Aus der Vergangenheit in die Gegenwart
Ein Gespräch mit den VerlegerInnen des neu gegründeten MÄRZ Verlags
Von Sascha Seiler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs ist die wohl größte Überraschung des Buchmarkts im Jahr 2022: Der legendäre MÄRZ Verlag hat sich wiedergegründet. Und zwar nicht als reines Lizenzunternehmen, sondern als Fortführung des von Jörg Schröder Ende der 60er Jahre ins Leben gerufenen Mekka der bundesdeutschen Gegenkultur, das leider 1988 seine Pforten schließen musste. Zwei Jahre nach Schröders Tod wagt nun Barbara Kalender gemeinsam mit dem früheren Matthes & Seitz-Lektor Richard Stoiber einen neuen Anlauf, und das Konzept ist ebenso einfach wie genial: Die Frühjahrs- und Herbstprogramme umfassen zu gleichen Teilen Neuauflagen der vergriffenen MÄRZ-Klassiker wie neue Bücher, die mit diesen in einen Dilaog treten sollen. Sascha Seiler traf Barbara Kalender und Richard Stoiber zum Gespräch.
literaturkritik.de: Wie kam die Idee auf, den MÄRZ Verlag wieder neu zu gründen?
Richard Stoiber: Um mal etwas anders auf die Frage zu antworten: Vielleicht hatte sogar ich die Idee, den MÄRZ Verlag wiederzubeleben, und zwar bereits mit 19 Jahren. Als meine Freunde und ich versuchten, in der Literaturszene Fuß zu fassen, war der MÄRZ Verlag unser ästhetisches und inhaltliches Vorbild. Gerade in der Mischung aus anspruchsvoller Literatur, experimenteller Literatur, Pornographie und Revolution. Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich in 15 Jahren neben Barbara Kalender sitzen würde und wir am zweiten Verlagsprogramm arbeiten, hätte ich es sicher nicht geglaubt. Neben meinem lang gehegten, aber nicht geäußerten Wunsch, gab es dann vor eineinhalb Jahren den Moment, an dem Barbara vor dem Büro meines ehemaligen Arbeitgebers Matthes & Seitz Berlin stand und ich, als ich vor die Tür ging, um eine zu rauchen, quasi in sie hineinlief.
Barbara Kalender: Seit 1981 arbeite ich im MÄRZ Verlag. 1990 begannen Jörg Schröder und ich das erste Desktop-Publishing-Projekt der BRD, dreißig Jahre lang entstanden die Folgen von Schröder erzählt. Wir verknüpften die modernste Technik mit alter Buchtradition. Gleichzeitig lieferten wir das MÄRZ-Archiv ins Deutsche Literaturarchiv ein. 2018 folgte die Einlieferung der grafischen und buchherstellerischen Materialien ins Institut für Buchwissenschaft in Leipzig. Ein Jahr später fand dort die Doppelausstellung über den MÄRZ und den Karl Quarch Verlag statt, also eine Ost-West-Geschichte. Nach Jörg Schröders Tod vor zwei Jahren überlegte ich mir, dass es doch schön wäre, wenn MÄRZ wieder neu auflebt. Also erstellte ich ein Exposé und listete auf, wie viele Titel im Verlag erschienen sind: insgesamt 174. Dann fragte ich einige Verleger, ob sie sich vorstellen könnten, MÄRZ mit mir neu zu machen. Und so habe ich über Matthes & Seitz Richard Stoiber kennengelernt.
Stoiber: Ich habe dann nach fast zehn Jahren postwendend meine Kündigung eingereicht. Das war im Oktober 2020. Dann hat es so ein halbes Jahr gedauert, bis wir das Firmengerüst und die Finanzierung geklärt hatten, mit welcher Auslieferung und mit welchen Vertretern wir arbeiten.
literaturkritik.de: Herr Stoiber, Sie haben gerade erwähnt, dass Sie bereits mit 19 Jahren sehr interessiert am Verlagsprogramm von MÄRZ waren. Wie sind Sie denn in jungen Jahren zu den Texten gekommen und wie haben Sie diese wahrgenommen?
Stoiber: Mein Deutschlehrer hat sich meiner damals sehr angenommen und hat mich zu einem Projekt weitergeleitet, das von der Sparkassen Stiftung in Köln finanziert wurde: die Erste Kölner Schreibschule. Sie wurde vom mittlerweile ebenfalls verstorbenen Dieter Bongartz geleitet. Da saßen dann 16 Jugendliche jedes Wochenende im Keller der Sparkasse und haben augenscheinlich geschrieben, vielmehr aber eine gute literarische und theoretische Bildung durchlaufen. Dieter Bongartz war wiederum ein großer Fan des MÄRZ Verlags und bis zu seinem Tod vor ein paar Jahren auch strammer Sozialist. Der hat uns da so herangeführt und ich konnte mich sehr dafür begeistern. Aus diesem Kontext entwickelte sich dann, dass ich mit zwei Freunden mit 18, 19 Jahren in ganz Deutschland selbst Lesungen veranstaltet habe, also in Berlin, Hamburg, Frankfurt oder Köln. Unsere eigenen Texte haben wir im Selbstverlag veröffentlicht. Größenwahn und Dilettantismus der Jugend gepaart also.
literaturkritik.de: Sie machen ja jetzt doch etwas sehr Einzigartiges mit diesem Projekt, insofern, als dass sie auf der einen Seite Neues und auf der anderen Seite gleichberechtigt eine Auswahl der Klassiker aus dem Verlag herausbringen. War das das von Anfang an das Konzept?
Stoiber: Ja, die konkrete Zusammenarbeit sieht so aus, dass wir uns alle Bereiche, die es in einem Verlag gibt, aufteilen. Wir beide arbeiten noch mit acht ‚festen freien‘ Mitarbeitern zusammen. Die inhaltliche Auswahl gestaltet sich dann so, dass Barbara die Klassiker neu herausgibt, während ich für die Neuerscheinungen verantwortlich bin.
Kalender: Wir arbeiten eng zusammen, da wir großen Wert darauf legen, dass das jeweilige Programm gut gemischt ist. Das ist mir wichtig zu betonen.
Stoiber: Alle Bücher eines jeweiligen Programms sollen in Dialog miteinander treten. Wenn man sich das erste Programm anschaut, haben wir als Klassiker Valerie Solanas‘ Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer, die in einer direkten Linie steht zu Kathy Ackers Bis aufs Blut, die wiederum eines der Novitäten-Bücher ist. Eberhard Seidels Buch Döner hat einen stark sozialpolitischen Anspruch und liegt auf einer Interessenebene mit Frantz Fanons Für eine afrikanische Revolution.
Kalender: Jörg Schröder hat viele Best- und Steadyseller verlegt, die bis heute relevant sind. So hat er die Grundlage dafür geschaffen, dass MÄRZ-Bücher auch heute noch gefragt sind. Was wiederum die Grundlage dafür schafft, dass sich in heutiger Zeit eine Verlagsneugründung realisieren lässt.
Stoiber: Woraus sich eine große Kraft entwickelt, ist nicht nur der Umstand, dass wir so eng zusammenarbeiten, sondern auch die historische Linie und die zwei Archive in Leipzig und Marbach, aus denen wir uns bedienen können. Und auch wenn das letzte im MÄRZ Verlag publizierte Buch 1988 veröffentlicht wurde, gab es doch eine Konstante in der Öffentlichkeitsarbeit und im Schleifen der Tradition und der Marke.
literaturkritik.de: Der MÄRZ Verlag ist sicherlich der Verlag mit dem größten Nachhall und der, der vor allem in den 1970er Jahren für etwas ganz Eigenes stand. Sehen Sie nicht auch langfristig ein Risiko für die Stringenz und Tradition der Marke mit den neuen Titeln?
Kalender: Nein, ich glaube das haben wir gut gelöst, denn die MÄRZ-Klassiker werden alle im gelb-rot-schwarzen Erscheinungsbild herausgebracht, so wie Jörg Schröder die Cover und auch den MÄRZ-Schriftzug entworfen hat. Die Novitäten sehen anders aus, was wir vor allem deswegen gemacht haben, damit die Leser und Buchhändler auf einen Blick zwischen Klassikern und neuen Titeln unterscheiden können.
Stoiber: Sie meinen mit Ihrer Frage wahrscheinlich, dass die Auswahl der Novitäten inhaltlich das Erbe des Verlages verwässern könnte? Wir haben in diesem Programm sechs Titel herausgebracht, drei Klassiker und drei Novitäten, und wollen uns auf 10 pro Verlagsprogramm steigern, also 20 im Jahr. Das heißt wir werden bis ins Jahr 2030 immer noch genug Titel von der Backlist haben, die man wieder aufnehmen kann. So führen wir den Verlag nicht nur fort, sondern bewahren auch sein Erbe.
Kalender: Es gibt manche Titel wie z.B. Günter Amendts Sexfront, dessen Neuveröffentlichung sehnlichst erwartet wird. Ist ja klar, dass man dieses Buch überarbeiten müsste, da viele der wichtigen Hinweise beispielsweise Adressen heute falsch wären. Allein die Aids-Hilfe konnte es damals noch gar nicht geben. Es ist uns wichtig, nicht nur ein historisches Abbild zu schaffen, sondern, dass die Bücher darüber hinaus einen Mehrwert haben und aktualisiert werden. So erhielt das Manifest von Valerie Solanas ein Nachwort von Jörg Schröder, sowie ihre Briefe an ihn.
literaturkritik.de: Das heißt, Sie haben geplant, den gesamten Katalog mehr oder minder komplett verfügbar zu machen in den nächsten 10-12 Jahren?
Stoiber: Das ist der Plan. Bei manchen Büchern wird das vielleicht gar nicht gehen, auch wegen der Rechte. Bei manchen Büchern, wie eben bei Sexfront, macht eine Neuausgabe nur Sinn, wenn man sie überarbeitet oder aktualisiert. Aber von den 174 erschienen Büchern sind mindestens 100 dabei, die ohne Probleme neu veröffentlicht werden können und sollen.
literaturkritik.de: Das Nachwort zu Valerie Solanas‘ Manifest von Jörg Schröder ist ja aus Schröder erzählt entnommen, eine Reihe, die ja einen unglaublicher Fundus an Geschichten zu den Büchern darstellt und quasi bereits Sekundärliteratur zu diesen Werken mitliefert. Werden Sie das häufiger in Anspruch nehmen für die Bände?
Stoiber: In diesem Fall hat sich dieser Text aus Schröder erzählt, genauso wie er war, perfekt geeignet. Und ich habe schon ein weiteres Buch im Kopf, bei dem das ebenfalls passen wird. Schröder erzählt hatte eine limitierte Auflage, die von etwa 400 Personen gelesen wurden, das war ja der Witz. Das trägt natürlich zur Mythen- und Legendenbildung bei. Wenn man einen Verlag wiederbelebt, kann man sich ja eigentlich nichts mehr wünschen, als dass bis kurz vor diesem Moment immer noch weiter daran gearbeitet wurde, diesen Mythos aufzubereiten.
Kalender: Unser Motto lautete: Wir leben vom Mythos und nicht von der Stückzahl.
literaturkritik.de: Haben Sie auch vor, Schröder erzählt neu rauszubringen?
Stoiber: Ja, haben wir. Aber dann eher in einem Auswahlband. Ich glaube schon, dass die Attraktivität von Schröder erzählt eben genau in dem Druckverfahren, in dem Desktop-Publishing und somit in der limitierten Stückzahl bestand. Wenn man das jetzt, so wie es war, neu in Offset-Drucken beziehungsweise beliebigen Nachdrucken veröffentlicht, dann verliert es völlig die Strahlkraft. Aber ein Auswahlband von ca. 1000 Seiten könnte ich mir gut vorstellen.
literaturkritik.de: Aktuell haben Sie den Roman Perlenbrauerei der norwegischen Musikerin Jenny Hval in der Erstausgabe verlegt. Und auch Hendrik Otrembas neuer Roman wird bei MÄRZ erscheinen. Otremba ist ja Sänger der sehr aufregenden Band Messer, bildender Künstler und legt nun seinen dritten Roman vor. Wie kommen denn die Kontakte, vor allem zu diesen Musikern, zustande?
Kalender: Hendrik besuchte einen Jour fixe. Denn Jörg Schröder und ich gründeten 2013 die MÄRZ Gesellschaft e.V. in Berlin zusammen mit Freunden. Wir sind alle Kulturschaffende und treffen uns jeden ersten Samstag des Monats. Thorsten Nagelschmidt, als Frontman der Band Muff Potter bekannt, dessen Lesung aus seinem Roman Arbeit aufgrund von Corona ganze vier Mal verschoben werden musste, über zwei Jahre hinweg, bestritt den Jour fixe im April 2022. Er hatte seinen Freund eingeladen, und so lernte ich Hendrik Otremba persönlich kennen.
Stoiber: Ein paar Tage später kam aus dem nichts eine Mail von Hendrik an Barbara mit einem Manuskript, und wir waren, nachdem wir es beide gelesen hatten, sofort begeistert. Das war ungefähr drei Wochen vor der Drucklegung unserer Vorschau, die wir daraufhin noch einmal verworfen haben, um seinen Roman mitaufzunehmen. Innerhalb von zwei Wochen haben wir zwischen Entscheidung, Lektorat, Vorschautext und Cover diese Zusammenarbeit dann in Rekordzeit realisiert. Ich glaube daran, dass das Buch ein richtiges Ereignis wird, weil es einfach unglaublich großartige Literatur ist. Wären wir nicht unmittelbar so angerissen davon gewesen, hätten wir nicht in letzter Sekunde nochmal alles dafür über den Haufen geworfen.
Zu Jenny Hval: Da ich ausgebildeter Skandinavist bin und während meiner langjährigen Arbeit als Lektor bei Matthes & Seitz eine gute Schneise nach Norwegen, Schweden und Dänemark hatte, konnte ich einige Autorinnen und Autoren zu dem Verlag holt. Jenny Hval, auf die ich schon lange ein Auge geworfen hatte, war dann aber zurecht ein Overkill generell auch an skandinavischer Literatur im Programm. Ich habe die Autorin dann erstmal aus den Augen verloren, bis ich im Sommer ihren Agenten traf und festgestellt habe, dass sie immer noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Und so haben wir uns entschieden, das jetzt im Rahmen des MÄRZ Verlags zu tun.
Kalender: Das Buch war dann wie durch Zauberhand auch noch bereits fertig übersetzt und zwar von Rahel Schöppenthau und Anna Schiemangk. Das ist der Vorteil an Corona, dass die Übersetzerinnen Zeit hatten und einfach aus Begeisterung für den Titel ohne Verwertungsgedanken das Buch übersetzen wollten. Dadurch konnten wir das Buch auch bereits mit ins erste Programm nehmen. Nächstes Jahr wird dann auch der zweite Roman von Jenny Hval bei uns erscheinen.
literaturkritik.de: Gibt es Dinge, die sie gerne unbedingt machen würden, jetzt wo es mit dem MÄRZ Verlag die Chance dazu gibt?
Stoiber: Es gibt Bücher, die mich schon lange begleiten und die ich noch nie irgendwo unterbringen konnte, obwohl ich glaube, dass es tolle Texte sind, wie z. B. Howard Zinns A People’s History of the United States, die erste marxistische Geschichtsschreibung der USA mit über 1000 Seiten. Dieses Buch gab es schon mal in der deutschen Übersetzung im Verlag Schwarzer Freitag, die aber leider irgendwann Konkurs gegangen sind. Ich habe jetzt das große Glück, dass dieses Buch zum 100. Geburtstag von Howard Zinn diesen Herbst bei uns erscheinen wird. Oder die Gedichte von Andrew McMillan, die ebenfalls nächstes Jahr erscheinen werden. Zukünftig muss ich natürlich darauf achten, dass ich nicht nur Liebhaber, sondern auch Geschäftsführer des Verlags bin. Für mich ist dieses Spannungsfeld, dass etwas in einer Tradition stehen muss, die gleichzeitig aber auch sehr offen ist und alles zulässt, eine tolle Spielwiese. Wir haben uns völlig verausgabt, was das Marketing anbelangt, haben Jutebeutel, Hoodies und sogar MÄRZ-Pralinen und Nagellack in Gelb und Rot produziert. Zurückgehend auf eine Verlagstradition von 1983 haben wir einen Persönlichen Übersichtskalender hergestellt, bei dem wir uns für jeden Tag Schlagworte überlegt haben. Und dann ist es natürlich schön, die Resonanz auf solche Produkte zu sehen, bereits kurz nachdem man sie auf Instagram angekündigt hat.
Kalender: Ich bin sehr froh, dank der MÄRZ-Klassiker können wieder viele meiner Lieblingsbücher erscheinen. Das haben Jörg und ich immer bedauert, dass diese nicht mehr auf dem Markt erhältlich sind, sondern nur antiquarisch.
Stoiber: Ich glaube aber auch, dass wir den Verlag nicht nur als Ort verstehen, an dem Bücher von Autorinnen und Autoren erscheinen, sondern, dass in der Struktur, die dieser Verlag vorgibt, vieles machbar ist, was man bei einem klassischen Buchverlag nicht unbedingt erwarten würde. Das entspricht ja auch der Tradition von MÄRZ.
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