Und die Welt hebt an zu singen

Der Autor Robert Macfarlane und die Illustratorin Jackie Morris beschwören in „Die verlorenen Wörter“ die Natur vor der Haustür

Von Manfred RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Genre „Nature Writing“ hat vor allem im Englischen, in Ländern wie den USA, Großbritannien und Australien momentan Hochkonjunktur. Dabei handelt es sich um eine Art der Naturbeschreibung, die weder ganz wissenschaftlich, noch ganz fiktional ist, und die an einen Umgang mit Natur anknüpft, wie sie etwa der US-Amerikaner Henry David Thoreau im 19. Jahrhundert pflegte, der vielen als einer der ersten Umweltschützer gilt. Einer der ersten deutschen Verlage, der die Bedeutung dieses neu erstarkten Genres frühzeitig erkannt hat, war Matthes & Seitz Berlin, der in der von Judith Schalansky seit 2013 herausgegebenen Reihe „Naturkunden“ Bücher verlegt, „die von Natur erzählen“, so die knappe Selbstbeschreibung auf der Verlagshomepage. Verlegt werden also nicht unbedingt nur fiktionale Texte, sondern auch Sachbücher oder wie im Fall des hier vorliegenden Die verlorenen Wörter Lyrik. Gerade diese verschiedenen Textsorten machen die Reihe über jeden Zweifel erhaben, Natur bloß als verklärten Sehnsuchtsraum von Stadtmenschen darzustellen, wie sie etwa in den unzähligen Natur- und Gartenzeitschriften zelebriert wird.

Bloß netter, illustrierter Gedichtband möchte Die verlorenen Wörter dann auch nicht sein, vielmehr „Ein Buch der Beschwörungen“, so der Untertitel, denn dass in dem einleitenden Prosatext formulierte Anliegen besteht darin, Kindern („von heute“ hallt es unwillkürlich nach, auch wenn sich die Formulierung so nie explizit findet) Wörter für die einmal alltäglichen, heute verlorenen, weil schlichtweg nicht mehr beachteten, Pflanzen und Tiere zurückzugeben, Kindern, denen jeglicher Bezug zur Natur abhandengekommen ist, die Augen zu öffnen für die Schönheiten und den Zauber vor ihrer Haustür: Das Buch „folgt dem Gold – dem Gold der Goldfinken, die zauberflink über die Seiten stieben – und birgt keine Gedichte, sondern vielmehr Sprüche, die vielleicht durch die alte, machtvolle Magie des laut Aussprechens Träume und Lieder entspinnen und verlorene Wörter zurück in den Mund und vor das innere Auge rufen.“ Darin klingt eine der deutschen Romantik verpflichtete Verknüpfung von Sprache, Natur und Magie an, wie sie am bekanntesten wohl Joseph von Eichendorff in seinem Gedicht Wünschelrute 1835 formulierte: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“ Darin schwingt aber leider auch ein unterschwelliges „Früher-war-alles-besser“ mit, ein wehmütiges „Ach-die-Jugend-von-heute“ und man fragt sich, ob sich diese Gedichte tatsächlich an Kinder richten; ob man Kindern wirklich, wie behauptet, die Kastanie wieder näher bringen muss, sei dahingestellt, ist sie doch in jedem Kindergarten zu finden. Auch in seiner Aufmachung ist dieses Buch nicht gerade kinderfreundlich, mit seinem unhandlichen Coffee-Table-Großformat und den fehlenden Seitenzahlen.

Man mag diese Kritik kleinlich finden und darauf hinweisen, dass die einleitenden Sätze vielleicht eher augenzwinkernd zu verstehen sind und der Verweis auf „Zaubersprüche“ anstelle von Gedichten bewusst mit einer Naturlyriktradition spielt. Auch mag es auf dem Buchmarkt triftige Gründe geben, warum man sich für eben solch eine Ausstattung und ein Format entschieden hat, die mit der notorisch schwer verkäuflichen Lyrik zusammenhängen, und da sie – so die vielleicht etwas resignierte Erkenntnis – für die breite Masse sowieso nicht zu erschließen ist, eben als Luxusobjekt bibliophiler Liebhaber vermarktet wird. Und doch ist diese Rahmung und Kontextualisierung insofern ärgerlich, als sie die Klischees über Lyrik, zumal Naturlyrik, als bildungsbürgerlichen Zeitvertreib bestätigt, was den überwiegend sehr gelungenen Gedichten und Illustrationen keinen Gefallen tut.

Formal ist das Buch um jedes Gedicht herum immer gleich aufgebaut: Zunächst eine Doppelseite mit einer skizzenhaften Aquarellzeichnung und viel Weißraum, der andeutet, dass hier noch etwas fehlt, auch wenn sich aus den auf den ersten Blick ungeordneten Buchstaben bereits ein erster Hinweis auf den thematisierten Gegenstand findet. So ranken sich auf der Doppelseite vor dem mit „Brombeere“ betitelten Gedicht Buchstaben an einer dornenbesetzten Brombeerrute entlang. Auf der nächsten Seite steht dann das Gedicht selbst, dessen Titel schlicht der thematisierte Gegenstand ist und dessen erste Buchstaben eines jeden Verses ihn als Akrostichon noch einmal von oben nach unten buchstabieren, während er auf der gegenüberliegenden Seite, isoliert und ohne Hintergründe, fast wie in einem Biologiebuch, abgebildet ist. Die nächste Doppelseite vereint schließlich Gegenstand und Hintergrund in einer weiteren, dieses Mal vollständigen Zeichnung.

Anders als die Einleitung vielleicht vermuten ließe, handelt es sich bei den Gedichten nicht um verklärte Naturlyrik, sondern sie bilden ihre Gegenstände durchaus facetten- und abwechslungsreich ab, unterscheiden sich häufig in Ton und Grundstimmung. Während das Gedicht Farn mit seinen zahlreichen Alliterationen eher verspielt wirkt: „Farns früheste Form ist geringelt, // Alle Wedel wippende Schnecken. // Recken, rippeln und entrollen folgen.“, ebenso wie die refrainartig wiederkehrenden, an Kinderreime erinnernden Passagen in Löwenzahn: „Lock mich an, kleine Sonne-im-Gras! // Ör in eine andere Zeit, spinn mich ein! / (Tick-tock, Sonnenglocke, Distel und Locke)“, wirken andere Gedichte manchmal eher düster, fast schon bedrohlich, etwa wenn es in Blauglöckchen heißt „Es zieht dich hinunter, unter Töne und Tau, / Nimmt dich, ersäuft dich im Blau.“ oder im Gedicht Brombeere: „Motten kommen zu Abermillionen, / von Dornen gelockt. Die Luft flattert. // Brombeere reicht jetzt an jedes Haus,/ rankt es ein. // Eilig verriegelt man Türen, schließt Jalousien.“ Fast schon unheimlich wird es in Rabe: „Ich raube Eier, um besser zu wachsen, / fresse Augen, um besser zu schauen, rupfe Flügel, / um besser zu fliegen, gibt Rabe als Rätsel auf.“

Die Gedichte arbeiten gekonnt und plastisch das Charakteristische ihres Gegenstandes heraus, in einer Sprache, die nicht nur beschreibt, sondern in ihrer Lyrizität tatsächlich ein Mehr heraufbeschwört, dass bloß technisch-sachliche Darstellungen nicht leisten können, weil ihnen das Sinnliche fehlt, das die Erfahrung des Gegenstandes noch intensiver macht, etwa wenn es vom Star heißt: „Selbst wenn Grün-wie-Moos sich mischt mit / Blau-von Stahl sich mischt mit Gold-war-Strahl, / fehlt noch viel zum – // teerhellen Ölschlickschimmer / eines Starenflügelflimmerns.“ Nur in einigen wenigen Ausnahmen – fast meint man, wenn die Gedichte sich zu sehr dem Zeitgeist verpflichten und versuchen, sich urban und modern zu geben – wirkt ihr Ton seltsam verfehlt, verrutscht das sonst oftmals so treffend Charakteristische und klingt schief, etwa ebenfalls in Star: „Klingeltonkaskaden kommen auch gesampelt / nicht heran ans – // Dachfirst-Ritschratsch, gossensmarte / Hiphop eines Starenlieds.“ und auch dass der Rabe „rappt“ überzeugt nicht so ganz. Trotzdem muss unbedingt die Leistung der Übersetzerin Daniela Seel betont werden, da man zu keinem Zeitpunkt den Eindruck hat, hier übersetzte Gedichte vor sich zu haben. Die Begriffe, die sprachlichen Bilder und Stilmittel klingen nie gezwungen oder zu gewollt, was umso höher einzuschätzen ist, wenn man bedenkt, dass die Vorgabe des Akrostichons in jedem Gedicht den übersetzerischen Spielraum stark einschränkt.

Bei allen Gedichten geht es darum, dem Wesen des Naturgegenstandes auf die Spur zu kommen. Bei den meisten gelingt es, obwohl sich die Natur auch immer wieder entzieht. Es liegt im Wesen vor allem der Tiere, dass sie immer auch einen Rest Mysterium behalten, stellvertretend etwa der Zaunkönig: „Grad seh ich dich, denkst du, doch siehst ihn nicht.“ Gelingt also das Vorhaben von Autor und Illustratorin, ihren Gegenstand in Wort und Bild zu bannen, ihn zu beschwören, wenn er sich doch auch jedes Mal wieder entzieht? Ja, insofern als das Ephemere selbst Charakteristikum der Natur ist, und darin liegt ein grundlegender Unterschied zum in der Einleitung beklagten Nicht-Sehen, weil einem das Bewusst-Sein einer Sache fehlt.

Robert Macfarlanes Gedichte sind gelungen, durchgehend auf hohem Niveau, und auch Jackie Morrisʼ Aquarellzeichnungen fügen sich sehr gut ins Gesamtkonzept dieses Buches, das weitaus mehr Kunst- als Kinderbuch ist, und das die bedeutungsheischende, nostalgisch-verklärende Einleitung gar nicht nötig hat, die vielleicht ja auch nur augenzwinkernd eine Art Echokammer für den sowieso schon interessierten Leser und Käufer erschaffen will, der immer schon wusste, dass früher doch alles irgendwie besser war und dass den Kinder von heute die Natur vor ihrer Haustür abhandengekommen ist. Sei’s drum. Die verlorenen Wörter ist trotzdem ein gutes Argument, mal wieder ein Buch mit Gedichten zur Hand zu nehmen.

Titelbild

Robert Macfarlane / Jackie Morris: Die verlorenen Wörter. Ein Buch der Beschwörungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Daniela Seel.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
134 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783957576224

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