Unkonventionelle Betrachtungen

Sibylle Lewitscharoff unternimmt in „Geisterstunde“ essayistische Ausflüge

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Erzählungen und Romanen durchbricht Sibylle Lewitscharoff, deren Werke etwa mit dem Kleist- und dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurden und eine breite Leserschaft finden,  oft eingeübte und vertraute Sehweisen. Sie bricht nicht nur auf, sie bricht aus, positiv gewendet: Sie redet frei und pointiert, erregt natürlich auch Anstoß. Der neu erschienene Band vereint kleine Texte, Rezensionen und Festreden aus den letzten rund zwanzig Jahren. Die studierte Religionswissenschaftlerin, auch als ungeschmeidige protestantische Christin sichtbar und präsent, denkt über Stefan George nach, kommentiert Hermann Hesse, Thomas Mann und Friedrich Schiller. Die Texte sind Gelegenheitsarbeiten, zuweilen einfach auch Schriftstücke, die neben den großen literarischen Werken entstanden. Die Autorin schreibt und spricht unverstellt, unmaskiert, nicht respektlos, aber wohltuend deutlich.

Fjodor M. Dostojewski wird bis heute bewundert, verehrt, gepriesen. Wer wagt, in Anbetracht seiner – altmodisch gesagt – Meisterwerke zu stöhnen? Vladimir Nabokov missbilligte die Arbeiten des tiefgründigen Romanciers. Lewitscharoff geht noch weiter und schreibt beherzt: „Dostojewskis Szenen haben manchmal etwas Groschenromanhaftes und sind dann primitiv geschrieben.“ Männer verdürben Frauen, Frauen wiederum Männer, ein Sammelsurium der „Herzschmerztrutschen“ werde dargeboten: „Tumb, neurotisch, Gehirne maximal walnußgroß.“ Wie denkt die Autorin aber über die philosophischen Resonanzräume dieses Werkes, über die existenziell bedeutsamen Betrachtungen zu Religion und Kultur? Sie äußert sich beglückend eindeutig, erfrischend unverschämt, ja unverstellt:

Mir geht auch die religiös-antireligiöse Haltung Dostojewskis auf den Wecker. Wiewohl man nicht leugnen kann, daß er zu den intensiven Gottesgrüblern zählt, die es sich nicht leicht machen. Bei ihm kommen noch die ödesten, unverbesserlichsten Sünder unversehens in den Geruch der Heiligkeit. Ihr Böses beinhaltet gleichsam einen auf den Kopf gestellten Erlösungstaumel. Derart exzessiv ausgekostet, pervertiert diese Fixierung auf bestimmte Formen der Sünde plus Erlösungsbonus allerdings die christliche Botschaft. Salopp gesagt, der Russe Dostojewski wähnt die Säufer, die eine Spur der Verwüstung hinter sich lassen, schlußendlich im Himmel.

Manches aber sei ihm durchaus gelungen, sehr gut sogar. Er war auch ein Experte für die „abwegige Seite des Religiösen“. Eine Leseempfehlung gibt Sibylle Lewitscharoff trotz alledem. Sie macht neugierig auf ein Werk, dem das Etikett „Weltliteratur“ anhaftet und zeigt: Dostojewski war – wahrscheinlich – schon sehr groß, aber er hatte auch erhebliche Schwächen. Oder irrt sie sich? Wer mag, ist eingeladen, seine Romane selbst zu lesen.

Über die Vermarktung von Literaten, genauer gesagt: von Fotos denkt die Autorin ebenso nach. Der Schriftsteller sei in der Regel kein Abenteurer, das Literatenleben reich an „öden Strecken“. Auf den Buchdeckeln erscheinen große Meister als „kleine Popanze“. Als Alternative empfiehlt Lewitscharoff „Tiermasken“, ein „kindlicher Erwachsenenwunsch“ sei es, mit Tieren sprechen zu können:

Wie sehr bewundere ich die Dinkas, deren Hirten, als sie noch nicht vertrieben waren, für ihre Kühe Lieder dichteten und sie ihnen vorsangen.  Stellen Sie sich bitte vor: Peter Handke, der die Spatzen liebt und ihnen die muntersten, zwitschrigsten Passagen seiner Prosa gewidmet hat, weilte in der Öffentlichkeit als Spatzenschönheit. Wäre das nicht wunderbar?

Meisterhaft fotografiert wurde Stefan George, er wirke, „als habe er sich niemals bewegt“: „Reptilienhafte Reglosigkeit, und nur ein kleines Pochen am Hals, das man sich als Andeutung hinzudenken mag zum Beweis, daß dieses sonderbare Geschöpf tatsächlich lebte.“ Mit großer Klarheit und Einfachheit würdigt sie den Dichter, grenzt sich von der Verklärung der Gestalt genauso ab wie von den billigen Ressentiments seiner Gegner: „Trauen sollte man in Sachen Stefan George keinem, den Jüngern nicht und seinen Gegnern erst recht nicht. Traulich sollte man die Gedichte hervorziehen und sich an ihnen erfreuen.“ Sie lobt Hermann Hesse, natürlich auch die Werke, mehr noch die Person des Schriftstellers:

Für die Leiden der Todgeweihten empfand er Mitleid, und er tat einiges, um Flüchtlinge zu beherbergen und ihnen weiterzuhelfen. Er war ein nobler, mitfühlender Charakter, und das, mit Verlaub, ist mehr wert als alles Geschreibsel zusammen, das ein Schriftsteller im Lauf seines Lebens versammeln kann, sei er nun erstrangig, zweitrangig, drittrangig oder ein Dilettant.

Friedrich Dürrenmatt schildert Sibylle Lewitscharoff nuanciert, facettenreich und differenziert. Der Protestant kehrte sich von Gott und der Kirche ab, nach und nach, trotzig, entschlossen. Der eigenwillige Autor zweifelte nicht am Zweifel. Er lechzte nach Realien. Der Glaube sei – im Protestantismus überhaupt – wie ein „Gehen auf einem schwankenden Seil“. Dürrenmatt hegte Skepsis „gegenüber Wundern, die allzu schnell zum Wunderlichen tendieren“, aber „zu guter oder schlechter Letzt rebelliert der kritikaufgekratzte Geist dann auch gegen das Wunder der Auferstehung“. Die Protestantin Lewitscharoff versteht die „Kirchenabstinenz“ Dürrenmatts:

Maßlose Anbiederung an den jeweils aktuellen Jugendkult, unfaßlich dummes Geplapper von maßgeblichen Kirchenfiguren in den Medien, das alles hat die Kirche, der ich angehöre, und der auch Friedrich Dürrenmatt angehörte, schier bis in die Grundfeste geschleift. Die frohe Botschaft superleicht und superseicht, womöglich mit eunuchoiden Stimmchen zur Klampfe gesungen.

Sie berichtet auch von Dürrenmatts Reise nach Auschwitz. Über das abstrakte Denkmal inmitten der Gedenkstätte sagte er: „Es gibt Gelände, da hat Kunst nichts zu suchen.“ Die Autorin bestätigt dies: „Wohl wahr, das möchte ich doppelt und dreifach unterschreiben.“

Zum Reformationsjubiläum hielt Sibylle Lewitscharoff auch eine Rede über Martin Luther. Er habe oft „gezittert wie eine Espe“, dieser „begabte Glaubensschäumer“, aber sein Gottvertrauen sei überwältigend groß gewesen: „Luther hielt die Barmherzigkeit Gottes für so umfassend, daß die Mühewaltung des Menschen, diese durch gute Taten zu erlangen, für ihn unerheblich war gemessen am göttlichen Gnadenfluß, der alles Tun und Lassen des Menschen überspülte.“ Dieser Band macht neugierig, weckt Leselust, gewährt neue Einblicke und überraschende Perspektiven. So wie Lewitscharoff schreibt, provokativ, gewitzt und klug, wird deutlich, dass Literatur nicht als Narkosemittel taugt. Manchmal wirken ihre Texte buchstäblich frech, im besten Sinne: Diese Frau hat keine Angst, sie sagt freiweg, was sie denkt.  Niemand muss mit allem, was hier über Literatur dargelegt wird, einverstanden sein – die Schriftstellerin selbst bewundert und kritisiert. Natürlich darf man ihr widersprechen, jederzeit, gut begründet. Sibylle Lewitscharoffs Essays voller Leidenschaft vermehren die Freude am Lesen und Denken ungemein.

Titelbild

Sibylle Lewitscharoff: Geisterstunde. Essays zu Literatur und Kunst.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
293 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518469477

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