Was weiß die Literatur?

Helmuth Lethens „Erinnerungen“ durchlüften die deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Germanistenbiographien sind ein merkwürdiges Genre. Manchmal selbstverliebt wie bei Benno von Wiese (Ich erzähle mein Leben, 1982), manchmal selbstkritisch wie bei Walter Hinck (Im Wechsel der Zeiten, 1998), neuerdings vermächtnisartig wie bei Albrecht Schöne (Erinnerungen, 2020), unfreiwillig ironisch wie bei Franz K. Stanzel, der sich und seinem berühmten „Typenkreis des Erzählens“ eine autobiographische Festschrift gewidmet hat (Welt als Text, 2011). So weit geht der Germanist Helmut Lethen nicht. Im Mittelpunkt seiner Erinnerungen steht zwar auch sein Haupt- und Lebenswerk, die Verhaltenslehren der Kälte (1994). Aber Lethens Anliegen ist Selbstprüfung. Es geht um die Lebenslaufgeschichten eines Wissenschaftlers, der am Anfang bekennt, dass „der Mensch für dieses Leben nicht schlau genug“ ist.

Das Titelzitat von Lethens Buch stammt aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper (1928). „Denn für dieses Leben / Ist der Mensch nicht schlau genug / Niemals merkt er eben / Diesen Lug und Trug“, heißt es da im Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens. Wäre aber nur Brechts Song das Programm, dann wären Lethens Memoiren nicht mehr als ein autobiographischer Sendemast für stoische Lebensbilanzbuchhaltung; der Literaturwissenschaftler erläge dem „Sound der Väter“. Als Kulturwissenschaftler, der diesen Vätersound bei Gottfried Benn (2006) durchdringend untersucht hat, nimmt Lethen das Brecht-Zitat vielmehr mit auf den Weg zu denen, für die es gemacht ist.

Es ist ein Weg mit Quer- und Andersdenkern, die aus verschiedenen Ideenmagazinen schöpfen, aber einig sind in der Suche nach einem radikalen Handbuch, das Lebensorientierung bietet und politischen Handlungsspielraum öffnet. Dieses Brevier hat der spanische Jesuit Balthasar Gracián geschrieben. Sein Handorakel (1647) enthält Regeln der Lebensklugheit. Ernst Jünger kannte es, Walter Benjamin hat 1933 in eine Ausgabe, die er seinem Freund Brecht schenkte, die oben zitierten Brecht-Verse hineingeschrieben. Helmuth Plessner, Heinz Dieter Kittsteiner, Richard Alewyn, Peter Szondi, Rüdiger Safranski, Hans Magnus Enzensberger sind andere Mentoren und zeitweilige Weggefährten. Lethens Anekdoten über seine Zeitgenossen sind geerdet und humorvoll. Theodor W. Adorno, den er auf einer Tagung der Studienstiftung 1967 mit Popsongs provozieren wollte, hat sich darum, beim weinseligen Gespräch mit einer Abendschönen, überhaupt nicht geschert. Von einem jüngeren Zunftkollegen, der sich beim Vorsingen für eine kulturwissenschaftliche Professur über ein naturwissenschaftliches Thema von einem Kritiker sagen lassen musste, dass er damit vor Physikern im Hemd dastünde, weiß Lethen zu berichten, der Kulturwissenschaftler habe daraufhin geantwortet, was das denn ausmache, er sehe auch im Hemd gut aus. Friedrich Kittler errechnete einmal aus dem Stand heraus die Wahrscheinlichkeit, dass es eine V2-Rakete gewesen war, die der junge Helmut Lethen zum Kriegsende über einem Feld in der Schneeeifel gesehen hatte. 

Lethen erzählt sein Leben als Lese- und Lernbiographie mit Hindernissen. 1939 in Mönchengladbach geboren, erlebte er die Vibrationen im Luftschutzkeller und den Anblick der erschöpften Kriegsheimkehrer, darunter auch seines Vaters, der nach der Rückkehr 1947 sein Hutmachergeschäft wiederaufbaute. Lethen begann sein Studium, in Peter Handkes Worten, „traditionsunfähig“, mit einer Unterdruck-Identität, die er repräsentativ für viele seiner Generation namhaft machte: „Die historische Konstellation  hat mehr aus uns herausgeholt, als drin war.“ In Amsterdam lief er in einem Mantel der niederländischen Luftwaffe herum und hörte die Beatles auf einem Grachtenboot. In Berlin nahm Lethen an den Studentenprotesten bei, boykottierte Albrecht Schönes Goethe-Vortrag auf dem Germanistentag 1968, plünderte Peter Szondis Büro an der FU Berlin und engagierte sich in der maoistischen Gruppe der Kommunistischen Partei, die ihn später, 1975, wegen „Versöhnlertums“ ausschloss. Auf seinem akademischen Weg, der von Utrecht über Rostock nach Wien führte, war das für Lethen nicht gerade durchgehend nützlich. Seine politischen Erfahrungen haben ihn aber gelehrt, dass die Kraft des Denkens aus Enttäuschungen und Selbsttäuschungen kommt, aus einem Kopf, der es aushält, wenn die Stirn gegen die Wand der Wirklichkeit prallt.

Den Leser hält Lethen mit klugen Zwischenbilanzen, die Selbstkritik nicht scheuen, auf Distanz, schlägt ihn jedoch auch immer wieder in Bann, gerade in den Kapiteln über seine wissenschaftlichen Lehrjahre: „In verschlossene Archive einzudringen, Antiquariate zu durchkämmen, Schulbücher zu säubern, sich bei französischen, chilenischen und amerikanischen Studentinnen und Studenten unterzuhaken und im gleichen Zeitraum eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen, die Neuland erschloss, das war reines, das heißt arbeitsintensives Glück.“ Mit „dem Hintern auf der Heizung“ schrieb er von 1989 bis 1993 in seiner Küche in einer Maarssenbroeker Plattenbauwohnung die Verhaltenslehren der Kälte. Das Buch schlug ein in die intellektuelle „Betroffenheitskultur“ der Zeit, der Titel wurde zum geflügelten Wort und landete auf Musikalben und Werbeanzeigen für Pelzdessous. Aleida Assmann hat 2019 Lethens Kälte-Lehre in den Kreuzungspunkt von Schamkultur der NS-Zeit und Schuldkultur der Nachkriegszeit gestellt.

Besonders faszinierend werden Lethens Erinnerungen da, wo er die Entstehung des kulturwissenschaftlichen Denkens aus Ausstellungsbesuchen, Bild-Betrachtungen, aus Film und Architektur herleitet. Es ist ein Denken vom Wissen der Künste, ein Schreiben zwischen den Stühlen der Disziplinen, dynamisch, dickfellig und vielleicht auch manchmal zu dick aufgetragen, wenn es um die eigene Rolle beim Aufschwung der Kulturwissenschaften geht. Es bleibt der Eindruck: Helmut Lethen ist ein genauer und wendiger Leser seines Lebens, dem Deserteure und Renegaten näher sind als geistige Mainstreamer und der sich auch um den „Riss in der Evidenz“ sorgt, den seine Frau mit ihrem Engagement in der identitären Bewegung der Neuen Rechten hinterlassen hat. Lethen sieht die Dinge kalt. Aber er erzählt von ihnen als ausstrahlenden Objekten, die Lernprozesse auch in einem Raum mit Minusgraden ermöglichen. Sein Erinnerungsbuch ist ein Handbrevier vom Wissen der Künste, Irrtum und Erkenntnis eingeschlossen, wovon man auch in diesen Corona-Zeiten gut zehren kann.
 

Titelbild

Helmut Lethen: Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020.
320 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100885

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