Zeugung in der verstrahlten Zone

Adolf Muschgs Wiederaufbau-Poetik zwischen Palimpsest und Phalluskult

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein zentrales Thema der japanischen Schriftsteller nach der „Dreifachkatastrophe“ von Fukushima ist die Beschwörung des Wiederaufbaus in der betroffenen Region. Literatur erhält sozusagen den öffentlichen Auftrag, bei der Krisenbewältigung ihren Anteil zu leisten. Man erwartet von der literarischen Gemeinde, dass sie die Geschehnisse für die Nation in Worte fasst, damit man diese verarbeiten kann. Texte sollen zudem Trost spenden, „Mut machen“ und Lösungen für die komplexen Problemlagen andenken, mit denen sich das Land seit dem „Schicksalstag 3.11“ konfrontiert sieht.

Dem japanischen Auftrag an die schreibende Zunft scheint sich mit Heimkehr nach Fukushima auch Adolf Muschg verpflichtet zu haben. Der Beitrag behandelt vorrangig die dritte Ebene innerhalb der katastrophalen Ereignisfolge von Erdbeben, Tsunami und GAU, nämlich die nukleare Havarie und die durch sie veränderte Situation in Japan. Im Muschg-Modus erfährt der zweitgrößte Atomunfall nach Tschernobyl allerdings eine beachtliche erotische Anreicherung – so wie der Schweizer Autor hat wohl noch niemand eine realistisch gehaltene Literarisierung des Lebens in der Nuklearität gewagt. Seine im Text dargestellte Methode des sexual healing durchbricht dabei manches Tabu. Bedenklicher als die ungehemmte Sinnenfreude des Protagonisten an einem denkbar ungeeigneten Ort erscheint jedoch die mit der Metapher unbezwingbarer Fruchtbarkeit vermittelte Imagination von der Überwindung der radioaktiven Bedrohung durch einen semi-magischen Schöpfungsakt. Diese Evokation antiker und orientalischer Phalluskulte, die im interkulturellen Gleichklang auch die japanische Verehrung des Fruchtbarkeitssymbols miteinbezieht, rechtfertigt die bacchantische Erzeugung des neuen Menschen – letztlich in einem etwas leichtfertigen Aufbegehren gegen genetische Wahrscheinlichkeiten – sowie die Konvivalität von Mensch und Atom.

Im Laboratorium

Alles beginnt mit einer Einladung. Der Architekt und Schriftsteller Paul Neuhaus erhält im März des Jahres 2017 Post aus Japan. Ein Bekannter, Kenichi Tenma, bittet ihn und seine Partnerin Suzanne, einer Einladung Folge zu leisten, die der „Bürgermeister der vom bekannten Störfall betroffenen Gemeinde Yoneuchi“ ausspricht. Tenmas junge Frau Mitsuko ist „in der Gegend geboren“ und setzt sich für das Anliegen des umstrittenen Politikers ein, die Bewohner zur Rückkehr in die von der Regierung nach Dekontaminationsmaßnahmen freigegebene Zone zu bewegen. Um die Akzeptanz einer Heimkehr zu steigern, könne die „Ansiedlung einer internationalen Künstlerkolonie“ helfen. „Interessante Ausländer“, die furchtlos vor Ort lebten, würden belegen, dass Ängste in Bezug auf die Verstrahlung der Region unberechtigt seien.

Paul, dessen langjährige Beziehung zu der international erfolgreichen Architektin Suzanne sich in einer Endphase befindet, folgt der Bitte seines Bekannten und tritt die Reise nach Japan an. Nach seiner Ankunft wird er im Imperial Hotel von den Freunden empfangen.

In den interessantesten Passagen des Texts erläutert ihm Kenichi, ein sprachmächtiger Spötter, die Situation nach „Fukushima“: Die Frist bis zu den Olympischen Spielen 2020 sei knapp, aber die Regierung intoniere die Parole „Wir schaffen das!“ Mit nahezu Jelinek’scher maliziöser Verve verdeutlicht der japanische Intellektuelle dem westlichen Gast die Perfidität des Atomstaats: „Seit Hiroshima und Nagasaki sind wir doch im Geschäft“. Kenichi entwickelt noch eine andere gedankliche Dimension, die den posthumanen Aspekt der nuklearen Havarie aufzeigt. Der Mensch müsse sich, wenn er sein Habitat nicht sofort den Robotern überantworten wolle, dem Nuklearen anpassen, „vielleicht für eine Mutation sorgen“. Die Rücksiedler würden wie Labormäuse die Toleranz der menschlichen Spezies neu testen dürfen – möglicherweise gibt es keine Grenze für die Resilienz des Homo sapiens. Mit ein wenig „Nachhilfe“ der Gentechnologen könne man das Modell Mensch auf die neue Ära umrüsten. Dieses Szenario entfalte sich im Verborgenen, bis die „Öffentlichkeit endgültig formbar sei und eine Behauptung so gut und nichtig wie die andere“. Für Japan verwandle sich dann der „Störfall“ in einen „Glücksfall“, und es führte ein weiteres Mal die technologische Entwicklung an – als wahres „Kernland globalisierter Zivilisation!“

Auf dem Weg zum neuen Menschen

Mitsukos Position unterscheidet sich von der ihres Mannes. Während „Ken“ den philosophischen Esprit des Landes mit seinem Hang zu Nihilismus und Ressentiment repräsentiert, verkörpert „Mitsu“, Tochter einer Samurai-Familie und eines Vaters aus dem Paria-Stand, Pflichtbewusstsein, Energie und zielgerichtete Pragmatik. Paul wird am Ende seines Begrüßungsessens damit überrascht, dass er zu zweit mit Mitsu nach Fukushima fahren wird. Ken bliebe zurück, heißt es, da er gesundheitlich in keiner guten Verfassung sei.

Im „schönsten Dorf Japans“ angekommen, einquartiert in eine traditionelle japanische Herberge, beginnt Pauls Konfrontation mit der Zone und mit der Mentalität des Bürgermeisters: Seizô Irie unterbreitet dem Europäer seine Argumente für die Neuansiedlung in Form einer ebenso emotionalen wie kalkulierten Präsentation im Verlauf des bald aufgetischten Festmahls. Das Dorf solle die Pioniersiedlung einer anderen Welt werden. Die soziale Katastrophe, denkt Seizô, bedinge stärkeres Leid als die vagen Gefahren der Radioaktivität. Das Dosimeter werde den Alltag künftig „gangbar“ machen, und mit der neuen Normalität würden gegenseitige Verantwortung und der Zusammenhalt der künftigen Gemeinschaft gestärkt.

Ausgestattet mit zwei Geigerzählern brechen Paul und Mitsu am folgenden Morgen in die verstrahlte Landschaft auf. Es geht durch untote Dörfer, oft sind Anhäufungen von Plastiksäcken mit der abgetragenen, belasteten Erde zu sehen. Man sucht eine Familie in ihrer Notunterkunft auf und kommt sich auf der Fahrt durch die Eindrücke und Gespräche über die jeweilige Lebensgeschichte näher. Schließlich besichtigen die beiden das Ôkura-Haus, das verlassene Anwesen der Evakuierten. Dort müssen sie sich ein Gefecht mit Wildschweinen liefern, die das Areal in Besitz genommen haben. Mit Pfefferspraypistole und knisterndem Strahlenmessgerät erkundet man dann den umliegenden Wald, in dem sich die Anspannung in einem gewagten sexuellen Akt inmitten der Zone entlädt.

Die erdverbunden derb orchestrierte Vereinigung wird von Kens Frau, der „Hexe von Yoneuchi“, initiiert, gleichsam als Schutzzauber gegen die Zerstörungskraft der schweren Elemente mit ihren radioaktiven Eigenschaften. Der Mann aus der Fremde begattet Mitsu und zeugt ein Kind: Muschgs semi-mythologische Paraphrase des neuen Menschen in der postnuklearen Apokalypse. Paul erscheint als ein standfester (die einschlägigen Szenen im Text kommentieren diesen Sachverhalt relativ eindeutig), betagter europäischer Frühlingsgott, der es vermag, die japanische Nymphe zu schwängern und so dem moribunden Land, verkörpert in der Figur des – wie man erfährt – an Krebs erkrankten Ken, zu frischen Vitalkräften zu verhelfen.

Plausibilität einer Lockvogelstrategie

Mitsukos Schwangerschaft bringt Hoffnung für die Gemeinde Yoneuchi und die von ihren Einwohnern noch gemiedene Region, ebenso wie sie für Paul einen neuen Anfang bietet: Für ihn bedeutet die Verbindung mit der Frau, die Ken ihm offenbar zugeführt hat, eine glückliche Wendung. Er wird das Leben mit Suzanne hinter sich lassen und nach Fukushima in das Ôkura-Haus ziehen. Mitsuko, die Region und das Kind brauchen ihn. Anders als die gleichaltrige, unabhängige Partnerin, die ihn und seine Schwächen längst durchschaut hat, erfüllt die Japanerin Bedürfnisse nach Bewunderung, Verwöhnung und Stärkung seines Selbstwertgefühls – eine typische „Männerphantasie“. Insofern bedeutet die in der nahen Zukunft geplante Ansiedlung im Nordosten Japans für Paul die „Heimkehr“ zu einem Sehnsuchtsort.

Der Autor entsendet seinen Protagonisten dergestalt als einen Botschafter des guten Willens an einen weltweit mit großem Argwohn betrachteten Ort. Zweifel an der Botschaft des Bandes bleiben, auch wenn der kluge Ken alle Bedenken vorträgt: Warum lässt sich Paul scheinbar ohne Zögern auf das „Abenteuer Fukushima“ ein? Selbst wenn man berücksichtigt, dass Muschg seinem Paul (der „Kleine“) ein männliches Reifungsdefizit zugesteht, verwundert es doch, dass er ihn kaum Befürchtungen im Hinblick auf die Gesundheit seines noch ungeborenen Kindes aussetzt. Wie kann der Held – zugegebenermaßen aus anderem Holz geschnitzt als der neudeutsche Gutmensch dieser Tage – so naiv sein?

Was wie ein Realitätsverlust des 60-Jährigen anmutet, darf in Muschgs west-östlicher Neo-Mystik poetische Plausibilität beanspruchen. Der Reflexion über das Verhältnis des Menschen zur Natur unterlegt der Autor Texte von Adalbert Stifter, die, zitiert an passender Stelle zu Pauls Überlegungen, dem Geschehen eine prophetische Qualität verleihen. Da auch Mitsu Stifter kennt, können die beiden Protagonisten sich über ihn einen Verständigungsraum einrichten, in dem sie die poetische Botschaft gemeinsam dechiffrieren und sozusagen in einem schöpferischen Akt das literarische Wort in Wirklichkeit umsetzen. Sprache und Literatur bedeuten für ihre Adepten Neugeburt und Überwindung des Todes – über die Kontinente hinweg und sogar im Angesicht der nuklearen Gefahr.

Dergestalt leicht und lustvoll lässt sich das Atom wohl nicht in die menschliche Erfahrungswelt integrieren – insofern möchte man am Ende nicht den selbstgefälligen Paul als Sieger sehen, sondern eher Kens Skeptizismus anerkannt wissen. Sicher auch deshalb, weil die Strategie des bauernschlauen Bürgermeisters und die Willfährigkeit der (vom männlichen Autor erdachten) sich für ihre Heimatprovinz offenbar nur allzu gern opfernde Waldfee Mitsu keine Haltungen sind, die man belohnt sehen will. Während ihr Kalkül der Verführung aufgeht und sie den „interessanten“ Ausländer als Werbeträger für die Region gewinnt, bleiben die Verantwortlichen für die atomare Katastrophe unbehelligt. Muschgs gut informierte, stellenweise zu dicht mit Verweisen und Fakten bestückte Akademikerprosa alter bildungsbürgerlicher Tradition muss mit der Frage konfrontiert werden, ob, wie es der Roman schildert, Geist und Kunst wirklich allein durch die Einladung zu einer Reise und ein wenig symbolisches Kapital in Form der Würdigung von Person und Werk (Pauls) zu solch folgenschweren, richtungsweisenden Handlungen getrieben werden können.

Titelbild

Adolf Muschg: Heimkehr nach Fukushima. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2018.
244 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783406727023

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