Ein romanhaftes Künstlerinnenleben

Flora S. Mahler porträtiert in ihrem Debütroman fantasievoll die fiktive Künstlerin „Julie Leyroux“

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über die schönen Künste und die mit Literatur, bildender Kunst und Musik verbundenen Lebensweisen herrscht ein ganzer Kosmos von bunten Vorstellungen, Fantasien und auch Klischees. Vergessen wird bisweilen, dass Kunst nicht die Frucht von Lebenskünsten ist, nicht aus rauschhafter Ekstase oder ingeniösen Momenten entsteht, sondern sehr oft das Resultat von handwerklichem Geschick, ökonomischen Ressourcen und harter Arbeit ist. Manchmal entstehen Resonanzen in der Öffentlichkeit und überlebensnotwendiger pekuniärer Erfolg auch aus bloßen Zufällen und Begegnungen. In ihrem Romandebüt porträtiert die österreichische Künstlerin Flora Mahler aus unterschiedlichen Perspektiven eine auf besondere Weise begabte Person namens Julie Leyroux, die beeindruckend wirkt, auf sich aufmerksam macht – und ein so exaltiertes Leben führt, wie es landläufigen Vorstellungen über die schönen Künste entspricht.

Von Begegnungen und Beziehungen berichtet die Autorin, zunächst abstrakt, theoretisch, fast philosophisch:

Beziehungen zu Kunstwerken folgen den Gesetzen aller Beziehungen, sie durchlaufen Phasen. Die einen vergisst man, an andere erinnert man sich, für manche schämt man sich, auf einzelne ist man stolz. Und dann gibt es die eine. An ihr hat man gelitten. Weil man nicht verstanden hat, warum ihr Glück so fordernd ist. Und nicht gewusst: es kommt kein größeres nach.

Flora Mahler denkt über Leidenschaft nach, über ein Geflecht emotionaler Bindungen, das entsteht, ob willentlich oder nicht. Zudem sinniert sie über Formen von Reiz, Betörung und Verlockung, die zu ambivalenten Erlebnissen und wechselvollen Erfahrungen führen.

Mona hatte in Wien Malerei studiert, dort lernte sie Julie kennen. Ihre Eltern hätten es lieber gesehen, wenn sie „ihrer mathematischen Begabung gefolgt“ wäre. Zunächst aber folgte sie in der Schule einem Jungen, in den ihre Freundinnen verliebt waren, sie aber nicht. Später entdeckte Mona einen anderen Kunststudenten, dessen „Künstlerallüren“ ihr anfangs gefielen, bis sie sich in seiner Gesellschaft nur noch langweilte:

Sie hatte danach einige One-Night-Stands und Affären mit Nichtkunststudenten, von denen keine die Ein-Monats-Marke überschritt. Das lag vor allem daran, dass Mona sich emotional nie stark engagierte, nie ein Gefühl von Schmetterlingen im Bauch und keine Herzen durch die Luft schwirren sah. Das sollte übrigens so bleiben, bis sie Mitte dreißig war.

Mona lernte im Studium, im Herbst 2000, auch Julie kennen. Verliebte sie sich in die aufstrebende, eigensinnige Künstlerin? Oder war sie eher fasziniert? „Es gab nur wenige, die völlig unbemerkt blieben, aber nur eine, die alle vom Sehen her kannten und von der jeder und jede irgendwie gehört hatte: Julie.“ Mit „heterosexuellen Beziehungsmustern“ hatte Julie nichts im Sinn. Sie hielt sich einen „Hof an Liebhaberinnen“:

Die meisten Affären fielen ihr zu, ohne dass sie sich allzu sehr darum bemühte. […] Mit manchen Frauen verbrachte sie nur eine Nacht, mit anderen ein paar Tage. Mit einigen lebte, schlief und zog sie monatelang durch die Gegend. Es gab Wochen, da war sie in drei Frauen gleichzeitig verliebt und hatte ständig Sex, um dann von einem Tag auf den anderen allen den Laufpass zu geben. Nicht jede ihrer Bekanntschaften verliebte sich in sie, aber die meisten taten es, und manche verfielen ihr, rückhaltlos und ohne sich zu wehren. Denn es war schön, mit Julie zusammen zu sein. Man fühlte sich stark und einzigartig mit ihr.

Julie scharte um sich eine Kommunität von Liebhaberinnen, deren Besetzung ständig wechselte. In dieser Sphäre entstand ihre Kunst, und sie blieb, arbeitend, sexuelle Kontakte pflegend und fortlebend, in allem „völlig ungerührt“ – und es scheint, als sei eine aufwühlende Form künstlerischer Arbeit notwendig verknüpft mit einer vollkommen eigensinnigen Lebensweise.

Mona möchte Julie kennenlernen, wahrscheinlich mehr als das. Die Begegnung findet statt, sie ziehen in Paris umher, im Anschluss an einen Restaurantbesuch. Julie legt ihren Arm erst um Monas Schultern, dann um die Hüfte, köpft eine Flasche Champagner, „den sie zur Hälfte tranken und zur Hälfte als Opfergabe an die Erinnerung an Ort und Stelle verschütteten“: „Eine getrunkene Flasche Champagner, so meinte Julie, würde Mona früher oder später vergessen, eine halb verschüttete machte es wahrscheinlicher, dass sie diesen Augenblick mit ihr in Erinnerung behielte.“ Die erwartete Nacht lustvollen Vergnügens, so scheint es, könnte folgen – so denkt Mona, die noch nie mit einer Frau geschlafen hat, und irrt sich: „Julie legte sich neben sie, aber sie küsste sie nicht. Sah sie bald schon nicht mehr an. Machte das Licht aus.“ Mona wird einen Tag später Robert begegnen, Julies Halbbruder, der ein „geübter Liebhaber“ war – aber auch das macht sie nicht glücklicher.

Lesend folgen wir ganz unterschiedlich konturierten Persönlichkeiten, die Erwartungen hegen, ohne dass diese erfüllt werden, eine besondere Existenzweise zu praktizieren scheinen – und enttäuscht weiterleben. Erfahrungen und Begegnungen wie diese folgen, werden geschildert, sorgfältig nachgezeichnet. Monas Fantasien bleiben Tagträume, vielleicht Alpträume. Weil Julie sich ihr nicht zuwendet, schläft sie mit einer Frau, die ähnlich aussieht wie Julie: „Der Sex mit ihr war enttäuschend, und die Spannung blieb. Mona schlief danach länger mit niemand mehr.“ Die teilweise obsessiv anmutende Faszination lässt nach, aber noch immer bleibt Mona – wie viele andere Personen – von Julie und ihrer Aura von innen her okkupiert. Bekannte sagen ihr, dass alle, besonders erfolgreiche Künstlerinnen wie „Vampire“ seien: „Das ist aber auch Stilisierung, Marketing, Strategie, vielleicht sogar ein bisschen zu viel Show. Die Party, das Bett, die Ergebenheit der anderen, dieses Sekten-, Kommunenhafte …“ Was gesprächsweise geäußert wird, wirkt anschaulich, wie die Beschreibung einer Szenerie, die weniger künstlerisch erlebt als künstlich inszeniert ist. Auch an Cannabiskonsum fehlt es nicht. Mona darf eines Tages sogar Julie küssen – berauscht von Drogen –, ehe sie für immer verschwindet. Warum sie ihr zugetan war, würde sie wahrscheinlich selbst nicht erklären können.

Andere Facetten und Eigenheiten erlebt Ann, die Galeristin, mit der Julie Leyroux auf ihre unverwechselbare, unberechenbare Art zusammenarbeitet: „Dass Julies Kunst der Schlüssel zum Erfolg ihrer Galerie war, gab Ann gern zu. Dass Julies Karriere ohne ihre Vermittlungs- und Hintergrundarbeit weit weniger steil verlaufen wäre, stand für sie aber ebenso fest.“ Ann erkennt Julies Talent, fördert sie und ist zugleich von ihrem Verhalten genervt. Die Künstlerin befindet sich in einem Entwicklungs-, vielleicht auch in einem Emanzipationsprozess:

Julie hatte den öffentlichen Raum immer wieder zum Austragungsort ihrer Kunst gemacht, weil die Hermetik von Galerien oder Museen sie zusehends befremdete, die Art und Weise, wie man zeitgenössischer Kunst darin begegnete, die Verhaltenskodizes, denen man sich an diesen Orten unterwarf.

Julie Leyroux scheint einzig ihren eigenen Regeln gehorchen zu wollen. Als Ausdruck künstlerischer Freiheit? Als Protest gegen Konventionen? Oder als Zeichen einer ganz eigenen Entwicklung? Julies Ausstrahlung weckt Bewunderung, vor allem Irritation, sie ist attraktiv, exponiert sich, entzieht sich. Zu Julies 40. Geburtstag soll eine große Ausstellung stattfinden – doch die Künstlerin erklärt, dass sie auf jede künstlerische Tätigkeit verzichte: „Ich bedaure, aber ich möchte vorerst lieber nicht mehr.“ Die Ausstellung findet ohne Exponat statt: „Das Gebäude war leer. Im Eingangsbereich an zentraler Stelle ein Hinweisschild. Es erklärte, dass dieses Haus ab sofort kein Museum mehr war, hier nichts mehr gezeigt wurde. Dafür bot sich der Ort selbst an, als Hülle, Raum für alle, die Raum brauchten.“ Julie, längst erkrankt, tritt nie wieder öffentlich auf. Nach ihrem Tod im Oktober 2017 besteht die „Nicht-Ausstellung“ noch eine Weile fort. Ann schließt ihre Galerie im folgenden Jahr für immer.

In die Besonderheiten von Kunst und von fragilen, eigensinnigen und dominanten Künstlerexistenzen schenkt Flora Mahlers anschaulicher, empathisch erzählter Roman Einblicke, gewiss auch Einsichten, die zutreffen könnten. Leidenschaften werden vorgestellt, die schier unbeherrschbar erscheinen. Die bunt illuminierte Sphäre der bildenden Kunst, die hier vorgestellt wird, bestätigt bekannte Außenwahrnehmungen und auch zahlreiche Vorurteile. Dabei darf nicht verkannt werden – und die oft ausnehmend bürgerliche Existenzweise vieler Künstler*innen, Schriftsteller und Musikerinnen zeigt einen Gegensatz dazu –, dass die Beziehung von Kunst und Leben vollständig anders aussehen kann und zumeist auch ganz anders aussieht, etwa abseits von Drogenkonsum und endlosen Liebesspielen. Der hohen literarischen Qualität von Flora Mahlers kunstvoll komponierten Roman tut das keinen Abbruch. Die Autorin stellt eine ganz eigene Fantasie über eine höchst besondere Künstlerin vor. Das romanhafte Porträt von Julie Leyroux und ihrer exotisch gestalteten Lebenswelt spiegelt einfach nur die Kunst, es bildet vielleicht eine besondere, aber keine allgemeine künstlerische Lebenswirklichkeit ab. Lesenswert ist der Roman ganz bestimmt.

Titelbild

Flora S. Mahler: Julie Leyroux.
Müry Salzmann Verlag, Salzburg 2021.
240 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783990142158

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