Kurt Schwittersʼ norwegisches Œuvre

Ein Beitrag zur Ästhetik des Exils von Leonie Krutzinna

Von Gabriele WixRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Wix

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der ersten Norwegenreise im Jahr 1929 ist der Einfluss des Norwegischen auf das künstlerische Schaffen des 1887 in Hannover geborenen und 1948 im englischen Exil verstorbenen Künstlers, Dichters und Werbegrafikers Kurt Schwitters anzusetzen. Diese Einflüsse entwickeln sich zu einer eigenständigen Werkgruppe, als er 1937 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten von Hannover aus ins norwegische Exil geht. „Neben die Verschränkung von Kunstformen, Gattungen, Fiktion und Realität tritt nun auch die Vermischung der Sprachen.“  Im Gegensatz zu anderen Exilanten arbeite Schwitters gezielt mit einer „Ästhetik der Mehrsprachigkeit, die sich in sein künstlerisches Merz-Verfahren einfügt“, so die Ausgangsthese von Leonie Krutzinnas 2019 bei Wallstein erschienener Dissertation Der norwegische Schwitters. Die Merz-Kunst im Exil. Schon 1997 hatte Klaus Stadtmüller im Postskriptum Verlag einen 208 Seiten umfassenden Band Schwitters in Norwegen: Arbeiten, Dokumente, Ansichten herausgegeben, in dem auch dem dort entstandenen literarischen Werk Raum gegeben wurde. Wohl versehentlich sucht man den Titel im Literaturverzeichnis vergebens, findet die bibliografischen Angaben jedoch in einer Fußnote. Denn natürlich steht auch die neue Untersuchung von Krutzinna in einer auf die Stationen seines Exils ausgerichteten Forschungstradition.

In Norwegen selbst setzte die Rezeption erst vergleichsweise spät ein und konzentriert sich immer noch eher auf den bildenden Künstler wie beispielsweise das unter Leitung der Kunsthistorikerin Karin Inger Hellandsjø vor rund zehn Jahren ins Leben gerufene Forschungsprojekt Kurt Schwitters in Norwegen, dem sich unter anderem die Restaurierung der Merzhütte verdankt. Im deutschsprachigen Raum hat die bahnbrechende Neu-Edition der Texte Kurt Schwitters (siehe auch die Rezension zu Julia Nantkes Dissertation Ordnungsmuster im Werk von Kurt Schwitters) sein intermediales literarisches Werk wieder verstärkt in das Interesse der Forschung gerückt. Für Krutzinna ergab sich über diesen aktuellen Forschungsschub hinaus ein entscheidender Anknüpfungspunkt in der 2007 erschienenen Studie von Evelyn Fux, die aus komparatistisch-interdisziplinärer Perspektive die Durchgängigkeit der Merz-Ästhetik in Schwittersʼ Werk aufgezeigt. Diese Ästhetik gelte ungeachtet von dessen „Form- und Gattungskonventionalität“ auch für das Spätwerk, das heißt dem Werkkomplex, dem Krutzinnas Untersuchung gewidmet ist.

Schwitters’ künstlerisches Schaffen ist durch die Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben charakterisiert. Er merzt mit Bild und Sprache ebenso wie mit Orten und Begegnungen im Exil, was Krutzinnas Zentralthese folgend eine neue Künstlerpersönlichkeit schafft: „Das Exilland als geografischer, gesellschaftlicher und kulturgeschichtlicher Raum zeigt ein neues künstlerisches Ich: den norwegischen Schwitters.“ Nach der Abhandlung von Voraussetzungen und Kontexten widmet sich der Hauptteil der Untersuchung dem „Werkkomplex Norwegen“, gegliedert in „Kunstformen“, „Themen, Motive, Narrative“, „Autorschaft“ und „Texte in norwegischer Sprache“. Ein Objekt im Kapitel „Kunstformen“ weckt besondere Aufmerksamkeit, eine Reisekiste, die – der Duchampschen Boîte en valise vergleichbar – eine verkleinerte Version einer Merz-Konstruktion darstellt. Im Materialrepertoire sind persönliche und künstlerische Zeugnisse, Verweise auf Konsumgüter, Zeitungsschnipsel. Diese Holzkiste wurde erstmals 2009 in einer Ausstellung in Oslo gezeigt. Erst nach der Ausstellung entdeckte man auf der Rückseite einer auf 1926 datierten Collage im Deckelinneren eine weitere Collage. Ihre Entstehung wird auf die mittleren bis ausgehenden 1930er Jahre geschätzt, fällt also in die Norweger Zeit. In der Beschaffenheit des Materials, das den Charakter eines Notiz- und Reisetagebuchs aufweist, entfaltet die Reisekiste eine Narration und dokumentiert mit zahlreichen collagierten Fahrscheinen Schwitters’ Entdeckung Norwegens.

Das große Verdienst der Publikation ist die textgenetische Aufarbeitung der auf Norwegisch verfassten Texte. In Schwittersʼ Nachlass gibt es insgesamt vier norwegische Texte, deren Autorschaft bislang jedoch nur in drei Fällen eindeutig geklärt werden konnte. Entgegen der Edition von Friedhelm Lach aus den 1970er Jahren weist Krutzinna nach, dass es sich bei den drei von Schwitters verfassten norwegischen Texten nicht um spätere Varianten handelt, sondern um genuine Entwürfe. Das verleiht ihnen eine ganz andere Gewichtung im Gesamtwerk. Die Texte dokumentieren darüber hinaus, wie Schwitters sich mehr und mehr in die norwegische Sprache einarbeitet. Im ersten überlieferten Text, dem Gedicht Erste Sinfonie auf Hjertöya, wird ein Zentralmotiv des Spätwerks thematisiert, die Insel Hjertøya vor Molde, die für Schwitters erst Urlaubsidyll war und dann Zufluchtsort werden sollte. Aufgrund von Briefzeugnissen datiert Krutzinna das Manuskript auf 1937, das Jahr seiner Einreise, also deutlich später als Lach. Wenn auch strukturell auf anderen Wegen sind hier wie in der berühmten Ursonate Musik und Literatur zusammengeführt. Bei dem Märchen Den fattige i anden (dt. „Der, der da geistig arm ist“) handelt es sich um einen der wenigen Texte, die Schwitters im Exil veröffentlichen konnte. Der dritte Text, das Drama Hvad er Sannhet? (dt. „Wahrheit“), eine Gemeinschaftsarbeit mit dem befreundeten Musiker Thorolf Høyer-Finn aus Molde, blieb dagegen Fragment. Krutzinna wirft dabei die Frage auf, ob das Stück – sofern es intendiertes Fragment sei – als ironischer Kommentar zu weltanschaulichen Positionen gelesen werden könne, deren Wahrheitsansprüche unvereinbar seien. Die Manuskripte und Typoskripte sind ganzseitig, zum Teil in Auszügen, schwarz-weiß reproduziert; die Handschriften sind zusätzlich transkribiert. Insbesondere bei den Entwürfen zu dem ersten Text wird die Bedeutung von Schwitters’ Sohn Ernst als Lektor und Nachlassverwalter deutlich: Das Manuskript wurde von Ernst Schwitters mit der Überschrift versehen; auf einem Durchschlag des Typoskripts findet sich ein Brief von Kurt Schwitters an seinen Sohn.

Ihrer besonderen Bedeutung wegen ist die erst 2009 entdeckte Collage aus Schwitters’ oben besprochener Reisekiste auf dem Umschlag der leinengebundenen Publikation von Krutzinna abgebildet (Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf). Über die Schwarz-weiß-Abbildung im Buch hinaus kann man die Collage so vergleichsweise groß in Farbe sehen und taucht mit den blau abgedruckten Landschaftsfotos in die Stimmung des Nordens ein. In unterschiedlich großen Schriftblöcken, horizontal und vertikal gesetzt, und in einer Farbigkeit, die auf Schwitters’ Arbeit Bezug nimmt, sind Autorin, Buchtitel und Verlag collageartig integriert, was das Buch mit einem Augenzwinkern zum Teil des Merz-Gesamtkunstwerks werden lässt.

Titelbild

Leonie Krutzinna: Der norwegische Schwitters. Die Merz-Kunst im Exil.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
331 Seiten mit 41 SW-Abbildungen, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783835334663

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