflossen sind, das das Drehbuchschreiben und das amerikanische Kino nachhaltig geprägt hat. Jungs Kollege, der Arzt und Psychotherapeut Erich Neumann, hat mit seiner Ursprungsgeschichte des Bewusstseins und Die große Mutter ein Grundlagenwerk der Hermeneutik des Unbewussten geschaffen.
Die Geisteswissenschaften sind nicht tot, sie riechen nur komisch. Vittorio Hösle unternimmt einen seines Erachtens notwendigen als auch möglichen philosophischen Wiederbelebungsversuch, sozusagen mit der Apparatur der Schulmedizin. Vielversprechender wäre vielleicht eine Reinkarnation abzuwarten, es gibt Denker die man in dieser Richtung auslegen kann: Z.B. Paul Feyerabend (1924–1994) Against Method (Wider den Methodenzwang): „Beim Austausch von Beobachtungssprachen kann es nun leicht geschehen, dass die emotionale Komponente, die vielen Sätzen innewohnt, nicht nur verändert wird, sondern ganz verschwindet – jene Komponente also, die Assoziationen in uns wachruft, Bilder, Gedanken, aber auch Gefühle. Will man an einer Menschlichkeit […] festhalten, dann wird man solche Übergänge streng bewachen, und man wird sich hüten, rein kognitive Sprachen einzuführen.“
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