Die Heimat und die Weite der Welt

Auch Nnedi Okorafors „Binti“-Trilogie liegt nun in deutscher Übersetzung vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nnedi Okorafor ist – hierzulande zumindest – die bekannteste VertreterIn des literarischen Afrofuturismus. Zu verdanken ist das dem cross cult Verlag, der in den letzten Jahren drei Romane der Autorin in deutscher Übersetzung herausgebracht und sich damit nicht nur um sie und den Afrofuturismus verdient gemacht hat, sondern vor allem den hiesigen Science-Fiction-Fans einen großen Gefallen erwies. Den Anfang machte der Verlag 2016 mit Okorafors Roman Lagune. 2017 folgte zunächst Wer fürchtet den Tod, ein weiteres Jahr darauf Das Buch Phönix und schließlich Binti.

Anders als im Falle der ersten drei Bücher handelt es sich bei letzterem nicht um einen Roman, sondern um eine Trilogie miteinander verbundener Kurzgeschichten, die sich um die titelstiftende Heldin drehen.

Die Handlung der drei chronologisch aneinander anschließenden Kurzgeschichten spielt in einer unbestimmten, zweifellos aber sehr fernen Zukunft, in der interstellare Raumfahrt nichts Besonderes ist und auch schon einmal zahlreiche intelligente Spezies aus verschiedenen Sonnensystemen gemeinsam einen Planeten bevölkern. Handlungsorte sind das offensichtlich im nördlichen Grenzgebiet des heutigen Namibia liegende Namib, lebende Raumschiffe und die auf Oomza Uni residierende „wichtigste und innovativste Universität der Galaxis“.

Die Erde wird zur Handlungszeit offenbar mehrheitlich von den hellheutigen Khoush bewohnt, die auf die schwarzen Himba herabblicken, obwohl die von diesen hergestellten Astrolabien „lebenswichtig“ für sie sind. Sowohl Khoush als auch Himba haben eine dezidiert patriarchale Gesellschaftsstruktur. „In gewissen Dingen waren Himba und Khoush wie Tag und Nacht, aber was Mädchen- und Frauenangelegenheiten und Kontrolle anging, waren wir gleich“, heißt es einmal. So können Himba-Männer etwa mehrere Ehefrauen haben. Häuser aber werden bei den Himba matrilinear vererbt. Das könnte darauf hindeuten, dass die Himba-Gesellschaft doch nicht ganz so sexistisch ist – es könnte aber auch Ausdruck davon sein, dass Frauen über Generationen hinweg an das Haus gebunden bleiben. Denn „eine Frau, die von zu Hause weglief, galt traditionell als nutzlos“. So wie die Khoush die Himba verachten, blicken diese auf das von ihnen sogenannte „Wüstenvolk“ hinab. Eines ist so wenig gerechtfertigt wie das andere. Die BewohnerInnen der Wüste selbst nennen sich Enyi Zinaryi. Der Name mag beispielhaft deutlich machen, wie Okorafor mit Namen und Begriffen arbeitet, die nie zufällig gewählt oder gar bedeutungslos sind: Enyi ist ein Ausdruck, der von den in Südostnigeria lebenden Igbo auch als Vorname benutzt wird, Zinariya wiederum ist der Name eines fiktiven afrikanischen Landes in A. N. Wilsons Roman My Name Is Legion (2004). Auch der Name der Titelheldin selbst erzählt einiges über seine Trägerin. Binti ist das arabische Wort für „Tochter von“. Das ist nun nicht etwa so zu lesen, dass die Titelheldin eine Ewige Tochter wäre, vielmehr ist und wird sie die Tochter von vielen und von vielem – und das nicht nur, weil sich ihr Genpool im Laufe des Geschehens um die Anteile verschiedener Spezis erweitert.

Handlungsträgerin und Ich-Erzählerin ist Binti, ein 16-jähriges Mädchen aus Ethnie der Himba. Sie besitzt viele intellektuelle und mentale Qualitäten, denn sie ist eine begnadete Mathematikerin und wohl aus diesem Grund die beste Harmonistenmeisterin. Das ermutigt sie in Allein, der ersten der drei Kurzgeschichten, sich an der Hochschule auf Oomza Uni zu bewerben. Sie wird nicht nur als erste Himba angenommen, sondern erhält zudem ein Stipendium. Selbstverständlich ist völlig ausgeschlossen, dass sie tatsächlich aufbricht, denn Himba verlassen ihre Heimat nie, geschweige denn den Planeten. Sie „erkunden das Universum lieber durch Reisen nach innen, nicht nach außen“. Würde sie gehen, wären nicht nur ihre Heiratschancen dahin, sie würde auch aus ihrer Familie und ihrem Volk ausgestoßen.

Unbemerkt von den Eltern und Geschwistern und gegen alle Tradition schleicht sich Binti dennoch nachts davon und tritt die Reise quer durch die Galaxis nach Oomza Uni an, ihr Raumschiff wird unterwegs jedoch von Angehörigen einer sehr fremdartigen Spezis, den Medusen überfallen, mit denen die Khoush früher im Krieg lagen. Beide Spezis verstehen einander zwar nicht, verachten sich dafür aber umso tiefer. In einer Hinsicht aber sind sie vielleicht gar nicht so verschieden: „Die Traditionen der Medusen beruhen auf Ehre, die der Khoush auf Respekt.“

Die Medusen veranstalten ein Massaker an Bord, von dem Binti nur verschont bleibt, weil sie durch ein sehr altes Artefakt geschützt ist, das sie vor Jahren in der Wüste am Rande ihrer Heimat fand. Ungeachtet ihrer Todesängste schickt sie sich an, ein „Blutbad“ zu verhindern, „bei dem beide Seiten Verlierer gewesen wären“.

Der zweite Teil der Trilogie, Heimat, handelt ein Jahr nach Bintis Ankunft auf Oomza Uni. Sie ist nun Studentin an der dortigen Hochschule, reist aber zurück in ihre Heimat Namib, um auf eine Pilgerfahrt zu gehen, da sie aufgrund der Ereignisse auf dem Hinflug noch immer an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Begleitet wird sie von einem neu gewonnenen Freund.

Die aufgeworfenen Fragen und verhandelten Themen werden nun tiefgründiger und die Handlung entwickelt sich komplexer als im ersten Teil. Die Lesenden erhalten zudem mehr und detailliertere Hintergrundinformationen über die Welt Bintis. Das macht alles aber nur noch mysteriöser. Ein zentrales Thema bildet Bintis Ambivalenz der Heimat und der Familie(nbande) gegenüber, wie sie vor allem traditionelle Kulturen kennen. Andere zielen ebenso auf heutige Probleme wie auf Menschheitsfragen, die im dritten Teil noch stärker hervortreten. Nachtmaskerade, der Titel des dritten Teils, greift eine ostnigerianische Tradition auf, die im weiteren Geschehen keine ganz unwesentliche Rolle spielt. Seine Handlung schließt unmittelbar an die des vorangegangenen Teils an, der mit einem Cliffhanger endet, und führt Binti nach allerlei inneren Kämpfen, die sie selbst ausficht, und äußeren Kämpfen, die von anderen geführt werden, schließlich wieder in den Weltraum.

Auch in diesem Teil bietet Okorafor einmal mehr die für sie und den Afrofuturismus typische Verbindung afrikanischer Mythen und Traditionen mit Science-Fiction vom Feinsten. Binti sprüht bis in Belanglosigkeiten hinein geradezu vor überbordender Fantasie. Und vieles, was zunächst belanglos erscheint, erweist sich als wichtig – wie sich das eben für einen klugen und spannenden Science-Fiction-Roman gehört. Dabei ist die Trilogie voll von, teils unterschwelligen, humorvollen Anspielungen, auch auf unsere Gegenwart mit ihren Problemen. Doch sie enthält auch ausgemacht traurige Passagen – grausame sowieso. Ihre Metaphern und Bilder sind nicht etwa futuristisch, sondern naturverbunden. Auch das charakterisiert die Ich-Erzählerin. Im letzten Buch wird gegen Ende ein Perspektivwechsel vollzogen, dessen Notwendigkeit sich aus der Geschichte selbst ergibt.

Binti enthält ein Plädoyer, eine Botschaft und eine Aufforderung. Die Trilogie plädiert eindrücklich dafür, sich weder den Traditionen „zu beugen“ noch sich auf die „kleine Welt“ der Herkunft zu beschränken. Die Botschaft lautet, dass man sowohl die Heimat als auch die Weite der Welt braucht um nicht unglücklich zu sein. Die Aufforderung wiederum variiert Kants bekannten Anruf  sapere aude! und besagt, man solle „den Mut haben, dem Ruf des Abenteuers zu folgen“ – auch wenn es tödlich enden kann.

Die geheimnisvollen Geschichten um Binti sind nicht nur unterhaltsam und spannend zu lesen, sondern wecken auch das Interesse, sich etwas näher mit der einzigartigen Kultur der Himba zu befassen, die merkwürdigerweise von einem Angehörigen der Enyi Zinaryi als „junges Volk“ bezeichnet werden. Merkwürdig ist das deshalb, weil es den Volksstamm der Himba schon heute gibt.

Titelbild

Nnedi Okorafor: Binti.
Cross Cult Verlag, Asperg 2018.
400 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783959816533

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