Eine Psychogeografie des Selbst

In seinem Roman „Schattenfroh“ entwickelt Michael Lentz eine höchst irritierende Literatursprache der Gedächtniskunst

Von Matthias FriedrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Friedrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Familienromane der letzten Jahre beschrieben den Vater oft als Abwesenden, der dennoch eine große, bisweilen bedrückende Macht über seine Hinterbliebenen ausübt. Das Schreiben beginnt in der Regel erst dann, wenn der Patriarch längst schon das Zeitliche gesegnet hat. Noch immer stehen die Betroffenen unter seinem Bann; im günstigsten Fall können sie ihn loslassen. In einer der bekanntesten Szenen aus seinem sechsbändigen, autobiografischen Projekt Min kamp erzählt Karl Ove Knausgård, wie er mit seinem Bruder Yngve die Friedhofskapelle in Kristiansand betritt, um sich zu vergewissern, ob der im Sarg liegende Vater auch wirklich tot ist. Solche Erzeuger scheinen über ihre Angehörigen einen Fluch ausgesprochen zu haben, der sie dazu zwingt, ihre traumatischen Erlebnisse in Schriftform zu verarbeiten.

Gleichwohl beschränken sich Romane wie Sterben nicht bloß auf eine detailgetreue, poetisierte Darstellung der Ereignisse; autofiktionale Texte wie dieser schließen mit ihrem Publikum zudem einen Doppelvertrag ab, in dem sie die Echtheit des Geschilderten verbriefen, zugleich jedoch ihren Status als Literatur hervorheben. Sie bieten viel Raum für Diskussionen, etwa die Frage, ob sich ein Autor wie Knausgård aus der Verantwortung stiehlt, wenn er zwar nachprüfbare Namen verwendet, potenziell aber jedweden Eingriff in die Privatsphäre seiner in sprachliche Zeichen verwandelten Freunde und Familienmitglieder mit dem Argument abwimmeln könnte, er habe die Privatsphäre seiner Nächsten zugunsten der Dichtung hintanstellen müssen: ein literarischer Ansatz, der ethische Fragen zugunsten einer diffusen, meist mit dem männlichen Künstlertypus verbundenen Genieästhetik unterdrückt.

Michael Lentz’ Roman Schattenfroh ist, wie so viel andere Prosa des beginnenden 21. Jahrhunderts, ebenfalls eine Autofiktion über den verstorbenen Vater, aber auch eine Psychogeografie des Selbst. Realistische Passagen, die einer Beichtstuhlliteratur à la Knausgård zustehen, gibt es zwar auch, jedoch lässt Lentz diesen 1000-Seiten-Ziegel mit dem Schadenfroh bedenklich nah verwandten Titel gerne ins Architektonische, Biologische, Ekphrastische, Historische, Philosophische, Poetologische, Spekulative und Theologische schweifen. Das Resultat ist ein Text, der sich über einen rutschigen Untergrund aus Referenzen bewegen muss, sodass es mitunter schwerfällt, den Räsonnements und den Hakensprüngen eines fabulierlustigen Geistes zu folgen.

Der Ich-Erzähler ist ein gewisser „Niemand“, ein Name, der nicht von ungefähr auf die Selbstbezeichnung anspielt, mit der Odysseus den Riesen Polyphem überlistet: Auf die Frage, wer ihn geblendet habe, antwortet der Zyklop, „Outis“, also „Niemand“, sei dafür verantwortlich. Lentz’ Protagonist ist jedoch kein griechischer Seefahrer, sondern ein Schriftsteller ohne Papier, ohne Stift, ohne Schreibmaschine und ohne Computer, der in sein „Gehirnwasser“ schreibt. Es ist also eine Bewusstseinsoperation, die sich nach und nach in Zeichen übersetzt.

Es lässt sich sogar behaupten, dass sie eine weiße, nicht mehr auszulöschende Schrift ist, die sich nach und nach auf einem freudianisch inspirierten Wunderblock ausbreitet. Bei diesem handelt es sich um eine immer neu verwendbare Aufnahmefläche, auf der zwar mit der Zeit und bei regelmäßiger Benutzung dauerhafte Spuren zu sehen sind, die sich jedoch in erster Linie dadurch kennzeichnet, dass die vom Stift hinterlassenen Zeichen wieder auslöschbar sind. Für Sigmund Freud ist der Wunderblock eine Analogie zur menschlichen Wahrnehmung, die vor einem Gegenstand auf- und wieder abflackert und bei gewissen einschneidenden Erlebnissen in tieferen Schichten des Bewusstseins dauerhafte Eindrücke hinterlässt.

Der Wunderblock lässt sich im Falle von Schattenfroh als eine topografisch ausgedehnte Fläche verstehen, auf der ein bestimmten Mustern folgendes Netz aus Zeichen eingeritzt wird: Bisweilen nicht nachvollziehbar, schlingt es sich mit dünnen Fäden über das leicht niederzudrückende Wachs und ist nur bei einer passenden Beleuchtung erkennbar, etwa dann, wenn die Tafel auf der Suche nach einer Antwort hin- und hergewendet wird. Kurzum: Was Lentz’ Roman betrifft,ist der Wunderblock das Fundament einer Art „Psychogeografie“, in der ein Ich-Erzähler wie Niemand mit seinem Vater Schattenfroh mit Hilfe von Erinnerungsbruch- und Lesefundstücken bis dato unbewältigte Konflikte, nun ja, ausbuchstabieren kann.

Was Niemand darzustellen versucht, ist die Seelenlandschaft, die er seit seiner Kindheit durchirrt hat:

Ein großes Gebäude ist zu erkennen, ein Büro, ein Vater, eine Zelle, ein mittelalterliches Essen, ein Verhör, eine schwarze Seite, eine Hölle, eine Kröte, eine Chimäre, ein aufgeschlagenes Buch, Ruprecht, Rilke, eine Himmelsreise, die Damen der sieben Vorzimmer, ein Thron Gottes, ein Wandteppich, ein Stadtplan, ein Muttergotteshäuschen, eine Stadtmauer, eine Holzmauer, ein Fratzenstuhl, eine Frau im Fenster, ein Teppich, ein Vorhang, eine Zelle, ein Schwert, ein Verhör, eine Hinrichtung, das Büro, eine Bibliothek, Mutter in einem großen Zug, ein Pflegeheim, ein Koffer und ein Mädchen, 23 Häuser, eine zweite Bibliothek, ein Schlüssel, ein ganzes Haus, das Jüngste Gericht, ein Hörgerät, eine Parkbank, Opa, die Eifel, Prüm, ein Treffen, ein Brunnen, eine Schlacht, eine Verhaftung, eine Druckerei, ein Pakt mit dem Drucker, ein Pressbengel, ein Schloss, eine Zelle, ein Verhör, eine Schrift gegen Luther, eine Hinrichtung, eine Intensivstation, Leib und Seele, ein Sterben, ein Tod, ein Hürtgenwald, eine Kneipe, eine Schlucht, ein Urteil, ein Richtschwert, ein Foto, ein Fluss.

Diese zunächst noch verwirrende Auflistung scheinbar nicht zusammengehörender Dinge, die später, angefangen beim letzten Punkt, wiederholt wird, ist eine Art provisorische Kapiteleinteilung, die dem Publikum mitteilt, welche Stationen es auf der Reise durch die Seelenlandschaft durchlaufen wird. Damit wird schon am Anfang des Romans deutlich, dass weder vonseiten des Autors noch vonseiten seiner Protagonisten ein peinlicher, autofiktionaler Striptease zu erwarten ist. Das Ich, also Niemand, schreibt sich sowohl in seine eigene, persönliche Erzählung als auch in die Geschichte der Eifel und Deutschlands ein. Es schildert das Wirken des Vaters, der, wie Lentz’ Vater auch, der Stadtdirektor von Düren ist, in der poetisierten Version der Geschehnisse jedoch über eine kafkaesk anmutende Behörde mit karnevalesken Ritualen (zum Beispiel einem ausufernden Bankett à la François Rabelais) herrscht. Es tritt in einen Dürener Stadtplan aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges ein und muss sich zur Strafe für diverse Vergehen am Bau der Stadtmauer beteiligen, es wird in die Opulenz von Werner Tübkes Bauernkriegspanorama eingeführt und die Familiengeschichte im Zweiten Weltkrieg beleuchten.

Immer wieder kommt es auf den Tod zu sprechen, der ja der Stichwortgeber für den Untertitel des Romans ist: Ein Requiem. Der Konflikt, den Niemand mit Schattenfroh ausficht, lässt sich somit auf eine seit den römischen Stoikern immer wieder gestellte Frage zurückführen: Wie lerne ich das Sterben? Nur ist es in diesem Falle nicht die Philosophie, die mögliche Abhilfen schafft, sondern der Vater des Erzählers, der Gott und Teufel in Beamtenunion und zudem mit seinem Sohn durch ein anagrammatisches, am Dreifaltigkeitsmodell orientiertes Verhältnis verbunden ist. Die unmögliche Antwort des Vaters könnte also lauten: Du, mein Sohn, lernst sterben, indem du mich, deinen Vater, der längst tot ist, durch die Schrift zurückholst ins Leben und mich rückbindest an alles, was du über den Vater, Jacques Lacans großen Anderen, als Figur weißt; ob dein Wissen nun aus der Theologie, der Literatur oder deinen Erfahrungen mit mir stammt, ist mir gleich, die Hauptsache ist, dass du schreibend nicht nur meine, sondern auch deine eigene Vergänglichkeit bedenkst, indem du deine Schrift genauso zerbrechlich und fahl werden lässt wie das Leben, das sie hervorbrachte.

Zwar folgt Schattenfroh der oben angedeuteten Dramaturgie, es handelt sich aber keineswegs um einen in Kapitel und Unterkapitel eingeteilten Roman, sondern um einen fortlaufenden, durch Absätze, Einfügungen und typografische Besonderheiten wie Autografen, Skribentismen oder Ausschnitten aus anderen Büchern – etwa einer Märchenerzählung von Sophie von la Roche oder einer spanischen Originalseite aus dem Don Quijote – strukturierten Text, der sein Programm abspult, um am Schluss in einer Art kierkegaardschen Wiederholung, die nicht das Alte zurückbringt, sondern in sich das Neue erschafft, verändert zu sich selbst zurückzufinden. Das Medium hierfür ist die Schrift, die, ein- und ausgestülpt, verzerrt und geglättet, zerstört und wieder zusammengesetzt, die Gräben in Niemandes Seelenlandschaft vor Augen führt. Der Roman wimmelt nur so von Anagrammen, die eine Übersetzung wohl erschweren dürften.

Der merkwürdige Romantitel ist vielleicht das ausgebuffteste davon. Schattenfroh: Was soll das anderes als ein Oxymoron sein – wer ist glücklich, wenn er die Dunkelheit betritt, wer mit sich selbst im Reinen, wenn er gezwungen ist, ohne Garantie einer Antwort zu den Manen zu sprechen? Am Ende der langen Wanderung durch seine Psychogeografie wird Niemand dazu angeleitet, in einem Akt der nach und nach erfolgenden Sprachauflösung den Namen „Schattenfroh“ in Anagramme zu zersplittern. Scheint es auf den ersten Blick noch so, als würde er höheren Unsinn produzieren, ist im nächsten Moment die Überraschung groß, wenn der Name des Vaters und gleichzeitig des Textes, den Niemand zu schreiben genötigt wird, auftaucht und die Grundvoraussetzungen, -konflikte und -linien des Romans offenbart. „Heft“, „Front“, „Haft“, „Sohn“ – dies sind nur ein paar der verblüffenden Worte, die in der fruchtbaren Keimzelle dieses Archi-Anagramms stecken und auf über 1.000 Seiten erblühen.

Es lässt sich also behaupten, dass der Titel schon den ganzen Roman in sich trägt: die Schreibszene (das „Heft“) in Gefangenschaft (der „Haft“) und das auf Konflikt („Front“) beruhende Verwandtschaftsverhältnis („Sohn“) zu seinem Vater namens „Schattenfroh“. Der Erzeuger enthält also alles, was das Kind später ausmachen wird: die Schriftstellerei, die Kettung an die Familie, die Geschichte einer ganzen Region. Es ist ein Roman, in dem die einzelnen Figuren kaum voneinander zu trennen sind: Die Beziehung zwischen Vater und Sohn, angelehnt an die Heilige Dreifaltigkeit, in der der Sohn, der Vater und der Heilige Geist nicht unabhängig voneinander existieren können, ist nur ein Beispiel hierfür, es treten aber noch zahlreiche andere Protagonisten und Protagonistinnen auf, deren Identitäten sich in Anagrammen durch den ganzen Roman ziehen.

Schattenfroh ist also ein Buch, dem es an Sprachfixierung durchaus nicht mangelt. Mehr noch, das Rhetorische ist ein festes Element seiner Erinnerungspoetologie. Gegen Ende des Textes ruft Niemand die vielfach erzählte Anekdote über Simonides aus Keos auf, der zu einem Festmahl eingeladen wird, um dort ein Lobgedicht auf den Gastgeber zu singen. Dieser eröffnete ihm jedoch, dass er ihm nur die Hälfte des zuvor ausgemachten Lohns zahlen wolle. Kurz darauf wird er von zwei Männern nach draußen gerufen, sieht aber keinen auf der Straße stehen. Mit einem Mal bricht hinter ihm das Haus zusammen, der Hausherr und seine Gäste sterben. Die Leichen sind nicht mehr zu identifizieren, aber Simonides weiß noch, wer wo gesessen hatte. Wie die Erinnerung ist eine Rede an bestimmte Momente im Raum geknüpft: Um sich daran zu erinnern, was am Anfang steht, wählt der Sprechende einen bestimmten Punkt aus, etwa an der Wand oder auf dem Boden, und prägt sich so alle Bestandteile seines Textes in ihrer richtigen Reihenfolge ein. Die Rhetorik ist also eine Übung in Mnemotechnik, der Gedächtniskunst, der das Sterben eingeschrieben ist. „Man erinnert sich an sich selbst als eines Toten“, schreibt Niemand; das Sprechen ruft also nicht nur die Erinnerung etwa an einen Entschlafenen auf, sondern formt zugleich auch einen Raum, dessen Koordinaten sich abschreiten lassen.

In Niemandes Fall ist dies die Eifel: „Wenn man den Fuß in die Eifel setze, so Vater, müsse man gewahr sein, allerorten mit Seelen in Berührung zu kommen, und diese Seelen wüssten genau, was man denke, sie durchschauten den Körper und wüssten die Stunde des Todes.“ An dieser Stelle, die gegen Ende einer langen Reise nach Prüm und der von den Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs und seinen Unmenschlichkeiten geprägten Familiengeschichte steht, ist Niemandes persönliches Drama nicht mehr nur individuell; der Erzähler verortet sich buchstäblich und wortwörtlich in einer Landschaft, die, von der Arbeit der Menschen und ihrem Zusammenleben beeinflusst, die gleichen Lebens- und Sterbezyklen durchläuft wie das Leben: Geburt, Tod und Auferstehung. Niemand solle einfach dem Katholischen in der Luft folgen, dann würde er schon nach Prüm finden, sagt der Vater irgendwo: eine höchst unpräzise Wegbeschreibung, die die bis heute sichtbare Prägung der Gegend jedoch hervorragend veranschaulicht.

Lentz’ Roman arbeitet an einer Psychogeografie, die der Sprache ihren eigenen Tod einschreibt und damit dem Untertitel, Ein Requiem, gerecht wird. Es geht hier um das Sterben und nur um das Sterben: ein fürchterlich trauriges Geschäft, dem dennoch nicht der Humor fehlt, wie etwa die zahlreichen Anagramme beweisen; ihre Komik besteht darin, der Sprache etwas Unerwartetes, oftmals Abstruses abzutrotzen.

Kurz: Schattenfroh ist ein stilistisch äußerst reflektierter Text. Da nimmt es doch etwas wunder, wenn Roman Bucheli ihm in einem Move, der beim Erscheinen großer, zunächst unzugänglicher Literatur immer wieder zu beobachten ist, in seinem in der NZZ erschienen Artikel Stil ist nicht alles – aber ohne ihn geht auch nichts das Gegenteil vorwirft. In einer reichlich entspannten Klagerede versucht er, zu ergründen, weshalb die deutsche Gegenwartsliteratur seiner Ansicht nach an Formlosigkeit leidet. Hier ließe sich eine an Textbeispielen belegte Analyse erwarten, aber Bucheli fängt nicht dort an, sondern bei Jorge Mario Bergoglios Ernennung zum Papst, um anschließend zu älteren und neueren Anredeformen und dann endlich zu Lentz’ Roman zu kommen. Er spricht von enggefassten Routinen, etwa bei der Papstwahl, und wie sie sich durchbrechen lassen, etwa durch Bergoglios bescheiden wirkenden Auftritt, den seine Vorgänger eben nicht gepflegt haben. Übertragen auf literarische Formen hieße das, dass etablierte Lektüre- und Schreiberwartungen gezielt unterlaufen werden können, allerdings sollten sie dabei nicht in Beliebigkeit verfallen, sondern sich stets an einem erkennbaren Regelwerk orientieren.

Als Beispiel für ein formloses Werk führt Bucheli nun ausgerechnet Schattenfroh an; es ist fast unverschämt, wie wenig er in diesem als Kritik kaum zu titulierenden Text über seinen Lektüregegenstand zu sagen bereit zu sein scheint. Seine Einwände erscheinen nicht nur in Anbetracht von Niemandes Kritik an der katholischen Kirche und ihrer Rolle in der europäischen Geschichte mehr als verfehlt; mit Blick auf die allzu rasche Verdrängung ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg bezeichnet etwa der Großvater des Erzählers auf Seite 666 (!) einzelne Priester, die ihre geistliche Persona mit einer politischen vermischen, gar als „klero-faschistische Weihwasserwerwölfe“. Es entsteht der Eindruck, Bucheli habe den Roman überhaupt nicht gelesen, sein Vorwurf der Formlosigkeit ist schlicht und ergreifend nicht haltbar: Die eingangs zitierte Liste, im Buch zu finden auf Seite 31, bietet dem gewillten Publikum einen Fahrplan, wie dem ausufernden Text zu folgen ist; die Fixierung auf die Schrift und ihre Verzerrungen, das Rhetorische und die Topografie der Seelenlandschaft geben jedem, der noch mag, den Rest.

Die öde Allianz zwischen Formlosigkeit und Monotonie ist beileibe kein ausschließlich von Bucheli erfundenes Thema, in saturierender Regelmäßigkeit sucht sie sowohl die Feuilletonsalons hiesiger Buchspalten als auch die kümmerlichen Reste dessen heim, was im Ausland noch von der tagesaktuellen Literaturkritik geblieben ist, wie es etwa bei Maxim Biller geschah, der oft mit einem kraftmeiernden Theschen, deutsche Schriftsteller produzierten nur „Schlappschwanzliteratur“, aufzuwarten wusste (wie sähe denn die Poetik einer „Steifschwanzliteratur“ aus, und welche begrenzte und -schränkte Zielgruppe dürfte daran überhaupt mitschreiben?). Aber auch in nicht ganz so fernen Ländern fischt manch ein Redakteur im Trüben und entlockt der gammligen Suppe ein paar Abstrusitäten.

Kurz vor dem Beginn des Bücherherbstes 2018 schrieb der Kritiker und Autor Endre Ruset für die Zeitung Dagbladet einen Text – ob dieser ein Meinungskommentar oder eine Glosse sein soll, darüber ist sich die Forschung noch uneins – mit dem an dieser Stelle grob übersetzten Titel Den norwegischen Buchmarkt trifft in diesem Herbst eine Tsunamiwelle aus Muttermilch, in der er die frappierende thematische Überschneidung vieler Neuerscheinungen beklagte. Zu oft würden die Herausforderungen der Elternschaft thematisiert, was die Literatur langweilig werden ließe, und was sei denn aus dem guten alten Mann geworden, der in sein Heimatdorf zurückziehe, um seine Geliebte aus fernen Jugendjahren anzugeiern, ach, den gäbe es doch auch noch, egal, aber trotzdem. Ganz abgesehen davon, dass Artikel wie der von Bucheli trotz der Errungenschaften der Moderne einer Poetik der entgrenzten Behäbigkeit hinterherschlappen oder Sermonen wie diejenigen von Biller und Ruset über sexistische Gedankenautobahnen brettern, lässt sich der Vorwurf, Gegenwartsromane seien so form- wie substanzlos und in letzter Konsequenz für ein Nachdenken über unser Zusammenleben überflüssig, an einem Einzelbeispiel wie Lentz’ Schattenfroh entkräften, das nicht nur zeigt, wie die Rhetorik die Funktion einer Erinnerungstechnik erfüllen und eine eigene, vor allem den einen oder anderen Kritiker höchst irritierende Literatursprache erschaffen kann, sondern auch, dass sich das Individuum durch sein Sprechen immer in einen gegebenen historischen Kontext einschreibt.

Titelbild

Michael Lentz: Schattenfroh. Ein Requiem.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
1008 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783100439383

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