Was vom Helden übrig bleibt

Florian Nieser untersucht die Zeichenhaftigkeit der Protagonisten in der ‚Bataille d’Alliscans‘ und in Wolframs von Eschenbach ‚Willehalm‘

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Helden zu sprechen oder schreiben war längere Zeit – auch in der germanistischen Forschung – allenfalls unter Vorbehalt möglich. Aus leider nur zu gut nachvollziehbaren Gründen war eine ungebrochen positive Sicht auf und Bewertung von (literarischen) Heldengestalten weder möglich noch erwünscht. Wer weiß, ob die zum Jahresanfang ausgerufene ‚Zeitenwende‘ daran etwas ändern wird; zumindest in der täglichen Berichterstattung tauchen in diesem Zusammenhang immer wieder Begrifflichkeiten auf, die so kurz zuvor kaum vorstellbar respektive salonfähig gewesen wären. Die von Florian Nieser vorgelegte Lesbarkeit von Helden betrifft dies freilich nicht, ist das vorliegende Buch doch Niederschlag eines Dissertationsprojektes, das bereits 2018 zum Abschluss gekommen war.

Gleichwohl wird Heldisches in den verschiedensten Spielarten immer insbesondere auf seine Zeichenhaftigkeit bezogen. So ist es dem Verfasser darum zu tun, eben diese ‚Zeichen‘, das heißt hier in erster Linie Vermittlungsparameter, zu erkennen, zu definieren und aufzuweisen, mit denen die dem Idealtypus adäquaten Verhaltensmuster transportiert und damit erkenn- und rezipierbar gemacht werden können.

Zunächst sucht der Verfasser darum, die Modellhaftigkeit, die grundsätzlich jeder literarischen Ver- und Bearbeitung der Wirklichkeit immanent ist, anhand einer auf das Feld des ‚Zeichens‘ verweisenden Meta-Schau zu verdeutlichen. So sind die ersten knapp dreißig Seiten Definitionen und Erläuterungen zum Zeichenbegriff im Allgemeinen und seiner Anwendbarkeit im Besonderen gewidmet. Bereits zuvor wird – quasi in einer Art ‚Proto-Einleitung‘ – eine kurze Hinleitung unternommen, in der insbesondere auf den Aspekt der ‚Irritation‘ abgehoben wird. Dass in diesem Zusammenhang der Begriff der ‚Mehrdeutigkeit‘ prominenten Raum einnimmt, ist sicherlich auch der Fragestellung respektive Betitelung des Projekts zu danken, aber eben auch dem Umstand, dass sich gerade hinsichtlich rollenstereotypischer Entwürfe die Eindeutigkeit zugunsten thematisch wie stilistisch bedingter Verwerfungen in eine Mehrdeutigkeit auflöst. Der eindimensionale Held ist mithin letztlich wohl eher Alp- als Wunschtraum. Und so mag diese Hinführung einerseits Geläufiges wiederholen, andererseits doch auch den Weg zum Kern des Ganzen weisen.

Dennoch scheint bereits hier eine Kleinteiligkeit auf, die das Buch als Ganzes durchzieht. Mitunter verwischen sich daher die eigentlich vorgegebenen klaren Linien. Gleichwohl werden ‚Leitplanken‘ vorgegeben, die die Rezipierbarkeit des Buches erleichtern helfen sollen. Explizit ausgewiesen sind zwei Großabschnitte: Unter dem Buchstaben „A“ widmet sich Florian Nieser der „Lesbarkeit Willehalms“, während die „Lesbarkeit Rennewarts“ unter „B“ firmiert. Auch wenn hier der Versuch einer symmetrischen Gestaltung unternommen wurde, sind die Ausführungen zu Willehalm gegenüber denen zu Rennewart nicht nur in eine größere Zahl von Unterabschnitten aufgegliedert, sondern überdies auch hinsichtlich der Seitenzahlen doppelt so umfangreich. Das war einerseits angesichts der Prominenz der Willehalm-Gestalt zwar auch nicht anders zu erwarten, irritiert andererseits aufgrund der zumindest implizit suggerierten Gleichwertigkeit beziehungsweise des angedeuteten gleichen Bedeutungsgrades beider Figuren aber dann doch.

Anhand der Kontextualisierung des Geschehens und der handelnden Figuren sowie des Verweises auf erkennbare Parameter oder Pattern, die teilweise kontrastiv eingesetzt erscheinen, versucht Florian Nieser die Lesbarkeits-Komponente quasi durchzudeklinieren. Dass dabei auch Randständiges angesprochen wird, macht zum einen den Reiz der Argumentation aus, kann aber hinsichtlich des angekündigten Aufbaus der Argumentation mitunter auch verwirren. So ist es verwunderlich, dass der erste Hauptteil – „Die Lesbarkeit Willehalms“ – nicht mit einer Charakterisierung dieser durchaus mehrschichtigen Heldenfigur anhebt, sondern unvermittelt der Tod des Vivianz in den Blick genommen wird, der seinerseits in gewisser Hinsicht als eine Art Präludium zum dann ungefähr doppelt so ausführlich thematisierten „Tod Arofels“ zu dienen scheint. Zweifellos sind in beiden Fällen Argumentation und Textbeleg angemessen, und es werden Aspekte angesprochen, die an anderer Stelle wieder aufgegriffen werden – eine entsprechende Thematisierung in Form eines Exkurses wäre gleichwohl einleuchtender gewesen.

Zwischenüberschriften wie etwa „Christlicher Streiter oder sakraler Märtyrer?“ machen die im Titel angestrebte ‚Lesbarkeit‘ nicht unbedingt einfacher beziehungsweise sind allenfalls bedingt zielführend, zumal die intendierte Eindeutigkeit der Zeichen, anhand derer die ‚eigentliche‘ Rezeption respektive Interpretation der jeweiligen Heldengestalt zu erfolgen hätte, so nicht gegeben ist. Eindeutiger oder vielleicht eher stringenter sind die Argumentationsgänge, die der Verfasser hinsichtlich der Handlungsmuster und nicht zuletzt auch des ethisch-moralischen ‚Standings‘ anlegt. Dabei werden auch Aspekte der Ritualisierung von Kommunikation in den Blick genommen, wobei sich ganz intensiv auf Gerd Althoff (Die Macht der Rituale) bezogen wird, das über weite Strecken die wesentliche Referenz für die Argumentation darstellt.

Der Ansatz eines Vergleichs zweier literarischer Gestalten, denen ob ihrer Präsenz und ihres Agierens Heldenstatus zuerkannt wird, ist faszinierend und wird durch die Einbeziehung mehrerer Quellengrundlagen erweitert. Nieser arbeitet insbesondere hinsichtlich des letzteren Aspekts Unterschiede heraus, die im engeren Kontext für seine Argumentation, aber eben auch für ein Gesamtbild von Relevanz sind. Hierbei sieht der Verfasser neben den äußerlich erkennbaren Merkmalen auch – oft bedeutsamere – innere, die sich erst aus dem Kontext heraus erschließen. Um diese Erschließbarkeit zu gewährleisten und die eigenen Gedanken- und Argumentationsgänge nachvollziehbar zu machen, finden sich immer wieder teils recht umfangreiche Textbelege eingefügt, an denen sich die getroffenen Aussagen orientieren beziehungsweise durch die sie zu belegen sind.

Diese Art des Vorgehens ermöglicht es Nieser, die Unterstrukturen seines argumentatorischen Vorgehens zu verfolgen und zu fundieren, wobei in etwa gleichem Maße Details wie größere Strukturen in den Blick genommen werden, anhand derer die Idee des definierenden (Kenn-)Zeichens verfolgt wird. Dass hierbei keineswegs ausschließliche Eindeutigkeit gegeben ist, macht einen nicht unwesentlichen Aspekt der Argumentation der Verfassers aus. Die erkannte (und angesichts der Fragestellung nachgerade geforderte) Unschärfe der Zeichen ist allerdings auch ein von den Autoren bewusst eingesetztes stilistisch-ästhetisches Mittel, das vermutlich vom zeitgenössischen Publikum erkannt, goutiert und womöglich sogar gefordert worden war.

Die grundsätzliche Frage stellt sich hier in einem weiteren Rahmen: Ist es nicht per se ein Kennzeichen erfolgreichen und vor allem bedeutsamen literarischen Schaffens, mit dem Prinzip der Brechung von Erwartungen zu operieren? (Nicht allein) rezente Trivialliteratur wie die entsprechenden Epigonen im Rahmen audiovisueller Darstellung ‚zeichnen‘ sich dadurch aus, dass die Parameter des Positiven wie Negativen eindimensional auf die agierenden Personen umgelegt sind, das heißt, dass der Kreis der Rezipierenden ohne großen Aufwand die entsprechenden Zuordnungen zu treffen vermag. Erfolgreich ist in diesem Fall also die bedingungslose Erfüllung der erwarteten Parameter; Abweichungen führen zur Irritation. Ernsthafte literarische Arbeit jedoch spielt mit Brechungen und Uneindeutigkeiten. Und es ist vermessen, davon auszugehen, dass dies im Mittelalter wesentlich anders war.

Selbstverständlich sind die Argumente und Beispiele, mit denen der Verfasser operiert, tragfähig, und auch die hinsichtlich der Unein- beziehungsweise Mehrdeutigkeit des durch textimmanente Zeichen definierten Inertialsystems sind folgerichtig dargestellt. Doch fällt es mitunter schwer, hierbei grundsätzlich wirklich sensationell Neues zu erkennen. Dies kann sich auch mit Blick auf das Fazit nicht oder allenfalls bedingt ändern. Dort heißt es dann:

„Dreh- und Angelpunkt sämtlicher Erkenntnis dieser Arbeit ist die Auffassung von erzählten Zeichen als eigenständige Sinnbildungsebene für das Textverständnis, die mit den zeitgenössischen Kommunikations- und Wahrnehmungskonventionen der Zeichenempfänger – der Rezipienten – in direkter Verbindung stehen. Die Frage nach der Lesbarkeit von Helden faltet das Verweisspektrum und (Be-)Deutungspotential zentraler Stellen so auf, dass die aus einer modernen Rezeption resultierenden irritierenden Momente der Texte zugänglich werden und unscharfe Figurenzeichnungen präziser umrissen werden können. Es bleibt festzuhalten, dass es die Mikrostruktur der Texte ist, in der ein nicht zu unterschätzender epistemologischer Wert der Zeichen im Wh. [Willehalm] liegt, der dem Blick auf die Makrostruktur und damit einer ‚glatteren‘ Lektüreart verborgen bleibt.“

Einfacher ausgedrückt: Die Gestaltung des Helden (hier eben Willehalm) in anspruchsvolleren Texten ist wesentlich differenzierter und mitunter ambivalenter, als es nach der bloßen und plumpen Zugrundelegung heldischer Parameter beziehungsweise deren eindimensionaler Durchdeklinierung der Fall wäre. Das allerdings ist keine wirklich neue Erkenntnis und wird bei ausgewogener Textexegese selbstverständlich berücksichtigt und praktiziert.

Der Aufbau des Buches erscheint grundsätzlich stringent – allerdings irritiert, dass neben dem eigentlichen, adäquat strukturierten Inhaltsverzeichnis auf der Buchrückseite unter der Überschrift „Inhalt“ zwar einige jener Zwischenüberschriften des eigentlichen Inhaltsverzeichnisses aufgenommen sind, es sich dabei jedoch – mit einer Ausnahme – lediglich um die Nennung von Unterkapiteln handelt. Derlei stiftet mehr Verwirrung, als dass es nützlich ist, und somit wäre Benennung der Hauptpunkte sachdienlicher gewesen, auch wenn die Trailerhaftigkeit der dortigen Stichworte – „der Inhalt“, „die Zielgruppe“ und schließlich „der Autor“ – anscheinend eine (vermeintliche oder tatsächliche?) durch cineastische oder vergleichbare Internet-Erfahrungen geprägte Erwartungshaltung potentieller Leserinnen und Leser erfüllen soll. Mithin ist hier also der Marketingcharakter wesentlicher als die Intention seriöser Information über das Buch. Das lässt bei einem Traditionsverlag wie Metzler verwundert aufmerken; der in sich stimmige Aufbau der vorliegenden Publikation wird durch derlei Marginalien indes nicht grundsätzlich in Frage gestellt.

Was bleibt? Die Lesbarkeit von Helden ist ein ambitioniertes Werk und hinsichtlich seiner Inblickname verschiedener Texte und verschiedener Heldenfiguren interessant und lesenswert. Die dargebotene Argumentation wird durch Textbelege verdeutlicht und durch das Heranziehen relevanter Sekundärliteratur fundamentiert. Inwieweit es hierzu jedoch des theoretischen Überbaus der ‚Zeichen-Theorie‘ bedurft hätte, möge die geneigte Leserin beziehungsweise der geneigte Leser entscheiden. Allerdings sei darauf verwiesen, dass sich der Anschaffungspreis von knapp 45 Euro doch schmerzlich von den Publikationen der fundierten und als Basis für manches Studium probaten Texte der Sammlung Metzler unterscheidet.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Florian Nieser: Die Lesbarkeit von Helden. Uneindeutige Zeichen in der Bataille d’Aliscans und im Willehalm Wolframs von Eschenbach.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2018.
XI, 256 Seiten, 44,99 EUR.
ISBN-13: 9783476047892

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