Literatur als Scheuerpulver

„Ins Erzählen flüchten“: Über die St. Gallener Poetikvorlesungen des Schweizer Autors Jonas Lüscher

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welche Aufgabe hat die Literatur im Zeitalter des digitalisierten Kapitalismus? Für Jonas Lüscher sind Narrationen ein dringend notwendiges Gegengewicht angesichts der „quantitativen Blendung“, die unsere Gesellschaft kennzeichne. Damit meint der Schweizer Autor den totalitär gewordenen Kapitalismus, der seit dem späten 20. Jahrhundert in sämtliche Gesellschafts- und Lebensbereiche eingedrungen sei und noch das Privateste und Intimste einer Kosten-Nutzen-Rechnung unterstelle. Umso wichtiger sei es, so Lüscher, im Medium der Literatur am Beispiel von Einzelfällen die Folgen dieser „Durchökonomisierung“ zu erkunden.

Eben dies unternimmt der 43-jährige Wahlmünchner in seinen bisherigen Prosawerken. In der Novelle Frühling der Barbaren (2013) manifestieren sich in einer dekadenten Hochzeitsfeier Londoner Banker in der Wüste die Absurditäten globalisierter Märkte. Vier Jahre später ließ Lüscher in seiner für den Deutschen Buchpreis nominierten Gelehrtensatire Kraft auf Romanlänge einen Vordenker des Neoliberalismus so hautnah dessen Verwirklichung erleben, dass dieser an seinem eigenen Weltbild schier irre wird. Wenn man jetzt noch an Generationsgenossen Lüschers wie Nora Bossong, Thomas von Steinaecker oder Philipp Schönthaler denkt, muss man sagen: Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur hat endlich die Bedeutung der Ökonomie entdeckt! Über diese Entwicklung dürfte sich nicht nur Ernst-Wilhelm Händler freuen, der hierzulande das Feld des Wirtschaftsromans zwei Jahrzehnte lang quasi im Alleingang beackerte.

Gute Zeiten für Literatur also? In seinen jetzt in Buchform erschienenen Poetikvorlesungen, im Frühjahr 2019 in St. Gallen gehalten, berichtet Lüscher, wie er sich selbst vor der „quantitativen Blendung“ Schritt für Schritt in die Literatur gerettet habe. Ganz ohne Selbststilisierung kommt er dabei leider nicht aus: So arbeitete Lüscher zunächst als Dramaturg fürs Fernsehen, einem von der „quantitativen Blendung“ in Form von Einschaltquoten besonders geknechteten Medium. Als er aber seinerzeit in einem Interview mit dem damaligen Sat1-Chef lesen musste, beim Fernsehen würden Geschichten nur erzählt, um Werbung zu verkaufen, sei er umgehend aufgestanden und habe gekündigt, so Lüscher.

Und als er wenige Jahre später die Folgen der „quantitativen Blendung“ im Rahmen einer philosophischen Doktorarbeit untersuchen wollte, inklusive eines Forschungsstipendiums in Stanford übrigens, habe er so lange über das Verhältnis von Allgemeinbegriffen und kontingenten Einzelfällen nachgedacht, dass ihm zuletzt die Wörter „wie modrige Pilze“ im Mund zerfallen seien. Als postmodernem Wiedergänger von Hofmannsthals Lord Chandos sei ihm nur noch die Wahl zwischen Rückzug in eine Privatsprache, ins Schweigen oder Selbstmord geblieben.

Zum Glück überließ er Letzteres dann aber seinem Romanprotagonisten und „flüchtete“ also selbst lieber dorthin, wo kontingenter Einzelfall und Individuum seit jeher beheimatet sind, in die Literatur. Dass er aber den Philosophen nicht völlig hinter sich gelassen hat, macht gerade die erste der drei Vorlesungen deutlich. Wobei man über die Notwendigkeit dieser Tour de Force durch die Geistesgeschichte durchaus streiten kann. Den Gegensatz zwischen „Erklären“ und „Beschreiben“ gibt es also schon seit Platon und Aristoteles, so what, möchte man einwenden. Interessanter wird es, wenn Lüscher im zweiten Teil mit Hilfe von Gewährsmännern wie Richard Rorty oder Isaiah Berlin den heutigen Stand der Dinge untersucht und sein eigenes Literaturverständnis erläutert.

Statt wie beim Fernsehen marktgängige Geschichten zu produzieren, in denen bestenfalls „Schwerverdauliches“ runtermassiert wird („die Narration als Gleitmittel für trockene Zahlen“), will Jonas Lüscher heute den Leser lieber auf reflexionsförderlichen Abstand halten. Damit Literatur aber als Scheuerpulver zur Bewusstseinsreinigung dienen kann – das Ideal einer „narrativen Gesellschaft“ im Hinterkopf –, will Lüscher in seinen Texten ein Wechselspiel zwischen „Immersion“ (früher nannte man das „identifikatorische Lektüre“) und „Distanz“ erzeugen. Daher die verschachtelten Erzählkonstruktionen, die ein allzu geschmeidiges Abtauchen in die Fiktion verhindern, in seinen Texten oder komplexe Unsympathen, mit denen eine Identifikation eher schwerfällt, als Hauptfiguren.

Nun muss man freilich sagen, dass Lüscher mit diesem hehren Anspruch in der ernstzunehmenden deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eher die Regel als die Ausnahme darstellen dürfte. Dass er sich zudem selbst als politisch engagierten Autor im Sinne Jean Paul Sartres versteht, gut und schön, dennoch erscheint seine Abwertung von Autoren, die nicht wie er selbst mühsam um jedes Wort ringen, sondern das Schreiben lustvoll um seiner selbst willen betreiben wie die von ihm als Gegenbeispiel angeführte Friederike Mayröcker, reichlich unnötig.

Angesichts so viel selbstwertdienlicher Selbstverortung im Literaturbetrieb möchte man gern mal eine böse Frage stellen. Wenn „Immersion“, das lustvolle Eintauchen in Erzählwelten, so problematisch ist, wie der Schweizer Autor behauptet: Warum gibt es dann Erzählwerke, die wie etwa George R. R. Martins Lied von Eis und Feuer ganz auf dieses höchst marktgängige Prinzip setzen – und die dennoch mehr über uns selbst verraten als so mancher „anspruchsvolle“ Roman?

Wie aktuell Lüschers These von der unsere Gesellschaft beherrschenden „quantitativen Blendung“ in jedem Fall ist, zeigt nicht zuletzt die andauernde Corona-Krise. Die Auseinandersetzung darüber, was im Zweifel wichtiger ist, die Wirtschaft oder Menschenleben, dürfte sich nach Lage der Dinge in den folgenden Wochen und Monaten weiter zuspitzen. Von Jonas Lüscher selbst war zuletzt zu lesen, dass er sich nach einer schweren Covid-Erkrankung und sieben Wochen im künstlichen Koma inzwischen erfreulicherweise wieder auf dem Weg der Besserung befindet. Angesteckt habe er sich vermutlich im März bei den Kommunalwahlen in München, wo er beim Auszählen der Stimmen half. In Interviews unterstrich der Schriftsteller erneut die Bedeutung von Narrativen, die die statistischen Erkenntnisse, in diesem Fall die der Epidemiologie, in „Erzählungen mit Erklärungsqualität und Welthaltigkeit“ verwandeln. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Erkrankung bezeichnete er die Erzählung mancher Immunologen, Corona sei für gesunde Menschen unter 45 ungefährlich, als „schon sehr seltsam“.

Noch offen ist freilich, welche Narrative sich gesellschaftlich durchsetzen werden: die von kompetenten Wissenschaftserzählern wie dem Virologen Christian Drosten oder die der Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker.

Titelbild

Jonas Lüscher: Ins Erzählen Flüchten. Poetikvorlesung.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
111 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783406748868

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