Über die Grenzen der Wahrheit

Im nachgelassenen Roman „Jenseitsreise“ stürzt Gerhard Roth seinen Protagonisten Lindner in eine fantastische Gegenwelt

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist die Wahrheit, und was verbirgt sich hinter ihr? Solche Fragen haben Gerhard Roth stark beschäftigt. „Seit 30 Jahren arbeite ich an einer Abhandlung unter dem Titel ‚Wahn und Sinn – Vom Sinn und Unsinn des Wahns‘“, schrieb er 2005 im Roman Das Labyrinth. Dafür habe er unzählige Notizen und Gespräche festgehalten, um zu erkennen, „dass die normalen Menschen ihr Leben lang auf der Suche nach dem Wahnsinn sind, den sie ebenso fürchten wie sie ihn herbeiwünschen“. Gerade die gründliche Auseinandersetzung mit der österreichischen Geschichte hat Roth gelehrt, dass sich hinter der Fassade der Normalität, die zur Wahrheit erklärt wird, ein Abgrund aus Wahnsinn und Schrecken verbirgt, der wie Magma immer wieder an die Oberfläche drängt. Die künstlerische Arbeit wiederum und speziell die intensive Beziehung zu den „verrückten“ Gugginger Künstlern haben ihm das Reich der Träume, Fantasien und schöpferischen Kräfte geöffnet. „Dank der Kunst sehen wir nicht nur eine einzige Welt, nämlich die unsere, sondern eine Vielzahl von Welten“. Dieser letzte Satz entstammt dem Kopf von Marcel Proust im Roman Jenseitsreise. Angesprochen wird Franz Lindner, der Gugginger Künstler, der wie schon in Der Imker auch hier als Erzähler fungiert. Roth hat diesen Roman knapp vor seinem Tod im Februar 2022 vollendet, ohne sein Erscheinen noch zu erleben. Was damals wie ein Abschluss seines Schaffens erschien, erhält zwei Jahre später nun eine nachgelassene Fortsetzung: Lindners Sturz in den Abgrund der Zeit und sein Erwachen in einer fantastischen Gegenwelt. Die Jenseitsreise ist – dem Motiv angemessen – unvollendet geblieben. Gerhard Roth hat bis zuletzt daran gearbeitet und zwei Teile vollendet, vom dritten Teil steht lediglich der Titel „Flussreise“ in den Arbeitsbüchern. Daniela Bartens und Jürgen Hosemann haben „auf der Erfahrungsgrundlage einer jeweils rund 20-jährigen Zusammenarbeit mit dem Autor“ diese handschriftlichen Notate transkribiert und bereinigt, sodass sie in fragmentarischer Form veröffentlicht werden konnten. Dass ihnen der letzte Schliff fehlt, ist kein Makel.

Der Titel Jenseitsreise erinnert unwillkürlich an die Divina Commedia von Dante, in der wiederum der Miradsch, die Himmelfahrt Mohammeds von Abu I-Ala al Ma‘arri steckt, die Dante gelesen habe, wie Lindner von seinem Führer Elias Schneider zugeflüstert bekommt. Elias ist Lindners erster Begleiter durch das altägyptisch anmutende Jenseits, er wird später von der Künstlerin und Entomologin Sibylla Merian abgelöst. In ihrem ausführlichen Nachwort verortet Daniela Bartens diese „wahnwitzige Irrfahrt durch ein posthumanes Gespensterreich“ mit Hinweisen auf Dantes Vision und darüber hinaus in einer weltumspannenden Jenseits-Topografie. Wie sie zeigt, hat Roth mit solchen Anleihen ein filigranes religiös-literarisches Motivnetz gewoben, das er auch am eigenen Werk festmacht.

So wie Dante seine Divina Commedia mit Personen und Anekdoten belebte, drängen auch bei Roth Geschichten und Figuren in den Vordergrund, die ihm ein literarisches Leben lang teuer und wichtig waren. Spätestens mit dem Auftritt von Lewis Carroll wird die schöne Ordnung, die Dantes Jenseits auszeichnet, chaotisch verwirbelt. Der eigentliche Reiz von Roths Roman liegt in seiner verspielten Fantastik. Manchmal in Menschengestalt, manchmal als Elster folgt Lindner seinem Führer Elias durch magische Kanäle, um allenthalben auf Figuren aus der Literatur- und Kulturgeschichte in den seltsamsten Konstellationen zu treffen. Mit Lewis Carroll stürzt er wie einst Alice ins Kaninchenloch, um verwirrt in einer Wunderwelt aufzuwachen. Elias beruhigt Lindners Verwirrung sogleich mit der Mitteilung, dass er „im Stadium der katastrophalen Metamorphose, das heißt im Übergang vom Larven- zum Adultstadium“ stecke, in welchem seine Seele die wahre Form erlangen werde. Später wird er Zeuge einer Begegnung zwischen Franz Kafka und seinem Biografen Reiner Stach, der im Jenseits auf Besuch weilt, um sich bei Kafka nach neuen Plänen zu erkundigen. Ihm sei, berichtet ihm Kafka, das Angebot für ein „Buch über das Jenseits“ gemacht worden, als zweiten Teil zum Prozess. Was er und Stach daraufhin beobachten, ist so skurril wie witzig: Mao Tse Tung beispielsweise verhört im Verlies die Gebrüder Wright, weil sie den Flugpionier Gustav Weißkopf um das Recht auf den ersten echten Flug betrogen hätten, als sie dessen Flugversuch als bloßen Hüpfer disqualifizieren ließen. Anschließend zeigt der gemeinsame Besuch im geheimen Jenseits-Bordell die beiden von einer peinlich befangenen Seite.

Auf assoziativ-surreale Weise miteinander verwoben und verknäult, lässt Jenseitsreise einen Reigen von Selbstmörderinnen und Außenseitern, Vergessenen und Vorbildern wie beispielsweise Poe, Plath oder Proust, Einstein, Lagerlöf oder Marx auftreten. Der Spötter Swift erhält darin eine Hauptrolle. Mit der Stimme von Jorge Luis Borges formuliert der Roman das Kernanliegen, dass es nicht Aufgabe des Schriftstellers sei, den Schmerz zu leugnen und zu verwischen, vielmehr muss er ihn „wahrhaben, und noch einmal, damit wir sehen können, wahrmachen“.

Als Motto hat Roth seinem Buch den Satz „Immer schon wollte ich ein Buch schreiben, das niemand versteht“ vorangestellt. Lindner wiederholt ihn aus lauter Verlegenheit bei seiner Begegnung mit der ihrerseits ein wenig verrückten Dichterin Emily Dickinson. Auch sie suchte nicht Verständnis bei anderen, warum sonst wären lediglich sieben ihrer 1775 Gedichte zu Lebzeiten erschienen. Dergestalt erhält Roths Roman eine ausgesprochen spielerische Note, die das assoziative Nicht-Verstehen, das närrisch-Widerständige hochleben lässt. Nacherzählen lässt sich das natürlich nicht. Umso mehr regt die Fülle an Personen, Anekdoten und Unterhaltungen, die zuweilen „wie in einem Computerspiel“ funktioniert, dazu an, bei der Lektüre hin und wieder innezuhalten und sich die gespenstischen Maskeraden von James Ensor anzuschauen oder ein Gedicht von Dickinson zu lesen. Indem sich die stringente Erzähllogik auflöst, präsentiert sich der Roman als ein wuselnder Schwarm aus Geschichten, oder mit dem passonierten Imker Roth gesprochen, als ein „Bien“, der uns hinter die Grenzen des Diesseits, des Wirklichen verführt. Was er uns erzählt, ist, wie er Sigmund Freud diagnostizieren lässt, aus dem „Teilchenbeschleuniger des Gedankenflugs“, einem „gordischen Knoten aus Gedanken“, aus dem „Gedankenarchiv“ des Autors entsprungen.

Mit Jenseitsreise schließt sich der Kreis von Roths Werk. Der im Motto angesprochene Wunsch nach einem Nicht-Verstehen hat er schon 2015 gegenüber Hans-Jürgen Heinrichs mit Blick auf seine frühe experimentelle Prosa, allem voran die autobiographie des albert einstein (1971), geäußert: „Das waren Arbeiten, die sich dem Verständnis verweigert haben“. Lag diesem Nicht-Verstehen damals eine resolute Absage an das Verschweigen der Elterngeneration zugrunde, zielt es in Jenseitsreise darauf, mit Ehrfurcht den Bienenstock des Lebens als verwunderliches Rätsel zu betrachten – mit einem Wort von Sibylla Merian: „Worum es mir geht, ist Respekt. Respekt Andersdenkenden und sogar Gott oder Göttern gegenüber, sofern sie nicht zu Gewalttätigkeit, zu Hass, zu Geifer anstiften.“

Unter ihrer Führung macht Franz Lindner zum Schluss eine stupende Entdeckung: Wilson A. Bentleys Fotografien von Schneeflocken. Der Fotopionier erzählt Lindner von seinem Bemühen, um 1900 herum mikroskopische Bilder von diesem flüchtigen Gegenstand herzustellen. Bilder sind im Buch keine abgedruckt, sie lassen sich aber hier im Diesseits des Internets bestaunen. Mit ihnen schließt der Roman mit einer weiteren Passion von Gerhard Roth, der Fotografie.

Titelbild

Gerhard Roth: Jenseitsreise. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2024.
416 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783103971125

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch