Spiegel, Goethe und das Lebensende

Adolf Muschgs „Der weiße Freitag“ ist sein wohl persönlichstes Buch

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der weiße Freitag“: So nannte der junge Johann Wolfgang Goethe, gerade 30 Jahre alt und von seinem Herzog frisch zum Geheimrat ernannt worden, den Tag, an dem er mit Carl August am 12. November 1779 den verschneiten Furka-Pass – 2.400 Meter hoch – am Gotthard überquerte. Eine Prüfung war es für das Dichtergenie, das sich am Hof eingefangen fühlte und noch nicht recht wusste, was er dort anfangen sollte, außer seichte Unterhaltungsstücke zu inszenieren. Ein Neuanfang, eine „Probe nicht durchs Feuer, sondern im tiefen Schnee“, der schnell auch den Tod bringen konnte – man denkt unwillkürlich an Robert Walsers Ende.

„Der Ausgang dieser Reise ist aktenkundig“, schreibt der Schweizer Autor Adolf Muschg: „Aber keine papierene Gewissheit entbindet von der immer neuen Unkenntnis, mit der wir in jeden neuen Tag treten, denn jeder kann der letzte sein. Er ist nicht nur gewesen. Er kommt immer wieder auf uns zu“. Mit großer Kunst verknüpft er diese „Sache auf Leben und Tod“ mit seinem eigenen Leben, das nach langen Jahren der Krebsangst jetzt tatsächlich mit der Krankheit konfrontiert wurde. In kurzen Kapiteln wechselt er zwischen Dialogen der damals Beteiligten, einem Bericht über die Reise dieses Männerbunds, essayistischen Ausflügen, unter anderem über Flüchtlinge und Demokratie, und sehr persönlichen Reflektionen über seine Krankheit, die Verkleinerung seines Hauses und den Garten, den viele für japanisch halten. Was seine japanische Frau nicht verstehen kann, sei er doch viel zu voll.

Der weiße Freitag ist formal ein schillernder Hybrid von Erzählung, Wissenschaftsprosa und Autobiografie, manchmal verdichtet funkelnd, manchmal gelehrt, oft überlegend ruhig. Inhaltlich ist er am ehesten ein innehaltender, fast montaigneartiger Essay über das gelingende Leben, über das Abschiednehmen, die Vergangenheit als Spätgeborener mit erwachsenen Halbgeschwistern und seine Rolle im Familiensystem. Auch über Versäumnisse und seelische Entbehrungen mit dem toten Vater und der depressiven Mutter: „Ich habe nicht gelernt, mein Leben zu genießen, eher es zu rechtfertigen“, schreibt Muschg. Und über die Religion, vor allem den Zen-Buddhismus, der in einer der zentralen Metaphern des Buchs (und des Zen), dem Spiegel, präsent ist. Denn Muschg hat den kleinen Garten durch Spiegel vergrößert, die ihm andere Durch- und Einblicke gestatten, die Richtungen umkehren und eine andere Welt vorgaukeln. Auch Goethe selbst wird zur Metapher, wird „zum Lebensretter für die menschliche Zivilisation, ohne es darauf angelegt zu haben.“ Der Dichter hat nämlich schon gewusst und in Faust II auch gesagt, was wir alles anrichten: Naturzerstörung, spekulative Geldwirtschaft, Technologiewahn.

Es ist Muschgs wohl persönlichstes Buch geworden, und durch den ruhigen Ton, mit dem er auf seinen Tod zugeht und hinschreibt, durch die elegante Komposition und den frischen Blick auf den Dichterfürsten, der ihm in mehrfacher Hinsicht vorangegangen ist, auch eines seiner schönsten: „Mit dem Sterben beginnt ein unbekanntes (Leben). Warum darf es kein Abenteuer sein? Es gehört zu den wenigen, für die man alt sein darf, und dankbar, dass man es werden durfte. Den Weg, den du jetzt gehst, gehen alle, aber du zum ersten Mal.“

Titelbild

Adolf Muschg: Der weiße Freitag. Erzählung vom Entgegenkommen.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
251 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783406706219

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