Neue Zugänge zu Hartmann von Aue

Cordula Kropik gibt einen Sammelband mit literaturwissenschaftlichen Forschungsbeiträgen heraus

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Altgermanistin Cordula Kropik, die erst 2019 als Mitherausgeberin eines Bandes über lyrische Narrative seit dem Mittelalter hervorgetreten ist, hat nun insgesamt zwölf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versammelt, um Hartmann von Aue, einen der prägendsten deutschsprachigen Dichter des Mittelalters, erneut in den Fokus zu rücken. Um die Vielfalt der wissenschaftlichen Zugänge zu Werk und Wirkung dieses Autors zu ordnen und – vornehmlich für Studierende – eine forschungsbasierte Beschäftigung mit diesem Klassiker der mediävistischen Germanistik zu ermöglichen, scheint dies sehr geboten zu sein. Aber auch ‚Allgemeinleser‘ werden sich durch dieses Buch angesprochen fühlen.

Der im Tübinger Narr Francke Attempto Verlag vorgelegte Band bündelt aktuelle Themen und Forschungsansätze der (neueren) Literaturwissenschaften und transponiert diese in den Bereich der Mediävistik, um Entwicklungslinien sowie historische und konzeptionelle Hintergründe neu und auf interessante Weise beleuchten zu können.

Methodisch geschickt gelingt das, indem die Beiträgerinnen und Beiträger quasi in Teamarbeit Bereiche der Hartmann-Forschung so vorstellen, dass herkömmliche Inhaltsangaben, kommentierende Paraphrasierungen und ausführliche Einzelanalysen zu Texten vorerst verzichtbar sind, was freilich nicht gegen eine nachzuholende Lektüre spricht. Akzentuiert werden die „Vitalität im Nebeneinander ganz verschiedener Positionen und Herangehensweisen“, wie die Herausgeberin Cordula Kropik einleitend betont. Das spiegelt sich auch in den Rubriken wider: die Person des Dichters und sein Werk werden nicht auf gewohnte Weise wissenschaftssystematisch abgehandelt, sondern in einer Art Diskurs von jeweils zwei oder mehreren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorgestellt: Wer war Hartmann? Wie bewegte er sich im Kontext höfischer Dichtung? Wie sind die Kategorien Text und Autor im Mittelalter-Diskurs einzuordnen? An welche Bedingungen ist die Überlieferung des umfangreichen Schaffens dieses Dichters zu knüpfen? Fragen wie diese beantworten schon die ersten beiden eröffnenden Kapitel und spannen damit den Bogen bis zum Schluss, wo in zwei komplementären Beiträgen Wahrnehmung und Wertschätzung sowie die Kontinuität der Rezeption Hartmanns von Aue kritisch hinterfragt werden.

Das steckt den Rahmen für die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Werk Hartmanns ab, die anschließend in zwei großen Themenkreisen vollzogen wird. Und auch hier zeigt sich, dass man Leseangebote insbesondere für eine ‚jüngere‘ Generation von Studierenden oder auch für diejenigen, die den Autor besser kennenlernen wollen, machen möchte. Es geht kurz gesagt darum, welche poetologischen Zugänge zu Hartmanns Lyrik möglich sind, wenn man nicht nur die „Narrativität“ seiner „gesungenen Geschichten“ berücksichtigt, sondern auch deren „schwierige Kohärenzen“ beziehungsweise „Diskursinterfererenzen“.

Ein ähnlich unkonventioneller Zugriff charakterisiert auch den Schwerpunkt des Bandes, der – älteren Forschungen durchaus folgend – auf Hartmanns Erzählungen gelegt wird. Aber auch hier vermögen es die vier Beiträgerinnen und Beiträger, neue, lesenswerte Zugänge zu schaffen, indem ausgehend von der Forschungslage Hartmanns Bearbeitungsverfahren vorliegender Stoffe neu betrachtet werden. Es geht dabei weniger um den Aspekt, ob Hartmann ein eigener ‚Gestaltungswille‘ zuerkannt werden soll und kann (wie in der älteren Hartmann-Forschung), sondern darum, wie der Dichter als Vermittler und nicht als Urheber der von ihm erzählten Geschichten in Erscheinung getreten ist: Im Erec und im Iwein setzte er insofern eigene Akzente, als er jeweils die sozialen Dimensionen betonte und seine Protagonisten auch als Herrscher scheitern ließ. Im Legendenroman Gregorius änderte er die Schuld-Konzeption seiner Vorlagen und literarischen Vorläufer sogar ab.

Die vorgelegten Ergebnisse lassen einen neuen Blick auf die bisherigen Standardmodelle der germanistischen Mediävistik zu, die nicht nur vorgestellt, sondern auch anhand vieler Einzelstellenanalysen überprüft werden. Besonders in diesem Kapitel wird das Ziel der vorgelegten Publikation umgesetzt, andere Perspektivierungen nicht nur zuzulassen, sondern unter Verzicht auf Inhaltsangaben et cetera – die auch anderweitig zur Genüge bereitstehen – konventionelle Wege zu verlassen, den Studierenden gerade am Anfang ihres Studiums die Notwendigkeit von Prozessen des (gemeinschaftlichen) forschenden Fragens zu verdeutlichen und diese auch in der Praxis einmal vorzuführen.

Die Herausgeberin demonstriert dies selbst beispielhaft, indem sie die Kompositionstechniken Hartmanns untersucht. Für moderne Leserinnen und Leser (sprich: Forschende) scheint es selbstverständlich, dass uns erzählte Welten als komplexe fiktive Entitäten vorgestellt werden, in denen Hinweise auf die dichterisch-sprachliche Gemachtheit durch postmoderne Verfahren markiert werden. Einem Dichter wie Hartmann wurde zu lange unterstellt, dass er – sich nach den Konventionen und Regularitäten seiner Zeit richtend – alles einem sinngebenden erzählerischen Arrangement untergeordnet habe. Anhand der poetologisch etablierten Leitkategorie mittelalterlicher Dichtung, dem Begriff der âventiure, kann aber gezeigt werden, dass sich Erzählung und erzähltes Geschehen bei Hartmann (anders als bei seinen Vorgängern) schon gewissermaßen ‚modern‘ überlagern. Besonders im Erec – so die Verfasserin dieses Beitrags – scheinen die Figuren „vom sinngebenden Tun der âventiure nicht nur zu wissen, sondern auch danach zu handeln“. Dies geschehe jedoch stets im erzählerischen Kontext der mittelalterlichen Dichtung, beispielsweise dadurch, dass die Ehre nâch âventiure wâne (also in der Hoffnung auf Abenteuer) wiederhergestellt werden könne: „Erec wünscht also just die Ereignisfügung herbei, die ihm die sinnstiftend komponierende Instanz im Folgenden tatsächlich zuteilwerden lässt.“

Die bekannte Leitkategorie bekommt bei Hartmann also eine hermeneutisch sinnstiftende Bedeutung und damit eine Funktion für die Erzählung; das bedeutet für die heutige Forschung, dass sich die Disziplinen Narratologie und Hermeneutik ergänzen müssen, wenn sich schon bei Hartmann welthaftes ‚Geschehen‘ und sprachlich-dichterisch geformte ‚Geschichte‘ nicht mehr trennen lassen. Eine besondere Leistung dieses Ansatzes ist darin zu sehen, dass diese beiden Aspekte der Betrachtung, die ein und dieselbe Sache in Hartmanns Poetik repräsentieren, auch dort als vorherrschend gesehen werden, wo es – zumindest scheinbar – keine âventiure gibt. So im Gregorius, bei dem von diesem Begriff kein einziges Mal die Rede ist, wo aber Teile der erzählten Welt nicht nur eine zeichenhafte Funktion für die Handlungsführung, sondern auch eine mit dem erzählten Geschehen korrelierte Bedeutung für den Text haben und damit als metafiktional zu bewerten sind.

Weiterführend kann die Herausgeberin ihre Hypothese über die poetische Faktur des höfischen Romans auch daran verifizieren, dass man, wie schon in der älteren Forschungstradition dargelegt worden ist (beispielsweise in Erich Köhlers bis heute gültigem und wieder aufgelegtem Standardwerk aus den 50er-Jahren Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik), davon auszugehen hat, dass Hartmann als gelehrter ministerialer Dienstmann (Ein ritter sô gelêret was / daz er an den buochen las / swaz er dar an geschriben vant) die entsprechende Bildung besessen hat, um „die beschriebene Engführung von Narration und Argumentation zu realisieren“ und für sich umzusetzen. Hier schlägt die Herausgeberin gekonnt einen Bogen zu der bei Hartmann ins Auge fallenden Tendenz zur Gattungs- und Diskursüberschneidung, was bereits in dem vorausgehenden Kapitel über seine rhetorische Lyrik aufgezeigt wurde. Allerdings – so stellt sie in ihrem Fazit fest – ist auch dieses skizzierte Deutungsverfahren, dass die herkömmliche Grenzziehung zwischen Narratologie und Hermeneutik schon bei Hartmann unterlaufen wird, Aufgabe der weiteren Forschung.

Die Rubrik der poetologischen Zugänge wird mit zwei Beiträgen zu Hartmanns Fiktionalisierungstechniken und erzählerischen Selbstreflexionen komplettiert, die auch die narratologische Kategorie des Erzählers und Hartmanns Autor-Inszenierung noch einmal in den Blick nehmen.

Besondere Erwähnung verdient der Abschnitt, der unter dem Aspekt der vergleichenden Forschung aktualisierbare beziehungsweise aktuelle thematische Zugänge zum Werk Hartmanns eröffnet: Neueren Tendenzen der Literaturwissenschaften folgend werden „Aspekte männlicher und weiblicher Agency“ betrachtet sowie „Fokalisierung, Figurenprivilegierung und doing gender“ untersucht, aber auch – traditioneller daherkommend – „Liebe und Gesellschaft“ und schließlich „Gott und die Welt“ als Kategorien strukturbildender Modelle angesehen. Mitlesend enthüllt sich so, dass schon Hartmann tradierte Geschlechterkonzeptionen hinterfragt und eine Spannung zwischen den Perspektiven der Figuren und der jeweiligen narrativen Instanz aufbaut. Gerade in diesem Abschnitt des Buches können signifikante neuere methodische Zugänge auch innerhalb der Mediävistik zum Zuge kommen, wobei auch Forschungsaspekte, die die Forschung zum Werk Hartmanns über längere Zeit geprägt haben, erneut unter Beweis stellen können, ob und wie sie im heutigen akademischen Unterricht präsent bleiben können.

Hervorzuheben und nachahmenswert ist die Methodik der einzelnen Beiträge: Nicht nur werden die Ergebnisse in einem vorangestellten „Abstract“ zusammengefasst, sondern an das jeweilige Fazit schließen sich themenbezogene, kommentierte und weiterführende Literaturangaben an. Betont sei an dieser Stelle die Nachlese zum Kapitel „Rezeption und Kontinuität: Die Nachwirkung von Hartmanns Werk“. Hier werden Nachklänge zum Iwein bei Tankred Dorst und Felicitas Hoppe aufgeführt, und es wird für Michael Kohlmeiers Märchen sowie für filmische Umsetzungen, etwa die Düsseldorfer Präsentation des Gregorius, geworben. Ebenso finden biografische Repräsentationen des Dichters als historische Figur in Romanen, Kriminalerzählungen und populären Verfilmungen Beachtung, und damit wird der Beitrag auch heutigen medialen Vermittlungen und Rezeptionsweisen gerecht. Ergänzt wird diese Nachlese durch ein sehr ausführliches Verzeichnis der Rezeption von Hartmanns Liedern und seiner Epen seit dem 18. Jahrhundert.

Der Band schließt mit einem Anhang, der den aktuellen Forschungsstand dokumentiert. Es werden alle erreichbaren Handschriften und Fragmente des Dichters mit ihren jeweiligen Standorten an wissenschaftlichen Bibliotheken nachgewiesen und anschließend die einschlägigen Internetseiten zum Handschriftencensus, zum Hartmann-von-Aue-Portal und zu digitalen Editionen aufgeführt. Selbstverständlich werden auch alle in den Beiträgen herangezogenen Textausgaben noch einmal bibliografisch exakt vorgestellt, genauso wie die umfangreich zurate gezogene Sekundärliteratur, die auch neuere Forschungsbeiträge ab dem Jahr 2000 einschließt.

Insgesamt dürfte diese literaturwissenschaftliche Einführung also nicht nur für Studierende und Lehrende des akademischen Betriebs hilfreich sein, sondern auch für Leser und Leserinnen, die sich für einige der bekanntesten Werke der höfischen Zeit und die Literaturtraditionen seit dem Mittelalter aus den unterschiedlichsten Gründen (Medienkonsum, ‚Auffrischung‘ früherer Studieninhalte …) interessieren oder den Autor und sein Werk neu kennenlernen möchten. Hierzu tragen nicht zuletzt auch die zahlreichen Abbildungen von Texten aus Liederhandschriften und von kunstvoll gestalteten mittelalterlichen „Heldenbüchern“ bei, genauso wie die Reproduktionen von Freskenzyklen und Einzelmotiven, die zusätzliche Einblicke in das höfische Leben gestatten.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Cordula Kropik: Hartmann von Aue. Eine literaturwissenschaftliche Einführung.
Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 2021.
400 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783825255626

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