Folgen einer Theorie

Der österreichische Anglist Franz K. Stanzel versammelt in „Welt als Text“ sein Lebenswerk

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Namen des 1923 in Oberösterreich geborenen Franz K. Stanzel untrennbar verbunden ist der Typenkreis der Erzähltheorie. Mehrere studentische Generationen haben von hier aus zwischen auktorialer, personaler und Ich-Erzählsituation zu unterscheiden gelernt. „Die typischen Erzählsituationen im Roman“ (1955) und „Theorie des Erzählens“ (1979), in der 8. Auflage 2008 erschienen, gehören zu den Bestsellern der Literaturwissenschaft, auch wenn Stanzels Prämissen durch das flexiblere narratologische Modell von Gérard Genette weitgehend überholt worden sind.

„Welt als Text“ ist das vom Autor souverän eingerichtete Resümee der eigenen, 60-jährigen Forschungstätigkeit, eine Festschrift aus eigener Hand sozusagen. Ihr Verdienst ist es aber nicht allein, verstreut Publiziertes aufzusammeln und in eine neue Ordnung zu bringen. Im Querschnitt nämlich tritt erst der historische Wandel zutage, dem Stanzels Erzähltheorie unterliegt. Die „Grundbegriffe der Interpretation“, die der Untertitel des Buches verspricht, haben eine Geschichte. Und die versteht der Autor geschickt und nicht ohne Selbstkritik zu erzählen, zumal im Prolog: Der Kriegsgefangene in England, der als Konviktschüler bei den Steyrer Franziskanern den Schutzbundaufstand 1934 „hautnah“ miterlebt hatte und am 17.11.1942 von einem britischen Piloten aus dem Mittelmeer gezogen worden war, entdeckte mit Wordsworth die Literatur als Lebensschwur („I made no vows, but vows were made for me“). Und, wenig später als Stipendiat in Harvard, die „Theory of Literature“ (Wellek/Warren) als sein wichtigstes wissenschaftliches Entdeckungswerkzeug („discovery tool“).

Im Mittelpunkt steht natürlich Stanzels strukturalistisch inspirierte Erzähltheorie mit dem berühmten Typenkreis, der Zentralopposition „Reflektorfigur / Erzählerfigur“, der „Erlebten Rede“ und den drei oben genannten Erzählsituationen. Es lohnt sich nachzulesen, wie sich diese Grundsätze im Spannungsfeld zwischen Dichtungslogik (Käthe Hamburger) und Theorie entwickelt haben. Die Frage, ob der auktoriale Erzähler nun eine greifbare Figur oder nur eine ,Erzählfunktion‘ sei, rührt an die narratologische Basis – auch wenn der Streit um die Urheberschaft des Beispielsatzes für die „erlebte Rede“ heute etwas altbacken anmutet; Hamburger schrieb „Morgen ging sein Flugzeug“, später „sein Schiff“, während Wolfgang Kayser abermals das Exemplum wechselte („Morgen ging sein Zug“). Jedenfalls ändert das Verkehrsmittel an der Beweiskraft der „Dual-Voice“-Funktion der „erlebten Rede“ nichts.

Recht gelassen geht Stanzel auch mit der Kritik „Schlechte Theorie, gute Interpretationslehre“ um. Mittlerweile hat man sich daran gewöhnt, mit den Genette‘schen Kategorien der Fokalisierung zu operieren, die differenzierter, konstellationsoffener und widerspruchsfreier sind als Stanzels idealtypische Entwürfe.

Ein weiteres Großkapitel von Franz Stanzels Buch widmet sich dem Feld der Imagologie. Auch hier liegt Wegweisendes vor: Bausteine für eine Geschichte der Stereotypenforschung, in der es um die „Existenz eines weit verbreiteten Nationalklischeearsenals am Beginn der Neuzeit“ geht und um die Ethnisierung der Temperament-, Laster- und Ständetypen etwa aus den Epithetonlexika des 16. und 17. Jahrhunderts oder in der (europäischen) Völkertafel aus der Steiermark, in denen dem deutschen Charakter als Lieblingszeitvertreib „Mit Trincken“, dem spanischen „Mit Spillen“, dem englischen „Mit Arbeiten“ zugeschrieben wird. Auch hier verpackt Stanzel eine Trouvaille als Lokalanekdote: dass James Joyce um ein Haar die imagologische Chance verpasst hat, die Steiermark im „Nestor“-Kapitel seines „Ulysses“ unterzubringen.

Mit der Telegonie – der „Fernzeugung“ – hat Stanzel ein randständiges Gelände betreten, das in den meisten literaturwissenschaftlichen Standardlexika nicht lemmatisiert ist. Es handelt sich darum, dass die Imagination „nicht monogam“ ist, sondern in der Vorstellung abwesender Geschlechtspartner eigene Kinder zeugt. Das zu belegen, gelingt in Goethes „Wahlverwandtschaften“ (1809) einigermaßen mühelos, muss aber in Stifters „Nachsommer“ (1857), wo es nur zu einem „sprechenden Namen des Erstgeborenen“ reicht, mit einem dicken Fragezeichen versehen werden. In losem Zusammenhang damit stehen die kürzeren Kapitel über „Sex im Roman“, von dem man sich aus dem Bereich der Gegenwartsliteratur getrost etwas mehr erwünscht hätte als die Quantifizierung der Fellatio in Jonathan Franzens „Freedom“ (2010). Anschlussfähig an die aktuelle Forschungslage sind indessen die Überlegungen, die Stanzel zum poetischen Verhältnis von Fakten und Fiktion anstellt. Grass habe in seine Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ (2006) eine „fiktionalisierte Version“ von Selbsterlebtem übertragen: Das wirft ein neues Licht auf die Konstruktion von Literatur als Lebensbekenntnis.

„Der Schriftsteller“, so zitiert Stanzel Doderer, „schlüpft in eine erfundene Jacke und kommt bei realen Ärmeln heraus“. Stanzel kennt viele dieser „Jacken“ in und auswendig. So liest er im großzügigen Rückblick die Welt der Literatur als Erzähltext und als Erzähltheorie. Seine „Grundbegriffe der Interpretation“ mögen kritisierbar und mancherorts korrigiert sein. Diskutabel und lehrreich bleiben sie allemal. Ein studierenswertes Buch eines namhaften Nestors des Fachs.

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Franz K. Stanzel: Welt als Text. Grundbegriffe der Interpretation.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011.
410 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783826046698

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