Aufmerksamkeit und Kontextbezug. Ist das Moral?

In dem Bändchen „Die Souveränität des Guten“ entwickelt Iris Murdoch ihr tugendethisches Verständnis von Moral als Einüben liebender Aufmerksamkeit

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1970, vor über 50 Jahren, ist Murdochs Bändchen Die Souveränität des Guten in London erschienen. Nun hat der Suhrkamp Verlag die erste deutsche Übersetzung vorgelegt. Das passt zu der Renaissance, die die Tugendethik in den vergangenen Jahren erfahren hat. Lange war diese von Plato und Aristoteles entwickelte Konzeption vorherrschend gewesen. Sittlich handelt demnach, wer tugendhaft ist, also durch Gewöhnung gefestigte Dispositionen zum guten Handeln ausgebildet hat. Mit der Aufklärung wurde diese Ethiklehre durch deontologische und utilitaristische Ansätze abgelöst: Richtig handelt, wer seine Pflichten erfüllt bzw. wer die Handlung wählt, die die bestmöglichen Konsequenzen zeitigt. Murdoch wirft diesen Moralphilosophien ein falsches Moralverständnis und ein vereinseitigtes Menschenbild vor. Bei Moral gehe es nicht um kalte Rationalität, sondern um einfühlende Empathie, nicht um abstrakte Prinzipien, sondern um konkreten Kontextbezug, nicht um heroische Entscheidungen, sondern um Charakterbildung durch selbstlose Zuwendung und aufmerksame Beobachtung der Wirklichkeit. Philippa Foot und Elizabeth Anscombe, denen sie in Freundschaft und regem Gedankenaustausch eng verbunden war, entwickelten Murdochs Vorstellungen weiter. Deren tugendethischer Ansatz wird derzeit wieder stärker diskutiert. So tauchen etwa in der Umweltethik, in der Wirtschaftsethik oder der Glücksforschung Fragen der folgenden Art auf: Wie muss der Mensch beschaffen sein, der den Eigenwert der Natur anerkennt? Welche Merkmale zeichnen den guten Vorgesetzten aus, der Vertrauen erwecken, für ein kooperatives Betriebsklima sorgen und den Mitarbeitern ein Vorbild sein kann? Was gehört zu einem guten Leben?

Murdoch hat nicht nur für die Tugendethik, sondern auch im Kontext von Genderdebatten eine Vorreiterrolle gespielt. In ihrem Leben wie in ihren Schriften vertrat sie feministische Anliegen, sie stand für die Normalität nichtheterosexueller Beziehungen und die Ambiguität von Geschlechtszugehörigkeit. Sie studierte Philosophie in Oxford, wo sie – nach ihrer Promotion in Cambridge bei Wittgenstein – fast 20 Jahre lang Philosophie lehrte. Im weiteren Verlauf ihres Lebens trat sie dann allerdings kaum noch als Philosophin auf. Sie schrieb Romane, die von moralischen Problemen, Sinnfragen, Erotik und Homosexualität handeln. Bis zu ihrem Tod – sie starb 1999 im Alter von 80 Jahren, 2 Jahre nach ihrer Alzheimerdiagnose – war sie glücklich mit John Beyley verheiratet, einem Schriftsteller und Professor für englische Literaturwissenschaft. Er gestand ihr Raum zu für ihre Beziehungen mit Männern und Frauen.

Im ersten der drei in dem Bändchen abgedruckten Essays erörtert Murdoch ihre scharfe Kritik an den seinerzeit herrschenden Moralphilosophien, die sie – ungeachtet erheblicher interner Differenzierungen – als „behavioristisch-existentialistisch-utilitaristische Position“ zusammenfasst. Allen gemein sei die Reduktion der menschlichen Person auf logisch-rationales Denken und einen inhaltsleer abstrakten Willen. In absoluter Freiheit träfe der Einzelne einsam Entscheidungen, nach denen er handle. Allein diese Handlungen sind dann Gegenstand moralischer Bewertung.  Murdoch sieht dies anders: Der Mensch ist eingebunden in soziale Netzwerke und situative Konstellationen. Moral zeige sich nicht primär in äußerlich beobachtbaren Verhaltensweisen. Entscheidend seien innere moralische Entwicklungen. Sie erläutert dies an einem Beispiel: Eine Schwiegermutter beurteilt ihre Schwiegertochter als ungeschliffen, unkultiviert, vorlaut. Sie verhält sich ihr gegenüber aber korrekt. Als intelligente, selbstkritische Person reflektiert sie ihre Sicht. Sie beginnt, ihrer Schwiegertochter „umsichtige und gerechte Aufmerksamkeit“, zu schenken. So erkennt sie, dass diese nicht vulgär, sondern erfrischend unkompliziert, nicht unziemlich, sondern spontan, nicht frech, sondern fröhlich ist. Ihr Verhalten, das ja von Anfang an tadellos war, ändert sich nicht. Aber ihr aktives Bemühen um ein vertieftes Verstehen hat einen moralischen Lernprozess bewirkt.

Solch ein Fortschritt verdankt sich der Fähigkeit ‚moralisch zu sehen‘, d. h. die Aufmerksamkeit mit „gerechtem und liebendem Blick“ auf individuelle Gegebenheiten zu richten. Unter dem von Simone Weil übernommenen Konzept der ‚Aufmerksamkeit‘ versteht Murdoch die in Liebe gegründete Fähigkeit, sich vom Selbst weg auf das Erkennen der Realität auszurichten. Und zu sehen, was wirklich der Fall ist, veranlasst gutes Verhalten ohne, dass es expliziter Entscheidungen bedürfte. Allerdings erfordert „wahres Sehen“ Anstrengung und Disziplin.

Wie das gelingen mag – darum geht es in den beiden folgenden Essays. Murdoch empfiehlt Verfahren zur „Reinigung und Neuausrichtung einer von Natur aus selbstsüchtigen Energie“. Ein Weg ist Kontemplation, die auf das Gute sich richtet – so wie im Gebet die Aufmerksamkeit auf Gott sich richtet. Ein anderer Weg ist Kunstgenuss. Große Kunst kann den Geist von selbstsüchtigen Sorgen reinigen, realistisch und gerecht sehen lehren und Liebe entfachen.

Die – nie vollendbare – Aufgabe von Moral besteht laut Murdoch darin, Selbstsucht in Schach zu halten. Moral nämlich reduziert sich nicht auf alltäglich korrektes Handeln – etwa das Einhalten von Versprechen und das Bezahlen von Rechnungen. Moral umfasst die ganze Person, die ganze Lebensweise. Sie fordert, die Wirklichkeit zu sehen. Das bedeutet, den Tod zu akzeptieren, die eigene Nichtigkeit anzuerkennen, Demut zu entwickeln und Güte zu erweisen.

Auf den ersten Blick nimmt Murdochs reflexive und selbstkritische Darstellung naheliegenden Einwänden gegen tugendethische Ansätze den Wind aus den Segeln. Zunächst erkennt sie an: Tugenden sind nicht per se moralisch. So etwa gilt zwar: Liebe ist eine Tugend   – aber es gibt auch selbstsüchtige, besitzergreifende Liebe. Sie benennt also das Problem und sucht die Lösung in der „Souveränität des Guten“. Doch wie diese konkret umzusetzen ist, also wie gute Tugenden zu erkennen sind, bleibt bei ihr offen. Dass Kriterien konkret zu benennen wären, zeigt der Philosoph Bernhard Gert. Er unterscheidet persönliche Tugenden – Eigenschaften, die jede rationale Person gern selbst besäße – von moralischen Tugenden – Eigenschaften, von denen jeder wollen würde, dass alle sie besäßen. So etwa besäße auch der Betrüger gerne Mut – die Betrogenen aber wünschen ihm diesen nicht. Wohl aber können alle wollen, dass jeder Gerechtigkeitssinn besäße.

Auch anerkennt Murdoch die Bedeutung von Wahrheit. Zugleich aber versteht sie Kunstgenuss als Weg zur Moral, denn „große Kunst enthält moralische Einsicht – Güte und Schönheit gehören zur selben Struktur.“  Dabei bleibt verdeckt, dass die Gleichsetzung ästhetischer Erfahrung mit Moral den Wahrheitsbegriff gefährdet. Der Philosoph Ernst Tugendhat hat dazu festgestellt: Anders als dies bei konkurrierenden Aussagen zu einer bestimmten Sache der Fall ist, „relativiert sich die Wahrheit verschiedener Kunstwerke […] gegenseitig nicht“. Und will man dem fortschreitenden Relativismus nicht Vorschub leisten, muss man Aussagen einen „nicht relativistischen Sinn“ geben. Dies will auch Murdoch:  Gutes – so ihre These – ist gleichbedeutend mit Wahrheit, denn „gute Kunst“ gibt ein „wahrheitsgetreues Bild“.  Allerdings – so konzediert sie – gelingt dies nur wenigen Werken. Wieder fehlt ein Kriterium: Wie lässt sich „gute“, „große“, gar „allergrößte“ von „mittelmäßiger“ Kunst unterscheiden? 

Schließlich die Grundfrage: Worum geht es bei Moral – um persönliche Vervollkommung oder um gerechtes Zusammenleben? Murdoch optiert für die erste Alternative. Nach ihr fordert Moral, „das dicke unerbittliche Ego zu bezwingen.“ Gelingt es, das Selbst zu vergessen und gerecht zu sehen, wächst die Liebe für das Gute. Und Liebe, die alle Betroffenen achtsam im Blick behält, gibt die richtigen Antworten auf moralische Probleme. Erneut steht hier jedoch die Frage nach dem Kriterium im Raum: Woher weiß man, woran sich die Selbstverbesserung orientieren soll? Murdochs erste Antwort lautet:  Jeder – „der gewöhnliche Mensch“, der „gutmütige Landarbeiter“ – weiß, dass manche Dinge „wirklich besser sind“ als andere: „Wir sind nicht verunsichert in welcher Richtung das Gute liegt.“ Die Antwort auf die Nachfrage: „Was aber ist das Gute?“  findet man in ihrer Deutung von Moral als Säkularisierung von Religion: Das Gute tritt an die Stelle von Gott und die Grundlage von Moral ist „ein undogmatischer unformulierbarer Glaube an die Realität des Guten“. Letztlich – so gesteht Murdoch selbst ein – bleibt der Begriff des Guten „mysteriös“.

Wie diese Überlegungen zeigen, weiß Murdoch um mögliche Schwierigkeiten ihres Ansatzes. Doch Kriterien für „gute“ Tugenden, für „große“ Kunst, für „das Gute“ expliziert sie nicht. An diesen Punkten bleibt ihre Argumentation vage oder ist zirkulär: Gut ist die „wahre Liebe“. „Groß“ ist die Kunst, „die lehrtwie reale Dinge angeschaut und geliebt werden können“. „Gut“ ist das auf „Selbstlosigkeit und Selbstverbesserung“ gerichtete Streben.

Zu diesen immanenten Einwänden kommt eine empirische Beobachtung: Ihre Überlegungen stehen im Gegensatz zu den moralischen Überzeugungen, die sich mit der Säkularisierung in freiheitlich demokratischen Gesellschaften ausgebildet haben. So etwa widerspricht ihre These „Nichts im Leben [ist] von Wert außer tugendhaft zu sein“ klar den alltagsweltlich geteilten Moralvorstellungen. So belegen neuere Studien, dass Kinder (die ihr moralisches Wissen an ihrem sozialen Umfeld ablesen) schon früh Moral und Konvention gegen einen persönlichen Bereich abgrenzen. Moral umfasst universelle, unabänderliche, autoritätsunabhängige Gebote. Zu den Konventionen rechnen sanktionsbewehrte, allein für Zugehörige verbindliche, durch autoritative Setzung oder Vereinbarungen veränderbare Gebote. Im persönlichen Bereich können Individuen nach eigenem Belieben Verhaltensweisen wählen, solange sie andere nicht schädigen. Diese Einteilung entspricht dem herrschenden Verständnis einer pluralistischen Gesellschaft, die nur eine Minimalmoral als für alle verbindlich vorschreibt: Geboten ist demnach allein die Unterlassung direkter (z. B. durch Verletzungen) und indirekter Schädigungen (z. B. durch Nichteinhalten von Zusagen). Doch ansonsten ist den Individuen Freiraum zugestanden, den sie autonom für die Verwirklichung ihrer je persönlichen Wertbindungen nutzen können – für das Streben nach Tugendhaftigkeit, für die Suche nach Gerechtigkeit, nach Wahrheit, Schönheit oder Glück. Murdoch entwirft ein Idealbild – eine Moral persönlicher Selbstvervollkommnung. Die von ihr abgewerteten deontologisch orientierten Ansätze liefern eine systematisierende Rekonstruktion von moralischen Regeln, deren Gültigkeit nicht in Setzungen von Autoritäten (etwa Gott oder Kirchenväter) gründet, sondern „in unser aller Wollen“ (Tugendhat). Diese Regeln setzen nicht auf Selbstlosigkeit. Im Gegenteil sind sie aus rationalen Interessen abgeleitet – dem Interesse, ein friedlich kooperatives gesellschaftliches Zusammenleben zu gewährleisten, dem Interesse, Schädigungen von sich selbst und Nahestehenden abzuhalten und dem Interesse, im moralisch zugestandenen Freiheitsspielraum persönliche Wertbindungen selbst wählen und die eigene Lebensführung selbst bestimmen zu können.

In einigen neueren Diskussionen wird eine Integration der kontrastierenden Ansätze angestrebt. Verantwortung dient dabei als plausibles Brückenkonzept. So etwa definiert der Philosoph Otfried Höffe: „Tugenden zu haben heißt, sein Leben in Verantwortung für sich und die Mitmenschen zu führen“. So verknüpft er die Aufgabe der persönlichen Charakterbildung mit der Frage nach zustimmungsfähigen Regeln des sozialen Miteinanders. Und in der in einigen ökologischen Diskursen eingeführten Ersetzung des Wortes ‚Umwelt‘ durch ‚Mitwelt‘ schwingt auch die von Murdoch geforderte reine Freude (in Kants Sprache: das „interesselose Wohlgefallen“) an der Schönheit der Natur mit.

Murdochs dichte und philosophisch anspielungsreiche Essays sind keine ganz leichte Lektüre. Lesehilfe bieten das einleitende Vorwort der mit Murdoch befreundeten Philosophin Mary Midgleys und insbesondere das sehr klare und informative Nachwort von Eva Maria Düringer, Mitarbeiterin am philosophischen Seminar der Universität Tübingen, die auch die gut lesbare und sorgfältig kommentierte Übersetzung verfasst hat.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Iris Murdoch: Die Souveränität des Guten.
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Eva-Maria Düringer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
148 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783518299920

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