Obsessionen und Giftmorde in der Provinz

Georges Simenon erzählt in „Das blaue Zimmer“ von leidenschaftlicher Heimtücke

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im blauen Zimmer findet ein Kammerspiel statt. Tony Falcone und Andrée Despierre begehren einander. Der Begriff „Affäre“ wäre zu farblos für ihre wilde Zweisamkeit. Ekstatische Momente werden angedeutet. Die emotionalen Verstrickungen, die zwischen Tony und Andrée längst bestehen, zeigen sich allmählich. Diese Beziehung ist weder Spiel noch Zeitvertreib. Georges Simenons Roman, der nun in einer Neuübersetzung vorliegt, handelt von Obsessionen, die von einer eruptiven körperlichen Zügellosigkeit begleitet werden.

Andrées Macht wird mit dem ersten Satz des Romans angedeutet. Sie beißt ihren Liebhaber – beiläufig, doch beherzt. Tony, verheiratet mit einer spröden, betulichen Frau, ist so glücklich, wie er nur sein kann, von der Lust der Geschlechtlichkeit betört und von der Partnerin, die seinen schwerkranken Mitschüler Nicolas geheiratet hat, sexuell besessen. Simenon beschreibt die Szenerie sparsam. Die innere Leidenschaft, als Geschehnis und Widerfahrnis, findet keine Erwähnung. Wir sehen nicht mehr als zwei Nackte im blauen Zimmer. Doch sind die Worte, die sie wechseln, „ohne Bedeutung“? „Sie redeten bloß, wie man es nach dem Liebesakt tut, wenn der Körper noch voller Gefühl und der Kopf ein wenig leer ist.“ Simenon begnügt sich anfangs mit plakativen Wendungen. Die erotische Hingabe, die der Beschreibung vorausgeht, mag ihre Dynamik besitzen, aber wenig später ist eindeutig benannt, dass Andrée ihren Liebhaber unbedingt will, ihn ganz und gar an sich binden möchte: „Könntest du ein ganzes Leben mit mir verbringen?“ Eine Frage von bohrender Intensität. Auf die Frage, ob Tony sie wirklich liebe, lieben wolle, antwortet er lächelnd. Simenon zeigt, wie ernst es ihr ist. Noch freut sich Tony seines Lustgewinns, er taumelt im Rausch und begegnet Andrée, aber begegnet ihr auch nicht. Sie sind beide gebunden, aber wenn es sich ändern könnte, würde er diese Frau, mit der er den Liebesakt genussvoll auskostet, wirklich lieben können, lieben wollen?

Simenon beschreibt Tony klarsichtig, aber die kurze Erzählung hätte noch präziser sein können: „Für ihn hatte im Augenblick nichts Bedeutung. Er fühlte sich wohl, im Einklang mit der Welt.“ Diese Sätze sollen bedeutend klingen, aber sie tönen eher feierlich. Tony erlebt Gegensätze zwischen Andrée und seiner Ehefrau Gisèle. Die virile Leidenschaft erfährt er ganz nur beim außerehelichen sexuellen Kontakt. Aber ist diese Fixierung wirklich mit „Begehren“ treffend erfasst? Er zehrt von, er verzehrt sich nach sexuellen Begegnungen mit Andrée:

Wenn er sie einige Tage nicht gesehen hatte, war er ganz im Bann der Erinnerung an die stürmischen, glühenden Stunden, die sie erlebt hatten, der Erinnerung an ihren Geruch, ihre Brüste, ihren Bauch, ihre Schamlosigkeit. Es kam vor, dass er, neben Gisèle liegend, stundenlang keinen Schlaf finden konnte, weil ihn wilde Fantasien peinigten.

Was kraftvoll erscheinen soll, bleibt typisiert. Simenon beschreibt nicht, er bestimmt, aus einer Perspektive konventioneller Männlichkeit denkend, entschlossen lustorientiert, immer wieder „wild“, dann aber will er das Familienleben bewahren. Um die enthemmte Leidenschaft zu charakterisieren, die sichtbar werden soll – „in dem überhitzten Zimmer, das nach Sex roch“ –, wird manches Abgründige benannt. Auch die ausweichenden Antworten Tonys führt er an, der in allem „halbherzig“ wirkt, auch wirken soll, und doch okkupiert von Andrée scheint. Andrée weiß längst, dass Tony seine Frau nicht verlassen würde, wenn Nicolas nicht mehr zwischen ihnen stünde, aber sie fragt noch immer: „Liebst du mich, Tony?“

Todesfälle folgen, Verbrechen, Mörderisches. Simenon zeigt gekonnt, wie er das perspektivische Erzählen beherrscht. Dennoch muten die Figuren zuweilen schemenhaft an, vom Anwalt bis zum Richter, bis zu dem empörten, voyeuristischen Publikum, das sein Urteil längst gefällt hat. In Rückblenden wird Andrées Gatte Nicolas sichtbar, der „Prügelknabe seiner Mitschüler“, der sogleich mit Prädikaten wie „mädchenhaft“, „Angsthase“ und „Muttersöhnchen“ ausstaffiert wird. Wir sehen eine viel zu traurige, eindimensionale Gestalt: „Mit zwölfeinhalb Jahren hatte Nicolas plötzlich mitten im Unterricht seinen ersten Anfall gehabt. Man hörte das dumpfe Aufschlagen des Körpers auf dem Boden, und als alle sich umdrehten, schlug der Lehrer mit seinem Lineal auf das Pult.“ Später stirbt Nicolas, aber  nicht an den Folgen der unheilbaren, seinerzeit nahezu unbehandelbaren Krankheit – und Andrée ist frei. Seine rachsüchtige Mutter missbilligt den Ehebund des Sohnes von Anfang an scharf,  erst recht, als sie von den Vorgängen im „blauen Zimmer“ erfährt.

Tony weiß immer mehr, dass ihn das rauschhafte Vergnügen fesselt: „Nie hatte er die Absicht gehabt, Andrée zu heiraten. Selbst wenn sie beide frei und nicht verheiratet gewesen wären, wäre ihm nicht der Gedanke gekommen, sie zu seiner Frau zu machen. Warum? Er wusste es nicht.“ Die Geschichte über Tony und Andrée wird nach und nach zu einem Kriminalroman, denn nicht nur Nicolas, auch Gisèle, mit der Tony „leise bedeutungslose Sätze“ ausgetauscht hatte, wird vergiftet. Tony denkt, dass das Leben nicht darin bestehe, „in einem sonnendurchfluteten Zimmer, in der wilden Leidenschaft zweier nackter Körper“ fortzudauern. Mit seiner Ehefrau, der Mutter seiner Tochter Marianne, würde er alt werden wollen. Andrée erinnert daran, es sei nun an ihm, sich von Gisèle zu trennen. Die wenigen Zeilen zeigen an, wie das Verhängnis seinen Lauf nimmt. Nicolas und Gisèle werden mit Strychnin vergiftet. Mit einem rätselhaften „Triumph der Liebe“ endet der vielschichtige Kriminalroman.

John Banville feiert Das blaue Zimmer im Nachwort als „Meisterleistung“, als „ein wahres, ein glänzendes Kunstwerk“ – und vergleicht den französischen Romancier mit Franz Kafka. Gewiss, Simenon hat dieses Kriminalstück stimmig und gekonnt gestaltet. Schriftsteller wie Vladimir Nabokov und Philip Roth indes hätten möglicherweise eine Geschichte daraus machen können, die von erotischen Okkupationen, von einer unheimlichen, auch unerklärlichen Verführung, von der immer wieder und viel zu oft beschworenen „wilden Leidenschaft“ erzählt. So bleibt der Roman, so sehr er die Verstrickungen auch ausführt, ein spannungsreicher, versierter, lesenswerter Krimi – und das ist höchst respektabel. Mitnichten aber legte Simenon eine kunstvolle, ingeniöse Analyse der menschlichen Seele und ihrer Obsessionen vor.

Titelbild

Georges Simenon: Das blaue Zimmer. Roman.
Mit einem Nachwort von John Banville.
Übersetzt aus dem Französischen von Hansjürgen Wille und Barbara Klau und Mirjam Madlung.
Kampa Verlag, Zürich 2018.
175 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783311134022

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