Theorie mit Girlanden
Morten Paul beschreibt mit der Suhrkamp-„Theorie“-Reihe „eine Buchreihe im philosophischen Nachkrieg“
Von Günther Fetzer
Die Untersuchung, die 350 großformatige Seiten umfasst und der die Konstanzer Dissertation des Autors zugrunde liegt, beschreibt die Geschichte der Theorie-Reihe im Suhrkamp Verlag, deren Bedeutung für den Verlag Siegfried Unseld im Jahr 1983 rückblickend so zusammengefasst hat: „Für mich war diese ‚Theorie‘ eine sehr wichtige Speerspitze des Verlages. Ob sie diese Funktion durchgehend halten konnte, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls hat sie dem Verlag Prestige eingebracht.“ Das Werk ist in sechs weitgehend in sich abgeschlossene Kapitel gegliedert, die sich grob an der Chronologie orientieren. Sechs mehr oder weniger umfangreiche Diskussionspapiere von Hans Magnus Enzensberger, Jacob Taubes und Dieter Henrich sind – farblich abgesetzt – am Ende dreier Kapitel eingeblockt.
Im ersten Kapitel („Professorenzirkus“) beschreibt der Autor die Konstituierung des Herausgebergremiums der Reihe und geht dabei besonders auf die unterschiedlichen Logiken – wissenschaftliche und verlegerische – ein, die dabei in Widerstreit gerieten. Schon früh war man sich über die vier späteren Herausgeber einig. Das waren der Philosoph und Wissenschaftshistoriker Hans Blumenberg, der Sozialphilosoph Jürgen Habermas, der Idealismusforscher Dieter Henrich und der Religionswissenschaftler Jacob Taubes. Vonseiten des Verlags war neben dem Verleger Siegfried Unseld der Lektor Karl Markus Michel die wichtigste Person für die Entstehung des wissenschaftlichen Programms. Doch der Kreis der Berater war weit größer. Theodor W. Adorno, Reinhart Koselleck und vor allem Hans Magnus Enzensberger gehörten dazu. Es entstand ein Netzwerk, das der Verlag brauchte, um das anspruchsvolle Vorhaben umzusetzen, denn zu dieser Zeit (bis 1963) war Suhrkamp „ein renommierter, aber vergleichsweise kleiner Verlag für anspruchsvolle zeitgenössische Literatur“. 1966 wurde nach intensiver Diskussion um Inhaltliches, Materielles und um Zuständigkeiten endlich der Herausgebervertrag mit den vier Genannten geschlossen, und es erschienen die ersten sechs Bände. Bestseller der Reihe sollte mit über 14.000 Exemplaren Erkenntnis und Interesse (1968) von Jürgen Habermas werden – eine allerdings vergleichsweise niedrige Zahl, wenn man sie mit den wissenschaftlichen Bestsellern jener Jahre vergleicht. Herbert Marcuses Der eindimensionale Mensch verkaufte sich im Luchterhand Verlag über 200.000 Mal.
Das zweite Kapitel („Ein Zauberwort“) handelt von der Namensgebung der Reihe unter der programmatischen Dimension einerseits, der verlagspragmatischen Perspektive andererseits. Hatte Unseld zunächst Universitas Litterarum als Reihentitel vorgeschlagen, was heftigen Protest bei den Beratern auslöste, so kristallisierte sich der von Henrich ins Spiel gebrachte Begriff „Theorie“ im Lauf der Jahre 1964 und 1965 als Titel der Reihe heraus, die das Feld der akademischen Philosophie und der philosophischen Sozialwissenschaften abdecken sollte. Doch „Absichten wie der wirtschaftliche Erfolg oder das wissenschaftliche Renommee gerieten leicht in Konflikt miteinander. Kontingenz prägte das Verlagsgeschehen in einem enormen Ausmaß“. Versuche, die Reihe systematisch zu unterteilen, blieben schnell stecken; „die Konzeption blieb fluide“.
Im dritten Kapitel („Im Import-Geschäft“) geht der Autor auf einen bislang unterbelichteten Aspekt der Theoriekonjunktur von den 1960er bis zu den 1990er Jahren ein, nämlich die Rolle, die Übersetzungen dabei gespielt haben. Fast die Hälfte der insgesamt 203 in der Reihe veröffentlichten Bände (einschließlich der mehrbändigen Werkausgaben) waren Übersetzungen, 70 davon wurden aus dem Englischen übertragen, 20 aus dem Französischen. Publiziert wurde „eine englisch-französisch-deutsche Theorie, eine Theorie mit Westbindung. Die wissenschaftliche Welt hinter dem Eisernen Vorhang blieb fast vollständig dort.“
Gegenstand des vierten Kapitels („Kasuistik für den Ernstfall“) sind die Zeitschriftenprojekte, die die Reihe seit ihren frühesten Planungsphasen begleiteten (Kassiber, Produktivkraft Wissenschaft, Theorie. Kritische Beiträge, Jahrbuch). Doch kein einziges dieser Projekte wurde realisiert.
Im fünften Kapitel („Verhinderte Verleger“) beschreibt der Autor den Niedergang und das Ende der Reihe Theorie im Jahr 1986 beziehungsweise der wenigen Bände der Reihe Theorie-Diskussion im Jahr 1980. Die Gründung der Reihe – sie war von Anfang an als Taschenbuchreihe konzipiert – erfolgte in einer Zeit des stürmischen Wachstums des Verlags, und diese war in diesem Rahmen mehr als nur eine wissenschaftliche Reihe, denn sie war darauf angelegt, den wissenschaftlichen Teil des Suhrkamp Verlags auf- und auszubauen. Mit ihr konnte sich der Verlag innerhalb kurzer Zeit als kritischer Verlag positionieren. Paradoxerweise führte das schlussendlich zu ihrem Ende; ausschlaggebend dafür war der große Erfolg der 1973 gestarteten Reihe suhrkamp taschenbuch wissenschaft (stw). Diese war nicht als Reihe mit einer gemeinsamen Linie angelegt, sondern als Bibliothek nach dem Prinzip des Nebeneinanders, ein Schachzug, der letztlich wohl für ihren bis heute andauernden Erfolg verantwortlich ist.
An dieser Stelle breitet der Autor auch den des Öfteren ausführlich dargestellten „Aufstand der Autoren“ aus – ein Phänomen, das nicht nur den Suhrkamp Verlag betraf. Dabei beschreibt er auch detailliert die Rolle der beiden Lektoren Karl Markus Michel und Axel Rütters. Doch es gelingt ihm nicht, einen wirklichen Konnex zum Ende der Theorie-Reihe herzustellen, der weniger durch persönliche Konstellationen als durch die gesellschaftliche Entwicklung verursacht wurde. Die „objektive Situation“ beschreibt Unseld in der Verlagschronik vom 29. April 1974 mit „Entpolitisierung, Änderung des Klimas und als Restitution Nostalgie-Ängste, Sehnsüchte, das schöne Inseltaschenbuch“.
Auch Modifikationen in der Herausgeberschaft – Blumenberg und de facto auch Taubes waren ausgeschieden, Habermas beendete 1979 seine Herausgebertätigkeit, Niklas Luhmann war gegen Widerstände neu verpflichtet worden – sowie im (optischen) Auftritt der Reihe konnten ihr Ende nicht verhindern. Mit der Bandnummer 148 erschien im Jahr 1986 nur ein Band und zugleich der letzte, nachdem bereits seit 1982 die Publikationsfrequenz stark zurückgefahren worden war.
In der Theorie-Reihe erschienen zwischen 1968 und 1976 auch drei mehrbändige Werkausgaben der deutschen Philosophen Kant, Hegel und Feuerbach. Die Hegel-Ausgabe ist Gegenstand des sechsten Kapitels („Hegel!!“). Sie umfasste 20 Bände und begann ab 1979 „im Vorgriff“ auf den 200. Geburtstag des Philosophen zu erscheinen. Gedruckt wurden 10.000 Exemplare. 1986 wurde die Ausgabe in die stw-Reihe integriert.
Der Band schließt mit einer Bibliografie der Theorie-Reihe, einem umfangreichen Literaturverzeichnis sowie einem Namensregister.
Der Band ist grundsolide aus den Quellen, vor allem dem Verlagsarchiv, erarbeitet. 1094 Fußnoten zeugen von intensiver wissenschaftlicher Arbeit. Dabei geht der Blick immer wieder über den Tellerrand des Suhrkamp Verlags und der Theorie-Reihe hinaus. Doch lehrreiche Abschweifungen, etwa zu Taubes als Verlagsberater, aber auch überpointierte Analogien, so zum Briefverkehr der Gelehrtenrepublik der Aufklärung, und längliche Ausführungen zu „Theorie“ und über das Werben des Verlags um Blumenberg als Autor im zweiten Kapitel mögen zwar dem Standard wissenschaftlicher Qualifikationsarbeiten entsprechen, ermüden aber im Lesefluss.
Doch diese Übergelehrsamkeit nimmt man gern in Kauf. Den Lesefluss wirklich hindernd ist die grafische Gestaltung des Innenlayouts. Der leuchtend blau gedruckte Fließtext ist in einer Groteskschrift gesetzt, wo doch unter Typografen und Leseforschern Konsens darüber besteht, dass solche Schriften schwerer als Antiquaschriften lesbar sind. Die Anmerkungen sind auf dem Bundsteg angeordnet; zur Lektüre empfiehlt sich eine Lupe. Hinzu kommt, dass sie in einem undefinierbaren Grün-Braun gedruckt sind. Schließlich vermisst man den Außensteg – zum Beispiel für eigene Anstreichungen und Bemerkungen. Was für ein Lifestyle-Buch ein anregendes Layout sein könnte, ist für ein wissenschaftliches Buch fehl am Platz. Verständlich wird die Entscheidung für ein solches Design, wenn man die Selbstcharakterisierung des Verlags liest: „Spector’s publishing practice is settled squarely in the intersection of art, theory, and design.“
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