Kein Vergessen
Georgi Gospodinovs Roman „Zeitzuflucht“ geht der Frage nach, wie Menschen Vergangenheit erzeugen können
Von Marisa Müller
Spekulationen über technische Fortschritte, Geschichten über Frankensteins Monster bis hin zu außerirdischen Wesen, Robotern und K.I.s als auch Klimakatastrophen – all das prägt die utopische wie dystopische Literatur. Dabei ist die Blickrichtung stets nach vorne gerichtet; in das noch nicht Geschehene und Ungewisse… Doch nicht nur die Zukunft, auch das Selbsterlebte kann unbekannt sein. So wird in Georgi Gospodinovs Romans Zeitzuflucht „Alzheimer und überhaupt der Verlust des Gedächtnisses […] zur sich am schnellsten ausbreitenden Krankheit. Den Statistiken zufolge entwickelt alle drei Sekunden jemand auf der Welt eine Demenz.“ Die gestiegene Lebenserwartung bringe eine Verdreifachung innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte mit sich. Die „Klinik der Vergangenheit“ soll Betroffenen Mut und Trost spenden, indem sie ihnen hilft, sich an Abschnitte ihres Lebens zurückzuerinnern.
Jede Etage der Klinik bildet ein Jahrzehnt ab. PatientInnen sollen darin ihre eigenen „Zeitschutzräume“ erhalten. Denn sowohl die Räume als auch die darin enthaltenen Gegenstände sind an Erinnerungen gekoppelt. Wie prägnant diese Verbindung wirkt, merkt der Ich-Erzähler selbst, als er ein Abbild seines Kinderzimmers aus den 1960ern betritt. Die damaligen Fototapeten sind für ihn „die wahre Offenbarung und der aufrichtige Kitsch“.
Autobiografische Einflüsse werden anhand des Alters des Ich-Erzählers deutlich, das dem 1968 in Jambol (Bulgarien) geborenen Autor gleicht. Die Hauptstadt Sofia, Gospodinovs aktueller Wohn- und Arbeitsort, spielt in Gesprächen zwischen dem Erzähler und einer Klinikpatientin eine große Rolle. Aufgrund ihrer gemeinsamen Erinnerungen an die Heimat stellen sie fest, dass sie sich aus früherer Zeit kennen. Den Schulausflug zum damaligen Georgi-Dimitroff-Mausoleum und die damit assoziierte, erste Erfahrung mit dem Tod beschreibt der Ich-Erzähler dezidiert. Wiederholt fließen politische wie sozialhistorische Ereignisse Bulgariens in die Romanhandlung ein. Die Unterschiede zwischen West und Ost – der eigenen Kultur, lokalen Herkunft sowie der Frage des sozialen Standes – stehen im Zentrum der Raumgestaltungen. Zwischen den Zeilen weist der Autor auf Geschlechterstereotypen hin, wenn lediglich das Kinderzimmer für Mädchen die Puppen Barbie und Ken enthält.
Gleichwohl ist die Vergangenheit „mehr als nur Dekor“. Deswegen ist der Klinikinhaber Gaustín auf der Suche nach Geschichten aus unterschiedlichen Jahren, sie brauchen „Tonnen von Alltag, Gerüche, Geräusche, Schweigen, Gesichter von Menschen, eben Dinge, die das Gedächtnis entsperren“. Kurzerhand macht Gaustín den Ich-Erzähler zum „Sammler der Vergangenheit“, der fortan einen Gerüchekatalog erstellt, die Nachrichten aus vergangener Zeit konserviert, Hitparaden durchforstet sowie das Wetter, die Mode und vieles mehr der entsprechenden Jahre recherchiert.
Gaustín zufolge ist die Vergangenheit vergangen und selbst, wenn wir uns dorthin begeben, wissen wir, dass die Tür in die andere Richtung offensteht, wir können problemlos zurückkehren. Für die vom Gedächtnis Verlassenen ist diese Tür für immer zugefallen. Für sie ist nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart ein fremdes Land, die Vergangenheit ist ihre Heimat. Das einzige, was wir in so einem Fall tun können, ist, einen Raum synchron zu ihrer inneren Zeit zu erschaffen. […] diese Menschen erhalten ein Recht auf Glück, auf die Erinnerung an Glück, wenn wir genau sein wollen.
Gaustíns altruistisches Ziel, dass sich orientierungslose, demente Menschen wieder an ihr Leben erinnern können und damit auch, wer sie überhaupt sind, ist zugleich mit seinem persönlichen Hang zu verschiedenen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verbunden. Er als auch der Ich-Erzähler teilen „eine gemeinsame Obsession für die Vergangenheit.“ Gaustín ist jedoch wahrlich in anderen Zeiten ‚zu Hause‘. Während der 1990er ‚lebt‘ er Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre. Er verfolgt damalige politische Ereignisse aus alten Zeitungen, kennt nur das Medium Brief, nutzt die entsprechende Orthografie sowie Rechtschreibung und unterschreibt mit vergangenen Daten auf antiken Postkarten. Aus der Perspektive des Ich-Erzählers, der sich nach und nach diesem Umstand bewusst wird, ist vor allem das Kennenlernen zu Beginn des Romans ein extraordinäres, gar komödiantisches Lesevergnügen.
LeserInnen sind immer wieder mit rhetorischen Fragen und philosophischen Anekdoten konfrontiert, beispielsweise wie viel Vergangenheit ein Mensch ertragen kann, ob es uns überhaupt gibt, wenn wir nicht in jemandes Gedächtnis sind oder wenn der Erzähler scharfsinnig beobachtet, dass Gerüche nur „durch einen Vergleich, immer deskriptiv“ benannt werden können: „Veilchen, Brot, Seetang, Regen und tote Katze sind keine Namen von Gerüchen. Was für eine Ungerechtigkeit.“ Besonders hervorzuheben ist das Kapitel Randbemerkung zu einem unmöglichen Epos; ein Exkurs inmitten des Romans über
ein Ungeheuer, das jeden erwartet. Der Tod, werdet ihr sagen, ja, ja, der Tod ist sein Bruder, aber das Alter ist das Ungeheuer. Das ist eine echte (und vorbestimmte) Schlacht, ohne Glanz, ohne Feuerwerk, ohne Schwerter mit eingebautem Zahn des Heiligen Petrus, ohne Zauberrüstungen und unerwartete Helfer, ohne Hoffnung, dass Sänger Lieder über dich singen werden, ohne Rituale… Eine epische Schlacht ohne Epos. Lange einsame Manöver, Abwarten, eher ein Grabenkrieg, Hinlegen, Deckung, Attacke, ein Belauern auf dem Schlachtfeld ‚zwischen Uhr und dem Bett‘, wie eines der Selbstporträts des alten Munch kurz vor seinem Tod heißt. Zwischen der Uhr und dem Bett. Wer wird einen solchen Tod und ein solches Alter besingen.
Intertextuelle Verweise setzt der Autor neben der Bildenden Kunst und der Musik zu zahlreichen literarischen Werken, wie zum Beispiel wiederholt auf Thomas Manns Bildungsroman Der Zauberberg. Ironische Zwischenbemerkungen und eine bildhafte Sprache prägen den Roman, poetisch muten die deskriptiven Textpassagen an, beispielsweise wenn der Ich-Erzähler zum ersten Mal die Klinik der Vergangenheit sieht:
Ich fand das pfirsichfarbene Gebäude am nördlichen Ufer des Sees, etwas abseits von den anderen Häusern auf dem Hügel. Es war massiv und hell zugleich, vier Stockwerke hoch mit einem fünften, dem Dachgeschoss, eine große Gemeinschaftsterasse im zweiten Stock und kleinere Balkone auf den anderen Etagen. Alle Fenster blickten nach Südost, was die Nachmittage unendlich werden ließ, und die letzten bläulichen Reflexionen nisteten in ihnen.
Anschließend fragt er sich zynisch, ob es „als Scherz gemeint war, Vergissmeinnicht vor einem gerontopsychiatrischen Zentrum zu pflanzen“.
Gospodinovs Roman stimmt nachdenklich, erstaunt und ist traurig, philosophisch und melancholisch zugleich. Er beschäftigt sich mit dem Alter und Sterben, mit verschiedenen Formen der Demenz und des Erinnerungsvermögens, mit seiner Heimat Bulgarien, und nicht zuletzt mit der komplexen Identität(-sbildung) des Menschen. Die bildgewaltige Sprache, die überzeugenden Beschreibungen von Gefühlen und Personen lassen das Szenario, gepaart mit den vielen Rückblicken in das 20. Jahrhundert, unangenehm realitätsnah erscheinen. Als erster bulgarischer Autor erhält Gospodinov für Zeitzuflucht im Mai 2023 den International Booker Prize, den wichtigsten britischen Literaturpreis.
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