Ein Wahn ohne Sinn

Andrej Nikolaidis erzählt in „Der Ungarische Satz“ eine Geschichte von psychischen Krankheiten, den Folgen von Kriegstraumata und dem Tod – in einem einzigen, 119-seitigen Satz

Von Ida JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ida Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Joe hat sich das Leben genommen. Auf einer Zugfahrt von Budapest nach Wien hat sein bester Freund eine klare Aufgabe: die Erfüllung von Joes letztem Wunsch. Der tote Schriftsteller, der sein Leben vor allem dem Alkohol, dem Wahnsinn und der endlosen Suche nach der Wahrheit gewidmet hat, trägt seinem besten Freund den Verkauf eines verlorenen Manuskripts von Walter Benjamin auf. Dass das Werk gefälscht ist, weiß er genau — denn Joe hat es selbst geschrieben. Die Zugfahrt nach Wien wird zur emotionalen Irrfahrt, in deren Verlauf der beste Freund von Joes Leben erzählt, von der Dynamik einer eigenartigen Freundschaft, vom Selbstmord in der Donau, von Kriegsverbrechern, von schwedischen Mädchen, die sich für die Legalisierung von Inzest und Nekrophilie einsetzen, von apokryphen Evangelien, von Alkoholexzessen auf Schriftstellerversammlungen, von der Belagerung von Sarajevo, von Walter Benjamin und dem immer größer werdenden Wahnsinn, der Joes Leben bestimmte.

Wem der vorherige Satz zu lang und konfus war, sollte um das neue Buch von Andrej Nikolaidis einen Bogen machen, denn Nikolaidis lässt seinen Erzähler ungefiltert berichten. Die Gedanken, aneinandergereiht durch Kommata, sprudeln nur so aus ihm heraus. Ständig springt er zwischen Beschreibungen der Landschaft, die er auf der Fahrt durch das Zugfenster beobachtet, Erinnerungen an Joes Leben, Zeugnissen seiner Unzufriedenheit mit der Welt und Berichten wahrer geschichtlicher Ereignisse hin und her. Vor allem aber zeigt Nikolaidis die Dynamik einer seltsamen Freundschaft auf, denn Joes gesamtes Leben wurde bis zum Ende von seinem besten Freund finanziert. „Zahl du“ ist das Motto, welches Joe der Freundschaft auferlegt hat. Ausgleich dafür soll das gefälschte Manuskript sein, denn Joe war zeitlebens davon überzeugt, dass sein bester Freund hierfür eine großzügige Summe erhalten könne. So bleiben Joes letzte Worte in einem Brief an seinen besten Freund: „Zahl du den Anwalt.“

Auch die anderen Werke Nikolaidis’ thematisieren das Böse, den Wahnsinn und die Abgründe menschlichen Verhaltens. Als Kind einer montenegrinisch-griechischen Familie wuchs er in Sarajevo auf und wohnt heute in Montenegro. Sein Interesse an Politik und der Aufarbeitung von Kriegstraumata zeigt sich nicht nur in seinen Romanen, er fungierte bis 2014 auch als Berater der Sozialdemokratischen Partei Montenegros und zeigt sich immer wieder als politischer Kommentator in der Öffentlichkeit.

Der Ungarische Satz ist ein Buch, welches die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Lesers einfordert. Die einzelnen Episoden sind ungeordnet, sodass es stets in der eigenen Verantwortung liegt, zwischen real-historischen Referenzen und den dem Wahnsinn geschuldeten Irrfahrten einen Sinn zu finden. So schafft Nikolaidis es zwar, die emotionale Situation des Erzählers überzeugend darzustellen — doch der Lesefluss leidet. Die durchaus kraftvollen Erfahrungen Joes, der sich als Geflüchteter als heimatlos und auf ewig verdammt sieht, verlieren durch die chaotische Komposition oft ihre Wirkung, obwohl die kursiv gehaltenen Monologe des Wahnsinnigen ironischerweise die noch größte logische Kohärenz aufweisen.

Ingesamt bleiben am Ende dieses langen Satzes vor allem Verwirrung und das Gefühl der Unvollständigkeit zurück. Die anfängliche Faszination der Idee, einen ganzen Roman in nur einem Satz zu verpacken, weicht schnell der Frustration. Nikolaidis schafft es, dem Leser den Wahnsinn Joes so nahe zu bringen, dass auch der Leser selbst zwischenzeitlich an der eigenen Vernunft zweifelt. Der Ungarische Satz scheint ein Puzzle zu sein, in welchem sich schlussendlich viele Einzelteile nicht richtig zusammen fügen lassen.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2018 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2018 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Andrej Nikolaidis: Der ungarische Satz. Ein Trauerspiel.
Übersetzt aus dem Bosnischen von Margit Jugo.
Verlag Voland & Quist, Dresden 2018.
119 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783863911959

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