Ein Brief an Tiere, den Menschen lesen sollten

Über Frédéric Lenoirs offenes Plädoyer für eine mitfühlende Welt

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wahrscheinlich würden Sie jemandem, der nicht lesen kann, keinen Brief schreiben. Es gibt aber soziale, emotionale und historische Situationen, in denen nichts dringlicher erscheint als ein Brief, den diejenigen, die ihn lesen sollten, wahrscheinlich nie lesen werden. Frédéric Lenoir richtet sich in seinem Offenen Brief an die Tiere und alle, die sie lieben deshalb nun an uns, uns Tieren und uns Menschen, denn beides sind wir. Wenn wir den Brief nicht lesen, wir, die Tiere nicht nur lieben, sondern auch quälen, schlachten, anziehen, ausstopfen, sezieren, belächeln und verzehren, dann wird es niemand tun.

Viele mögen es nicht als Widerspruch ansehen, den eigenen Kindern gemarterte Tierbabys zur Speise zu reichen und dann eine Schule für sie auszusuchen, die über einen Streichelzoo verfügt. Lenoir sieht das anders. Der französische Soziologe und Religionswissenschaftler zeigt ähnlich wie schon Peter Singer und Melanie Joy auf, dass es im menschlichen Verhältnis zu nicht-menschlichen Tieren zahlreiche, mit sexistischen, rassistischen und klassistischen Dogmen verbundene Ambivalenzen gibt, die bis heute weitestgehend unangefochten bestimmen, wie wir mit dem „Rest“ der Tier- und Pflanzenwelt umgehen. Dennoch denkt der Autor die populär gewordene Haltung des Antispeziesismus zu Ende und macht stark, dass diese nicht die Lösung sein kann: Wenn man gegen Speziesismus ist, so der Autor, dann müsse man schließlich auch alle karnivoren Tiere voreinander schützen. Bereits Joy distanzierte sich deshalb vom Begriff des Speziesismus und bevorzugt seitdem den Begriff „Karnismus“. Denn worum es geht, erklärt Lenoir seinen tierlichen Leser*innen, ist die außerordentliche Position des Homo sapiens gegenüber allen anderen Tieren, die er in komplexen sozialen Gefügen unter anderem durch die ständig wiederholte Selbstvergewisserung, Tiere nach eigenem Belieben nutzen zu dürfen, reproduziert. Lenoir warnt uns: Diese Position ist es, die dem Menschen so manches ermöglicht hat und ihm so einiges wieder zerstören wird – nachdem er bereits wie ein Mähdrescher durch das gesamte Tierreich und die zugehörige Flora gefahren ist. Doch solange unsere umweltliebende Kanzlerin vor dem G20-Gipfel (!) noch unkommentiert ein argentinisches Steakhouse besuchen kann, ja, so lange es überhaupt in Ordnung ist, für je zehnminütige Gespräche zum G20-Gipfel zu fliegen, haben wir nichts verstanden. Zwar deutet Lenoir auch diese katastrophalen Zustände an, doch was seinen Brief so wertvoll macht, ist der Versuch, nicht-menschlichen Tieren als geliebten, verletzten Individuen zu schreiben – und nicht als anonymer Gruppe.

Ein Tier auszubeuten, ist nicht gleichbedeutend mit dessen Zähmung. Es muss gebrochen werden, wie wir wissen. Längst wissen wir außerdem – wenn nicht explizit durch die Lektüre zeitgenössischer Forschung, so doch intuitiv –, dass wir keine logischen Gründe mehr haben, nicht-menschliche Tiere „Sachen“ zu nennen, obwohl es das Gesetz noch tut. Wir wissen, dass die Ähnlichkeiten größer sind als die Differenzen und dass auch andere Tiere ein Bedürfnis nach Schutz, Liebe oder wenigstens Freiheit besitzen. Das ist die Linie, die sich durch Lenoirs Publikation zieht, begleitet von Zitaten historischer Figuren, die es wagten, über das Tier als dem Anderen zu sprechen. Lenoir gibt sich als jemand zu erkennen, der Tiere nicht mehr essen möchte. Von anderen Autor*innen kennen wir bereits die beliebtesten Fehlargumente für Fleischkonsum: Menschen argumentieren, es sei natürlich (argumentum ad naturam), normal (argumentum ad populum), immer so gewesen (argumentum ad antiquitatem), notwendig (argumentum ad ignorantiam) und einfach so lecker (argumentum ad passiones). Der Autor weiß bereits, dass es nicht viel bringt, anderen Leuten diese Scheinargumente aus dem Kopf zu schlagen. Er fährt deshalb die Schiene der Gefühle und erklärt uns nicht, warum wir Tiere nicht hassen sollten, sondern weshalb wir Tiere lieben sollten. Ein bisschen drückt er auf die Tränendrüse, das muss man aushalten.

Zwar schreibt Lenoir damit absolut nichts Neues: Er kämpft gegen das westliche, cartesianisch geprägte Vernunftdogma, nach dem Tiere nur Maschinen seien, plädiert für Empathie und zeichnet die Linie der historischen Mensch-Tier-Beziehung nicht nur in Technik und Wirtschaft, sondern auch in Philosophie und Soziologie nach. Er macht das gut, mit weitem Blick und lässt nicht viel aus. Bis hierhin unterscheidet sich die Publikation nicht maßgeblich von ihren Vorgängern. Doch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive originell und bemerkenswert ist durchaus, dass Lenoir sich diesen Bereichen in Form eines Briefes an die betroffenen „Objekte“ widmet – zu denen wir zweifelsohne gehören. Denn wenn uns nicht Einsicht und Empathie dazu bringen werden, unsere Hassliebe zu nicht-menschlichen Tieren zu überdenken, so doch vielleicht die Erkenntnis, dass die Voraussetzung für Menschenliebe zunächst Tierliebe ist – und spätestens angesichts der ökologischen Lage des Planeten sein muss.

Titelbild

Frédéric Lenoir: Offener Brief an die Tiere und alle, die sie lieben.
Übersetzt aus dem Französischen von Ute Kruse-Ebeling.
Reclam Verlag, Stuttgart 2018.
144 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783150111697

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