Eine Familie stürzt ins Verderben

Sepp Mall erzählt in seinem Roman „Ein Hund kam in die Küche“ von einer Südtiroler Familie, die 1942 ins Deutsche Reich auswandert

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ab 1939 stand die Südtiroler Bevölkerung vor einem fatalen Entscheidungszwang: „Italianisierung“ oder Auswanderung ins Deutsche Reich. Hintergrund war das „Hitler-Mussolini-Abkommen“, nach dem die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols vor die sogenannte „Option“ gestellt worden war: Entweder Teil des faschistischen Italiens bleiben und mit einer Zwangsumsiedlung nach Süditalien rechnen oder ein Teil des Nationalsozialismus werden. „Heim ins Reich“ lautete das Propaganda-Programm. Etwa 75.000 Menschen entschieden sich für eine Übersiedlung ins Deutsche Reich.

Das Dilemma liegt auf der Hand und bietet daher Stoff für literarische Auseinandersetzungen. In Sepp Malls Roman Ein Hund kam in die Küche entscheidet sich eine vierköpfige Familie aus Südtirol im Jahr 1942 für die Übersiedlung ins Deutsche Reich. Genauer gesagt: Der Vater trifft diese Entscheidung. Angesteckt von der Propaganda-Maschinerie des Nationalsozialismus siedelt er mit einer schier unbegrenzten Begeisterungsfähigkeit ins Deutsche Reich über, während seine Frau in ihrer Resignation eine gewisse Skepsis zum Ausdruck bringt. Seine beiden Söhne, Ludi und Hanno, ahnen nicht, was ihnen dort bevorsteht.

Der in Meran lebende Schriftsteller Sepp Mall, Jahrgang 1955, lässt in seinem Roman, der auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert war, die tragische Geschichte der Familie aus Sicht des elfjährigen Sohnes Ludi erzählen. Die gewählte Erzählperspektive besticht durch die unschuldige Wahrnehmung. Auf der ersten Station ihrer Übersiedlung, Innsbruck, beschreibt Ludi, wie sein körperlich und geistig beeinträchtigter sechs Jahre jüngerer Bruder Anton, genannt Hanno, von Ärzten in eine Heil- und Pflegeanstalt geschickt wird. Die historischen Gegebenheiten, die nationalsozialistische Menschenverachtung und perfide Reichspropaganda werden angesichts des kindlichen Erzählers nicht explizit beim Namen genannt, sind aber zunehmend spürbar. Schlussendlich besiegeln sie das Schicksal der Familie. Den Leser:innen ist bewusst, dass hinter dem Beschluss, Hanno in ein Heim zu geben, das Euthanasie-Programm steht. Ohne dass sich die Familie weitere tiefgreifende Gedanken macht, wird Hanno dort gelassen. Der Vater möchte zum Deutschen Reich gehören. Kurz nach der Ankunft in Oberdonaugau wird er zur Wehrmacht eingezogen.

Ludi und seine Mutter glauben, dass Hanno lediglich für einen begrenzten Zeitraum im Heim bleiben muss. Insofern erschüttert die unerwartete Nachricht von seinem Tod die beiden zutiefst. Der Vater, inzwischen als Soldat in Frankreich, entfremdet sich zusehends von seiner Familie. Doch für Ludi existiert Hanno weiter. Er kann oder will nicht verstehen, weshalb Hanno Opfer des Nationalsozialismus wurde und sterben musste. Immer wieder führt er Gespräche mit dem verstorbenen Bruder und es scheint ihm, als würde er sogar körperlich präsent sein: „Wie er ausgestreckt dalag, die eine Hand auf seinem Ohr, die andere unter der Bettdecke, und wie er atmete mit halb geöffnetem Mund.“

Eine Flucht aus der Realität? Ein Wunschtraum? Oder der persönliche Umgang mit dem Verlust des liebgewonnen Bruders? Weder mit seiner Mutter noch mit seinem Vater kann er über den Verlust sprechen. Umso aufmerksamer hört er den Gesprächen zwischen den Erwachsenen zu, die sich wie Herr Plötzinger vor der Zukunft fürchten oder wie Herr Jochberger den „Volkskörper“ verteidigen.

Sepp Mall legt nicht nur einen historischen Roman vor, sondern erzählt höchst sensibel von Abschied, von einer intensiven Bruder-Beziehung in grausamen Zeiten, von Heimatverlust und Identität sowie von einer Ideologie, die wie Gift in die Familie sickert und sich schlussendlich als menschen- und familienfeindlich erweist.

Gerade weil die Leser:innen gegenüber dem jungen Ich-Erzähler einen Wissensvorsprung haben, scheint es vor allem zu Beginn des Romans beim Wenden jeder Seite so, als würde man einem Zug beim Entgleisen zusehen. Jede Entscheidung des herrischen und NS-verliebten Vaters stürzt die Familie immer mehr ins Verderben. Die Grausamkeiten werden nicht ausbuchstabiert, sie befinden sich zwischen den Zeilen. Diese Unerträglichkeit macht die Lektüre des Romans sehr lesenswert.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche. Roman.
leykam Verlag, Graz 2023.
192 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783701182862

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