Sumpfblüten

Norman Ohlers Roman „Die Gleichung des Lebens“ erzählt preußische Geschichte gegen den Strich

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Norman Ohler dürfte international einer der erfolgreichsten deutschen Autoren der letzten Jahre sein – nur dass es hierzulande kaum jemand merkt. Der totale Rausch, sein Sachbuch über die Allgegenwart von Drogen im Dritten Reich, wurde rund um den Globus übersetzt. Es fand nicht nur ein begeistertes Publikum, sondern auch höchstes Lob von Kritikern und Historikern in aller Welt. Dabei ist Ohler keineswegs „vom Fach“, jedenfalls nicht dem akademischen, sondern ein akribisch recherchierender Journalist und immer noch zu wenig geschätzter Romancier. Natürlich ist das Thema von Blitzed, wie das Buch auf Englisch heißt, wie gemacht für internationale Resonanz. Die bekommt es zu Recht. Während Ohler noch die Welt bereist und überall über das besagte Buch diskutiert, hat er in der Heimat schon vor einiger Zeit ein neues Buch vorgelegt.

Auf den ersten Blick kommt Die Gleichung des Lebens bieder daher, als historischer Roman aus dem Preußen des Jahres 1747. Auch die Ausgangssituation ist einfach: König Friedrich II. will das Oderbruch östlich von Berlin trockenlegen, um Sumpf in Ackerland zu verwandeln und neue Untertanen anzusiedeln. Die wendischen Fischer, die in der unwegsamen Gegend leben, rüsten sich zum Widerstand – sie wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. In dieser Lage wird im Bruch der französische Ingenieur Mahistre tot aufgefunden, der für das gigantische Projekt tätig war. Der geniale Mathematiker Leonhard Euler soll nun vor Ort die notwendigen Berechnungen durchführen – und nebenbei den merkwürdigen Tod Mahistres aufklären. Der entpuppt sich als Mord – und er bleibt nicht der einzige.

Das klingt nach marktbewährten Zutaten: Die preußische Vergangenheit ließen zuletzt Bücher wie Thomas Hettches Pfaueninsel aufleben. Bei einer Gleichung des Lebens ist die Vermessung der Welt nicht weit. Auch bei Kehlmann ist mit einem kauzigen Carl Friedrich Gauß einer der beiden Haupthelden ein Mathematiker. Und ein Mord im Oderbruch – das klingt nach solidem Regionalkrimi und damit nach jener Gattung, die Denis Scheck zu Recht den „Misthaufen der deutschen Literatur“ genannt hat.

Damit täte man Ohlers Buch allerdings Unrecht, denn es ist weder ein straighter Krimi noch ein historischer Trivialroman. Vielmehr ist die Fabel von Mord und Landgewinnung für ihn Anlass, ein reiches Figurentableau zu zeichnen, das es wagt, historische Klischees über den Haufen zu werfen. Ohler verleiht allen Figuren eine glaubwürdige Stimme und bringt uns ihre Position im Konflikt nahe, Schwarz-Weiß-Zeichnungen bleiben die Ausnahme. Besonders Friedrich II. wird hier gegen den Strich geschildert. Er erscheint im Roman nicht als leutselig-hyperpatriotischer Greis à la Otto Gebühr, sondern als aufgeklärter, kosmopolitischer Monarch mittleren Alters (er ist damals Mitte 30), durchaus mit inneren Brüchen, der das unwegsame Sumpfgebiet an der Oder überhaupt erst einmal in die Gegenwart holen will. Es gibt einen holländischen Deichbaumeister und einen Schreiber armenischer Herkunft. Das ist nicht das ethnisch homogene Preußen, wie es die Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert zeichnete. Selbst Brandenburgs kurzzeitiges Engagement im Handel mit afrikanischen Sklaven – eine reale, aber weitgehend verdrängte Episode –  spiegelt sich in den Nebenfiguren. Allen diesen Figuren ihre Stimme zu geben und ein ungewohnt heterogenes Preußen zu schildern, ist ein Verdienst des Romans.

Die eigentliche Entdeckung desselben aber ist die labyrinthische Flusslandschaft, die so gar nicht nach den aufgeräumten deutschen Wasserläufen aussieht, die uns im Alltag begegnen. Seine Oder wirkt sehr fremd und ähnelt eher dem Kongo in Heart of Darkness oder dem Mekong in Apocalypse Now, gerade mit seinem grassierenden Sumpffieber und der Feindseligkeit der Fischer gegenüber den Eindringlingen.

Doch unsere heutigen Flussläufe kommen nicht aus dem Nichts. David Blackbourn hat 2007 in seiner großen Studie The Conquest of Nature gezeigt, wie große Landschaftsbauprojekte nicht nur die deutsche Landschaft, sondern auch die Gesellschaft massiv geprägt haben. Die Folge war zumeist eine massive Modernisierung, die aber die vorherigen, oft noch mittelalterlichen Gesellschaftsformen beseitigte. Die erste Fallstudie des Buches, in der Blackbourn seine Grundthesen entwickelt, beschäftigt sich mit – dem Oderbruch. Und tatsächlich findet man bei ihm fast alle Hauptfiguren von Ohlers Roman wieder: Euler, Mahistre (der tatsächlich nach drei Monaten im Projekt starb), den Königlichen Kammerdirektor Wilhelm von Schmettau, den Deichbauingenieur Simon von Haerlem, den Staatsminister Samuel von Marschall. Wie im Roman wird die Landgewinnung als politisches Projekt mit gesellschaftlichen Auswirkungen begriffen, und auch der ständige Kampf gegen das Sumpffieber ist keineswegs eine Erfindung Ohlers.

Die Gleichung des Lebens bietet aber weit mehr als die Versetzung von Blackbourns Narrativ in den Raum der Fiktion. Seine Schilderung ist keineswegs eine simple Erzählung von Fortschritt und Freiheit. Auch wenn seine Sympathien insgesamt doch eher der Trockenlegung und den armen Wirtschaftsflüchtlingen gelten, die sich in den neuen Wirtschaftsgebieten ansiedeln, bringt er uns die untergehende Kultur der Wenden nahe, in denen auch der Magische Realismus à la Gabriel Garcia Marquez ein letztes preußisches Refugium findet. Gerade Euler, die Identifikationsfigur des Romans, sieht deren Verschwinden mit gemischten Gefühlen. Trotzdem lässt er sich von seiner doppelten Mission nicht abbringen, auch wenn sie für ihn mit Lebensgefahr verbunden ist. Wesentlich unsympathischer zeichnet der Text den preußischen Adel, der sich der Trockenlegung entgegenstellt, weil er langfristig den Verlust seiner Macht fürchtet – nicht nur dem König, sondern auch den Untertanen gegenüber. Historisch zielte Friedrichs Projekt wohl tatsächlich eher auf die Stärkung des Absolutismus als auf einen Souveränitätszuwachs seiner Untertanen.

Ohne Drogenkonsum wäre Die Gleichung des Lebens kein echter Ohler. Hier fällt die Wahl auf Opium; die Substanz löst bei Euler eine regelrechte Epiphanie aus, die wesentlich zur Auflösung der Morde beiträgt. Das mag ein Anachronismus sein, ist aber dem Roman kaum vorzuwerfen, ebenso wenig wie die deutlichen Parallelen zur „Flüchtlingskrise“ von 2015. Das ist nun einmal das Wesen des historischen Romans, dass er Themen und Konflikte der Gegenwart im Gewand vergangener Epochen verhandelt – das war bei der Erfindung des Genres um 1800 nicht anders als heute. Nur die Agenda ändert sich mit dem Lauf der Zeiten.

An wenigen Stellen gleitet der Roman ins Alberne ab, etwa in einem absurden Dialog, den sich der König mit dem französischen Materialisten Julien Offray de La Mettrie um den Menschen als Maschine liefert. Wenn Friedrich II. hier La Mettries realen, aber überzeichneten Theorien zustimmt, bricht Ohler das positive Bild eines widersprüchlichen, aber aufgeklärten Monarchen, das er im übrigen Buch zeichnet. Alles in allem ist Die Gleichung des Lebens aber ein lesenswerter Roman, der eine in der Literatur weitgehend vergessene Landschaft neu entdeckt. Ab Mai gibt es ihn auch als Taschenbuch.

Titelbild

Norman Ohler: Die Gleichung des Lebens. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017.
416 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462049688

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