Fünfzig Typen, größtenteils skurril

Hanns-Josef Ortheil präsentiert Charaktere, die er in seiner Nähe beobachtet hat

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Theophrast ist kein geläufiger Name, wenn man sich in der antiken griechischen Philosophie nicht auskennt. Nimmt sich ein Autor wie Hanns-Josef Ortheil „die Methode einer präzisen Porträtkunst“ des Theophrast zum Vorbild, um „Personen in der eigenen Umgebung in ähnlicher Form genauer zu betrachten“, dann möchte man mehr erfahren. Ortheil war der erste Professor für „Creative Writing“ („Literarisches Schreiben“) in Deutschland, und plant für 2023 die Einrichtung einer „Schreibakademie“ für eine kleine Gruppe.

Sein belletristisches Oeuvre beeindruckt in Quantität und Qualität und wird den Ansprüchen gerecht, die der Autor als akademischer Lehrer formuliert hat. Man liest seine Bücher mit Genuss und auch mit betroffenem Erstaunen, denn dieser so ausdrucksstarke Schriftsteller war in seiner Kindheit aus psychischen Gründen verstummt.

Seinem Buch Charaktere in meiner Nähe mit 50 literarischen Porträts stellt Hanns-Josef Ortheil eine „Einladung zur Lektüre“ voran, in der er den Theophrastus von Eresos, der etwa von 371 bis 287 v. Chr. lebte, als einen Meisterschüler des Aristoteles kennzeichnet. Von den 200 Schriften des Theophrast sind wohl nur seine „Charaktere“, einst als „Goldenes Büchlein“ bezeichnet, vollständig erhalten geblieben. In dreißig teils satirischen Porträtskizzen werden Männer aus der Großstadt Athen mit auffälligen Verhaltensweisen und psychischen Eigenheiten als Typus dargestellt; Beispiele sind „Der Redselige“ und „Der Spätgebildete“.

Ortheil wendet die Methode Theophrasts schöpferisch an, um Charaktere in seiner Nähe vorzustellen. Damit bleibt er dem Grundsatz „Schreiben dicht am Leben“ treu, der seiner 2011 als Buch erschienenen literarischen Schreibwerkstatt den Titel gab.

Ortheils Hinweis, dass aus Skizzen und Miniaturen in dieser Sammlung zuweilen Geschichten werden, verweist nicht auf Storys mit kompliziertem Plot und vielen Figuren, sondern auf die schlaglichtartige Beleuchtung von Lebensgeschichten. Dies berührt dann besonders, wenn skurrile Gewohnheiten dazu dienen, Einsamkeit zu überdecken und irgendwie auszuhalten.

Es erscheint nicht sinnvoll, die Charaktere in dieser Rezension – anders als im Buch – irgendwie zu gruppieren. So seien sie hier in der Reihenfolge ihres Auftritts kurz vorgestellt, mit Formulierungen, die meist dem Originaltext nachempfunden sind.

Die Aber-Sagerin sucht unentwegt nach den Abgründen des Daseins und handelt nur unter Vorbehalt.

Der Enthusiast schwingt die Flügel der Einbildungskraft und verabscheut Bedenkenträger.

Die Promovendin behandelt alles so, als müsse sie darüber eine Doktorarbeit schreiben.

Der Ungehobelte ist genau das und lohnt keine nähere Betrachtung

Die Gutstrukturierte lebt nach To-do-Listen und infiziert sich nach mehrfacher Impfung, um als Genesene zu gelten.

Der Appetitor ist draußen ein „Freßsack“, nimmt aber in seiner Wohnung nichts zu sich.

Die Familienfürsprecherin hält keine Fürsprache, sondern verbindet mühelos und aufdringlich jedes Thema mit ihren Kindern.

Der Hedomat als materialistisch ausgerichteter Hedonist hat immer das nächste kleine Vergnügen im Auge. Im Krankenbett freut er sich darüber, Zeit für sich selbst zu haben.

Der Codaist lässt, so wie die Coda das Ausschwingen in der Musik bezeichnet, das „Bürotheater“ ausklingen; danach warten hoffentlich packende Rollen auf ihn.

Die Monologistin stürzt sich auf jedes Thema, tobt sich im Monolog aus und ermüdet doch nie, weil sie alles sofort wieder vergisst.

Der Chronist sieht nicht sich selbst, sondern die Zeit als Hauptperson und ordnet Artikel und Fotografien in Chroniken.

Die Überdiplomatische hört sich nach allen Seiten um und ist zu klarer Stellungnahme außerstande.

Der Stoiker hält sich zurück und verliebt sich nicht, weil ihm diese Rolle nicht liegt.

Die Ausredenvirtuosin hüpft von Ausrede zu Ausrede und würde sich wohl am liebsten der Welt für immer entziehen.

Der Selbstlober ist so voraussagbar, dass auch der Text über ihn nicht viel hergibt.

Die Schönfärberin lebt in einer Welt aus Geschichten, die sie erlebt haben könnte oder gerne erleben würde.

Der Nestbewohner zieht alle paar Jahre um, wird spät heimisch und stößt sein mühsam erbautes Nest wieder ab.

Die Anprobiererin verliebt sich bei der Hochzeit einer Freundin in den Smoking des Bräutigams, insbesondere in die Bauchbinde.

Der Neutrale hat keine Favoriten, trägt gern grau und lässt sich etwaige Verliebtheit von einer Psychotherapeutin austreiben, um nicht ungerecht zu denen zu sein, in die er sich nicht verliebt.

Der Sportfetischist tritt notfalls gegen sich selbst an und spielt Sportwettkämpfe aus dem Fernsehen nach.

Die Moderatorin bereitet sich mit Notizen auf Gespräche vor und imitiert Fernsehmoderatoren, weil das Treiben im Fischteich der Meinungen sie befriedigt.

Die Psychogeographin träumt von weiten Parks zwischen den Wohnblocks und von kleinen Wäldern auf den Dächern.

Die Auslöfflerin kocht gerne für ihre Freundinnen und geht nach dem Essen in die Küche, um Saucenreste genießerisch aufzuessen.

Der Zeitlose betrachtet nächtens Dias aus Kindheit und Jugend und bleibt im Elternhaus, das die Eltern auch nach ihrem Tod weiter bewohnen.

Die Mitspielerin arbeitet bei einer Medienagentur, hält telefonisch und mit Postkarten den Kontakt zu den von ihr betreuten Künstlerinnen und Künstlern. Der Jubel des Publikums entzündet in ihr ein helles Vibrato.

Der Dorfsheriff ist eher ein Dorfschreiber. Er bewegt sich tagsüber im Dorf und nachts im Netz, wo er seine Notizen vom Tage speichert.

Der Brombeerpflücker verzehrt einige Beeren gleich am Abend und kocht den Rest für den Winter; der intensive Geschmack der Brombeermarmelade grundiert und trägt sein Leben.

Der Multi-Aktive schwimmt und fährt Fahrrad, arbeitet im Café per Mail und Telefon und schlüpft jeden Abend in einem Brauhaus für seine Zuhörer in einen anderen Beruf.

Der Topoptimierte erledigt seine Morgenroutine, während der Laptop alle notwendigen Dokumente für sein Tagesprogramm in drei Sprachen bereithält.

Das Aufräumkind lebt nach dem Vorbild einer japanischen Meisterin der Raumentleerung und legt Laufzeit und Lebensdauer nicht nur für Gegenstände fest, sondern auch für Haustiere, Pflanzen und Sträucher.

Der Testesser bewertet jede Restaurantmahlzeit auf seinem Fragebogen und stellt die Ergebnisse ins Netz. Im Restaurant misst er Abläufe per Stoppuhr, hat stets etwas zu beanstanden und geht grußlos davon.

Der Unterwasserlebende geht oft ins Thermalbad, taucht mit Hilfe einer Saugnapfbrille, kommt sich ein wenig vor wie ein Kosmonaut und findet das wahre Glück: Körper, Bewegung, Luftholen und Herzschlag.

Die Romanspielerin ist vor allem Romankonsumentin per Hörbuch, sucht nach Parallelen der Romane mit ihrem Leben und redet mit den Romanfiguren.

Der Küchenschweiger schweigt während des Kochens im Hotelrestaurant, um danach vor ausgesuchten Gästen eine lange Rede zu halten.

Die Außerhausesserin empfindet es als Freiheit, immer woanders und anderes zu essen.

Der Kultivierte ist genaugenommen unkultiviert, hat er doch stets nur die eigene Kultivierung im Blick.

Der Internet-Rezensent hat Gewohnheiten, die der hier zuständige Rezensent nicht teilt: Bleistiftnotizen in Rezensionsexemplaren, Besuch von Buchmessen, keine Lektüre von Rezensionen in Printmedien. Der Rest trifft umso genauer.

Der Hundehalter strukturiert den Tag nach den Zeiten des Zusammenseins mit dem Hund, lässt diesem lange Leine (größtmögliche Freiheit bei stetem Kontakt) und denkt früh und abends an die Erzählung Herr und Hund von Thomas Mann.

Der Spielfreudige verwandelt die Welt in ein Spiel: am Automaten und im Wettbüro, beim Kicken mit Jungs auf der Straße. Schach dauert ihm zu lange, während er Wasserball als Kombination von Schwimmen und Handball schätzt.

Die Eilfertige ist eher eine gut Vorbereitete, die das Chorlied zunächst allein zu Hause probt und vor einem Restaurantbesuch die Speisekarte im Netz studiert.

Die Weitläufige hat mehrere Kontinente im Blick und Freundinnen und Freunde auf der ganzen Welt, will aber keine Weltläufige sein, weil die schon immer alles wissen.

Die Italiensüchtige hält keine Überraschungen bereit: Sie reist oft nach Italien, isst gern italienisch und schaut sich Filme an, die in Italien spielen.

Der Trinkkumpan trinkt, wie das Wort sagt, nicht gern allein. Er will nicht betrunken werden, sondern dies durch Gespräche unterlaufen. Größere Mahlzeiten und das Singen beim Trinken sind verpönt.

Die Waldgängerin sucht die Waldzweisamkeit: sie und der Wald. Waldgeräusche sind ihr lieber als jede Musik. Fahrradfahrer im Wald lehnt sie ab, höchstens Fahrradfahrerinnen duldet sie, weil sie meint, dass die dem Wald nichts beweisen müssen.

Die Bestellfreudige surft gern im Netz und liebt Angebote im Teleshopping. Gern würde sie etwas Entlegenes erwerben, um es bei „Bares für Rares“ zu verkaufen, weil sie die Schmuck- und Kunstexpertinnen dieser Fernsehsendung besonders schätzt.

Der Fernseh-Dialogist braucht ein Gegenüber im Bildformat, am besten live, und wird bei Bundestagsdebatten laut. Videos von sich selbt findet er gar nicht schlecht.

Der Kussteufel küsst, was ihn besonders anzieht, zum Beispiel Äpfel und Pfirsiche. Unterwegs prüft seine Zunge auf den Lippen alles Atmosphärische. Den Kuss definiert er widersinnig als „triebfreie Wollust“.

Der Teilchenbeschleunigte lebt von Push-Nachrichten auf dem Display seines Mobilgeräts. Als Freunde wählt er Leute mit ihm noch unbekannten Apps. Verständlich, dass er sich ab und zu in einer Kirche versteckt.

Der Sehnsuchtstrinker kennt Sehnsuchtsschmerz und die Liebe als stärkstes Sehnsuchtsgift. Guter Wein sendet ihn auf Innenraumflüge.

Die Kupplerin verteilt Notizzettel mit der Ankündigung von Kulturveranstaltungen im Lesesaal der Bibliothek und in Cafés und Kaufhäusern. Entdeckt sie im Konzert jemanden, der ihrer Einladung gefolgt ist, notiert sie dies als Erfolg ihrer „Kuppelei“.

Auch Texte, bei denen sich Charaktere ohne zusätzliche bizarre Züge einfach so verhalten, wie es ihrem Typ entspricht, sind dank sprachlichen Feinschnitts eine köstliche Lektüre. Die meisten Typen sind weder so unsympathisch wie der Ungehobelte und der Selbstlober noch so sympathisch wie der Enthusiast. Weil wir nicht im männerdominierten Athen leben, werden auch Frauen porträtiert – freilich ohne dass, wie bei der Anprobiererin, typisch weiblich konnotierte Eigenheiten zur Sprache kämen. Die Promovendin könnte ebensogut ein Promovend sein, der Chronist eine Chronistin.

Einige Charaktere, wie etwa die Italien-Süchtige, wird man rasch vergessen, andere klingen nach, und bei diesem oder jenem Text werden sich Lesende ertappt an die Nase fassen.

Titelbild

Hanns-Josef Ortheil: Charaktere in meiner Nähe.
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 2022.
144 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783150114216

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