Bittere Erinnerungen
Überlegungen zum Werk der niederländischen Schriftstellerin Marga Minco (31. März 1920 bis 10. Juli 2023)
Von Karl-Josef Müller
Und die Ägypter hielten die Kinder Israel zur
Arbeit an mit Härte.
Sie verbitterten ihnen das Leben durch harte
Arbeit in Lehm und in Ziegeln und in allerlei
Dienst auf dem Felde, außer der andern
Arbeit, zu der sie jene mit Härte anhielten.
Exodus 1 : 13,14
Das Fleisch sollen sie essen in dieser Nacht;
gebraten am Feuer, mit ungesäuertem Brote
und mit bittern Kräutern sollen sie es essen.
Exodus 12 : 8
Ein Hochzeitsfoto. Im Vordergrund zu sehen sind sieben Personen, vier Männer und drei Frauen. Der Fotograf hat sie im Gehen abgelichtet, daher vielleicht die Unschärfe. Ein Lächeln auf den meisten Gesichtern ist dennoch deutlich zu erkennen.
Zwei der Männer tragen Zylinder, die Frau rechts einen großen Hut. Der Schattenwurf bezeugt einen sonnigen Tag; die Gesichter des Brautpaares sind hell erleuchtet, der Bräutigam hält seinen Hut in der linken Hand, die Braut in der rechten einen Blumenstrauß.
Ein Erinnerungsfoto, noch in Jahren wird man sagen: Schade, dass es so unscharf ist.
Doch dazu wird es so nicht kommen. Etwa in Brusthöhe auf der linken Körperhälfte sind bei vier der Personen Davidsterne auf den Mänteln angebracht, die Aufschrift ‚Jude‘ ist nicht zu erkennen.
Warum dieses Hochzeitsfoto kaum freudige Erinnerungen an den sprichwörtlich schönsten Tag des Lebens wachrufen kann, bezeugt die Todesanzeige der niederländischen Schriftstellerin Marga Minco. Aufgelistet sind dort als ihre Angehörigen folgende Personen:
- ihre Eltern Salomon Minco (Oldenzaal 7. September 1887 – Sobibor, 7. Mai 1943) und Grietje van Hoorn (‚t Zandt, 4. Juli 1889 – Sobibor, 7. Mai 1943)
- ihr Bruder und ihre Schwägerin David Minco (Oldenzaal 23. Mai 1915 – Warschau, um den 31. Januar 1944) und Charlotte Boas (Goch, 21. September 1914 – Auschwitz, 3. September 1943)
- ihre Schwester und ihr Schwager Betje Minco (Ginneken en Bavel, 1. Februar 1919 – Auschwitz, 30. September 1942) und Hans Rosin (Charlottenburg, 26. September 1910 - Auschwitz, 30. September 1942).
In einem Nachruf der New York Times lässt Nina Siegal Marga Mincos Tochter Jessica Voeten zu Wort kommen: „‚Sie war immer ein stiller Mensch‘“, sagte Jessica Voeten über ihre Mutter. „‚Die Einfachheit ihrer geschriebenen Worte – das ist sie.‘“ Und dann fügt sie hinzu: „‚In vielen Interviews, die sie während all der Jahre gegeben hat, sagte sie immer, sie habe über ihre Familie geschrieben, damit man sich an sie länger erinnere, als sie gelebt hätten.‘“
Bekannt wurde Marga Minco in den Niederlanden zunächst mit ihrem Roman Het bittere kruid aus dem Jahr 1957, in deutscher Übersetzung zuerst bei Rohwohlt im Jahr 1959, 1990 als Fischer-Taschenbuch unter dem Titel Das bittere Kraut, übersetzt von Marlene Müller-Haas. Im März 2020, anlässlich des einhundertsten Geburtstags von Marga Minco, machte der Arco-Verlag auf ihr Werk aufmerksam: „Seit ihrem bahnbrechenden literarischen Debut Das bittere Kraut (1957) – ausgezeichnet mit dem Vijverbergpreis und ein Bestseller – steht sie im Blickpunkt.“ Der Verlag veröffentlicht drei Titel, welche die Zeit der deutschen Besatzung der Niederlande, die Verfolgung, den Widerstand und die Erfahrungen der Nachkriegszeit thematisieren: Das bittere Kraut (1957), Ein leeres Haus (1966) und Nachgelassene Tage (1996).“
Een kleine kroniek, Eine kleine Chronik nennt Marga Minko ihr bekanntestes Buch Das bittere Kraut im Untertitel. In deutscher Übersetzung hat der eigentliche Buchtext einen Umfang von etwa achtzig Seiten, eine wahrhaft kleine Chronik angesichts eines Zeitrahmens von etwa fünf Jahren. „Keine Spur von Pathos, kein Hinweis auf Sentimentalitäten, (…) keine Spur von Groll“, bescheinigt Ben Stroman 1957 dem Buch der Autorin. Und Einfachheit, die nicht verwechselt werden sollte mit Naivität, im Gegenteil.
Anlässlich ihres Todes lassen sich eine Fülle von Nachrufen in der niederländischen Presse finden, aber auch in der oben zitierten New York Times, der Washington Post, der Times in Großbritannien und der französischen Zeitung Le Soir. Man darf wohl sagen, Marga Minco war eine international beachtete und geschätzte Autorin.
In Deutschland blieb ihr Tod weitgehend unbemerkt, wie auch ihr Werk, das bis auf die hier genannten Ausnahmen nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Denn die Hoffnung des Arco Verlages, man habe mit den drei 2020 veröffentlichten Titeln einen Beitrag dazu geleistet, „die überfällige, nachhaltige Würdigung auch hierzulande nachzuholen“, hat sich nicht erfüllt. Nach unseren Recherchen findet sich in keiner der großen deutschen Tageszeitungen ein würdigender Nachruf auf eine der „bedeutendsten niederländischen Gegenwartsautorinnen“ (Arco Verlag).
Bedeutend und geradezu paradigmatisch ist dieses Werk nicht allein wegen seines zentralen Themas, der Vernichtung der eigenen Familie im Zuge der Shoa, sondern aufgrund seiner literarischen Form. Laute Töne sind nicht die Sache von Marga Minco, ebenso wenig wie die exakte Schilderung der historischen Ereignisse in den Niederlanden während der deutschen Besatzung. Eine kleine Szene aus Das bittere Kraut mag dies belegen.
Im Keller versucht die Familie, sich vor der Deportation in Sicherheit zu bringen. Zu dritt sitzen sie vor einem vergitterten Kellerfenster und können so nur die Schuhe und Beine der Passanten auf dem Bürgersteig sehen. Zu erkennen sind „schwarze Stiefel (…), die ein hartes metallisches Geräusch“ machen, weiterhin „braune Herrenschuhe, ein paar schief abgelaufene hohe Absätze und Sportschuhe. Zwei Paar schwarze Stiefel bewegten sich langsam, als hätten sie etwas Schweres zu tragen, Richtung Auto.“ Offensichtlich kommen diese Stiefel aus dem Nachbarhaus, der Vater weiß, was es mit diesem Gebäude auf sich hat: „‚Es ist ein Altersheim, und es gibt dort ziemlich viele Pflegefälle.‘“
Schließlich sind aber noch andere Schuhe zu sehen: „Ein paar beige Kinderstiefelchen blieben vor unserem Fenster stehen. Die Schuhspitzen zeigten ein wenig einwärts, und die Schnürsenkel des einen Stiefels waren dunkler als die des anderen.“ Ein größerer Kontrast zu den schwarzen Stiefeln, von denen es noch heißt, dass sie „gut geputzt“ waren und „gerade Absätze“ hatten, ist kaum denkbar. „‚Das ist Liesje‘, sagte meine Mutter leise. ‚Sie wächst so schnell. Die Stiefel sind ihr schon viel zu klein.‘“ Wir wollen uns nicht vorstellen, was diesem Kind bevorsteht, das den Zuschauern im Keller noch ein kleines fröhliches Schauspiel liefert: „Das Kind hob einen Fuß, und das andere Stiefelchen hüpfte, als ob es Himmel und Hölle spielte, vor unserem Fenster hin und her.“ Himmel und Hölle, Marga Minco weiß sie meisterlich nebeneinander zu stellen.
Wir wollen zum Abschluss diese kleine Chronik neben ein deutsches Buch stellen, das in mehreren Bundesländern zur Schullektüre zählt: Bernhard Schlink: Der Vorleser. Es lohnt sich zu fragen, warum dem so ist und warum in Deutschland ein Roman, der, um es vorsichtig auszudrücken, dazu tendiert, die Verantwortung einer Täterin zu relativieren, im Rampenlicht steht, während die kleine Chronik von Marga Minco kaum wahrgenommen wird.
Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an das Schicksal des Buches von Ruth Klüger weiter Leben. Ohne das Engagement von Marcel Reich-Ranicki im literarischen Quartett wäre es wohl an der Arroganz eines großen deutschen Verlages gescheitert, der für sich in Anspruch nimmt, die Nachkriegskultur entscheidend geprägt zu haben. Um es mit Hölderlin zu sagen: „Unterschiedenes ist / gut.“
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